von Anabel Roque Rodríguez, 31.10.2019
Spuren, die Geschichten erzählen
Elf Künstlerinnen und Künstler zeigen ihre Arbeiten an der Werkschau Thurgau 2019 im Kunstmuseum. Nicht alle Spuren sind gleich tief, aber in der Gesamtschau kann die Ausstellung überzeugen.
Der Fingerabdruck auf dem Plakat der diesjährigen Werkschau geht auf Spurensuche mit den Künstlern, fragt welche Spuren sie hinterlassen, im Thurgau oder anderswo, wenn sie international arbeiten. Im Kunstmuseum präsentieren elf Künstlerinnen und Künstler ihre Arbeiten. Die einzelnen Werke sind unterschiedlich, können im Kunstmuseum aber in drei grössere Themen eingeteilt werden: Textil und Material, das forschende Reisen und sozio-politische Themen.
Betritt man die Ausstellung im Erdgeschoss läuft man direkt auf die Arbeit «Aus den Archiven Nr. 1-10» von Judit Villiger zu. Das Werk zeigt zehn Bilder von Thurgauerinnen, die in der Geschichte noch zu wenig auftauchen. Das Rechercheprojekt fragt danach, wie Geschichtsschreibung funktioniert und welche Bilder für die Nachwelt bewahrt werden. In der gezeigten Auswahl sehen wir unter anderem die Künstlerin Helen Dahm, der das Kunstmuseum im vergangenen Jahr eine grosse Ausstellung gewidmet hatte.
Das oft bittere Los der Künstlerinnen
Margrit Roesch-Tanner, taucht in der Geschichtsschreibung meist «nur» als Ehefrau des Künstlers Carl Roesch und Mitarbeiterin in seinem Atelier auf – ein Schicksal, dass viele Gattinnen von bekannten Künstlern teilen, ihre eigene Arbeit erscheinen dabei häufig nur als Fussnote. Die Arbeit zeigt aber nicht nur Künstlerinnen.
Auch Didi Blumer, die ein Volksbildungsheim in Neukirch an der Thur gründete und deren Kochbuch «222 Rezepte» sich über eine Halbe Million Mal verkauft hat, findet sich darin. Aus einer feministischen Perspektive zeigt Villiger auf, dass Frauen historisch oft nur am Rand auftauchen. Man braucht nur im öffentlichen Raum zu suchen, wie viele Skulpturen den signifikanten Errungenschaften von Frauen gewidmet sind.
Die Grenzen von Heimat und Sprache
Der zweite Raum ist filmischen Arbeiten von Eva Zulauf und Sebastian Stadler gewidmet. Beide eint, dass ihre Filme im Kaukasus spielen und von komplizierten politischen Regionen erzählen. Sebastian Stadler war in Armenien und zeigt in «Apartment Ararat» (2018) in langsamen Kamerafahrten und statischen Aufnahmen, die sich zwischen Film und Fotografie bewegen, verschiedene Perspektiven aus der armenischen Stadt Jerewan auf den Ararat.
Der über 5000 Meter hohe Berg liegt zwar nur 20 Kilometer von der Stadt entfernt, ist jedoch auf türkischem Boden und damit für viele unerreichbar, da die türkisch-armenische Grenze geschlossen ist und die Beziehung beider Länder angespannt ist. Das Osmanische Reich liess zwischen 1915 und 1916 zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Armenier töten (die Zahlen variieren), der Völkermord ist noch heute ein enormer Konflikt zwischen beiden Ländern und wird in der Türkei noch heute geleugnet.
Der Ararat zwischen Sehnsuchtsort und Tourismus-Destination
Es ist beeindruckend, wie in diesem sehr ruhigen Film zwei Welten zusammenzukommen scheinen: Der Berg Ararat einerseits als Identiäts-Ort, weil genau dort nach biblischer Überlieferung die Arche Noah gestrandet sein soll. Der erloschene Vulkan taucht im Staatswappen des Landes auf und ist unweigerlich mit dem Nationalstolz verbunden. Andererseits wirkt der Ararat heute auch nach aussen, er ist eine Sehenswürdigkeit und die Sicht auf den Berg wird in Airbnb-Vermietungen besonders unterstrichen.
Die in Hamburg lebende Künstlerin Eva Zulauf nimmt zum ersten Mal bei der Werkschau teil. Ihr Film weisst Parallelen zu dem von Sebastian Stadler, hier geht es auch um einen bestimmten Begriff von Heimat in Form von Sprache. «The lost object» (2018) ist ein laufendes Filmprojekt, das sie immer wieder in die georgische Stadt Tskaltubo geführt hat.
In dem ehemaligen Kurort leben noch heute Menschen, die während der frühen 1990er Jahren aus Abchasien geflüchtet sind. Abchasien ist eine an das Schwarze Meer grenzende Region im Süden des Kaukasus. Die Region betrachtet sich selbst unter der Bezeichnung „Republik Abchasien“ als selbständigen Staat, gilt jedoch als Teil von Georgien, verfügt aber seit 1993 über eigenständige, von Georgien unabhängige staatliche Strukturen. Als bisher einziger souveräne Staat hat 2008 Russland die Unabhängigkeit Abchasiens anerkannt.
In den Wirren der Vielsprachigkeit
Georgien und nahezu alle anderen Staaten der Welt betrachten Abchasien als okkupiertes georgisches Gebiet. Dieser Hintergrund ist wichtig, um die engen und komplizierten Verflechtungen zwischen Abchasien und Russland zu verstehen. Ausgangspunkt für den Film bilden 89 VHS-Kassetten von Ioseb Tsibadze, Filmemacher und Einwohner der Stadt. Er hat die Ereignisse im Ort mit einer Videokamera aufgenommen und der Künstlerin zur Bearbeitung zur Verfügung gestellt.
In der Sequenz auf der Werkschau sehen wir ein Interview mit dem Autor Otia Iosseliani (1930-2011) der über die georgische Sprache und das Vermischen mit dem Russischen und Englischen spricht. Seine Ausführungen zur Sprache und Heimat zeichnet zugleich den regionalen Konflikt nach, in dem die Grenzregion immer stärker zu einem Zwischenraum wurde. Der Film zeigt eindrücklich, dass Sprache, insbesondere für einen Autoren, Heimat bedeutet. So viele Begriffe sind eng mit der Kultur und den Bräuchen des Landes verbunden. Es gibt Begriffe, die sich nicht einfach übersetzen lassen, da in ihnen eine bestimmte Weltsicht, oder mehr Information transportiert werden.
Wenn Übersetzungen nur Annäherungen sein können
Der Film zeigt aber auch Probleme von kleinen Sprachen auf, die nicht mit der Zeit wachsen können. So spricht der Autor im Film darüber, dass er gerade in der Fachsprache Russisch nutzen muss, weil es im Georgischen keinen ausreichenden Wortschatz dafür gibt.
Künstlerisch hat Eva Zulauf diese Vielstimmigkeit dadurch unterstrichen, dass die deutsche Synchronstimme im Film völlig theatralisch wirkt und man als Zuhörer durch das viel zu getragenes Sprechen immer wieder hört, dass Übersetzungen nur Näherungen sein können.
Über den Wert von Arbeit
Auch die in Kreuzlingen lebende Künstlerin Brigitte Buchholz stellt zum ersten Mal auf der Werkschau aus. Ihre Arbeit «Futterale 1-5» (2018/2019) zeigt 5 Strandmatten, in die sie verschiedene weitere Stoffe eingearbeitet hat. Das Werk setzt sich mit dem Thema der Care-Arbeit auseinander, die bezahlte oder eben auch oft unbezahlte Familien-, Betreuungs- und Hausarbeit. Wie häufig bei diesen künstlerischen Thematiken ist das Private die Brücke zum Politischen, so auch bei Brigitte Buchholz.
Die Künstlerin ist auch ausgebildete Pflegefachfrau und Mutter und kennt persönlich die Herausforderungen von Care-Arbeit. Die Künstlerin bezeichnet die «Futterale» als «verlässliche Orte» und spielt damit auf die emotionale Geborgenheit an. Verlässlichkeit ist eine wichtige Eigenschaft, sie wird zu einer Säule, die Abläufe im Hintergrund trägt und oft erst dann sichtbar wird, wenn sie ausfällt und nicht funktioniert.
Karten können mehr als Google Maps
Gabriel Kuhn war im Herbst 2018 über das Atelierstipendium der Kulturkommission in Frauenfeld für drei Monate in Genua. In dieser Zeit hat der Künstler sich intensiv mit der italienischen Hafenstadt auseinandergesetzt und zeigt auf der Werkschau fünf Stadtpläne der anderen Art. Kartenmaterial kann weit mehr darstellen, als einfach nur Strassen und so nimmt uns Gabriel Kuhn auf eine Art Geruchsreise mit. In seinen Zeichnungen hält er detailliert mit Farbe und Formen den Duft der Ort fest.
Im Gespräch erzählt er, dass er versucht hat systematisch vorzugehen und Geruchsfamilien durch die gleichen Farben zu gruppieren. Da Gerüche so schnell verfliegen oder im Verlauf des Tages intensiver wurden, gerade bei Abfall, musste er sich manchen Gerüchen eher annähern und mit ihm bekannten Assoziationen verbinden, so tauchen zum Beispiel die Schweizer «Mailänderli» als Geruchsassoziation auf. Jene Assoziationen, die sich an den eigentlichen Geruch annähern, sind auf der Karte von Kuhn mit «» gekennzeichnet. Die Arbeit lädt dazu ein, Städte anders zu erkunden.
Stoffe und Geschichten
Ray Hegelbach hat in diesem Jahr das Atelierstipendium der Kulturstiftung Thurgau erhalten und konnte für sechs Monate nach Belgrad. Seine Arbeit auf der Werkschau ist durch seine Eindrücke in Belgrad entstanden und vereint seine Vorlieben für Textil und Malerei. Dabei bemalt er die Leinwände häufig mit Motiven aus der klassischen Alltagskultur, in der Arbeit strahlt uns das Gesicht von Heidi entgegen, aber wir sehen auch Hände, die eine Zigarette halten, denn dem Künstler ist aufgefallen, dass in Serbien stark geraucht wird.
Die Malereien bespannt der Künstler mit Textilien: Häkelarbeiten, Spitze oder Tüll und sorgt dabei für interessante Verbindungen zwischen Handwerk und Alltagskultur, künstlerischen Beobachtung und Spurensuche sowie privatem Innenraum wie öffentlichen Aussenraum.
Mit und über das Medium hinaus
Einige Arbeiten, die im Kunstmuseum gezeigt wurden, lassen sich nur schwer einem bestimmten Thema zuordnen oder zeigen Einblicke in das künstlerische Schaffen, das stark um bestimmte Materialien oder die Verbindung von diesen kreist.
Roland Dostal, dessen Arbeiten gleich im ersten Raum zu sehen sind, zeigt dass er Stoff, Papier und Zeichnung miteinander verbindet. Der Künstler präsentiert verschiedene Zeichnungen und zwei raumhohe Installationen aus Jute, die Dostal als «Teppich» bezeichnet. Die Jutebahnen sind auf beiden Seiten mit verschiedenen Formen und Mustern bemalt.
Bossharts Bildkompositionen, Webers «Landschaftsfotografie»
Gegenüber von Dostal befinden sich die Arbeiten von Matthias Bosshart, der Malerei und Film verbindet. Auf Verbundplatten schafft er mit Lackfarben und aufgeklebten 16-mm oder 35-mm Filmbändern, die er auf Flohmärkten oder in einem der wenigen noch existierenden Filmlabors findet, Bildkompositionen. Aus der Ferne betrachtet sind die Bilder abstrakt geometrisch und erst wenn man sich diesen nähert, sieht man, dass die Filmbänder noch einen Hauch von Erzählung offenbaren.
Herbert Webers Projekt «Landschaftsfotografie als eigentliches Ziel» (2019) ist in Teilen bereits in der inzwischen geschlossenen Galerie Widmer Theodoridis in Eschlikon gezeigt worden. Die Arbeit versucht mit einem Augenzwinkern das eingestaubte Genre der Landschaftsfotografie zeitgenössisch zu interpretieren. Die Arbeit nutzt Fotografie als Mittel und die Landschaft ist ein Ziel, an die sich der Künstler erst langsam annähert. Erst in den jüngeren Arbeiten sind auch wirklich Landschaften zu sehen.
Die Arbeiten von Sonja Lippuner und Stefanie Koemeda gehen etwas unter
Sonja Lippuners Arbeiten sind etwas versteckt und gehen dadurch unter, so entdeckt man ihre Arbeit neben der Beschriftung am Eingang versteckt oben links in der Ecke oder am Ende der Werkschau. Die in Basel ausgebildete Steinbildhauerin interessiert sich für verschiedene Materialien wie Gips, Schaumstoff, Keramik, Kupfer oder verschiedene Gesteinsarten. Sie selbst äussert sich in dem Text zur Werkschau dazu «Mich interessieren die Handlungsspielräume zwischen Materialität und Inhalt, zwischen (kultur-)-historischen Bezügen und meiner persönlichen Wahrnehmung als Künstlerin des 21. Jahrhunderts. Wann und wie verändert sich Bilder, wenn sie losgelöst sind von ihrem ursprünglichen Kontext?»
Was die Künstlerin hier als ein Experimentieren mit der Wahrnehmung des Betrachters äussert, funktioniert in der Dichte der Werkschau leider nicht. Es hätte vielleicht mehr Arbeiten verteilt über die Ausstellungsorte benötigt oder eine andere Anordnung gebraucht. Die Idee der Arbeiten ist spannend und sind hier eher ein Merkzettel, um eine Künstlerin weiter zu verfolgen.
Auch die Arbeit von Stefanie Koemeda geht in der Fülle etwas unter. Die Künstlerin hat an der ETH Zürich molekulare Pflanzenbiologie studiert und an der Universität für angewandte Kunst in Wien einen Master in Art & Science absolviert, sie verbindet also Naturwissenschaft und künstlerische Praxis miteinander.
Die Präsentation wirkt zu kühl
Auf der Werkschau zeigt sie die Installation «Liebe aus Plastik» (2019) aus Inkjetprints und Figuren aus Keramik, die an Muster und Formen erinnern sollen, die Stefanie Koemeda an den Stränden verschiedener Küstenregionen gefunden hat. Zwar wird im Titel der emotionale Rahmen zu Liebe aufgemacht und im Begleittext zur Ausstellung wird auf die Beliebigkeit von Plastik im Meer verwiesen, aber der Arbeit fehlt eine wirklich emotionale Erzählung. Die museale Präsentation wirkt eher kühl bei diesem politisch aktuellen Thema.
Alles in Allem zeigt die Werkschau viele künstlerische Handschriften und ihr gelingt, was Gioia Dal Molin in der Begleitpublikation zur Werkschau über die Künstler schreibt: «Sie sind hier aufgewachsen, sind weggezogen, zurückgekommen oder angekommen. Sie haben also Spuren hinterlassen. Und wohl hat auch die Umwelt in ihnen Spuren hinterlassen. Es sind Schlittenspuren im Schnee, künstlerische Arbeiten in der kantonalen Sammlung oder eine leichte Ostschweizer Färbung in der Mundart; es sind Abneigungen gegenüber geschmacklosen Erdbeeren oder Vorlieben für Nebel».
Eine der vielleicht schönsten Beschreibungen, wie uns Regionen für immer prägen. Sie lädt uns dazu ein, mit diesen Künstlern alte und neue Spuren zu entdecken.
Weitere Texte zur Werkschau Thurgau
Auf Sisyphos’ Spuren: Bericht zur Vernissage vom 26. Oktober 2019.
9 Dinge, die Sie über die Werkschau Thurgau 2019 wissen sollten: Vorschau mit 9 Fragen und Antworten rund um die Werkschau
Verzauberte Alltäglichkeit: Besprechung der Ausstellung in der Kunsthalle Arbon
Raus aus der Theorie, rein ins Leben: Besprechung der Ausstellung im Shed Eisenwerk Frauenfeld
Keine Angst vor grossen Themen: Besprechung der Ausstellung im Kunstraum Kreuzlingen
Weitere Texte zu den anderen Ausstellungsorten Kunstraum Kreuzlingen und Shed im Eisenwerk erscheinen in den nächsten Tagen.
Themendossier: Alle Texte, die zu dieser und den vorangegangenen Werkschauen erschienen sind, gibt es gebündelt in unserem Dossier „Werkschau Thurgau".
Weitere Beiträge von Anabel Roque Rodríguez
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