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von Anabel Roque Rodríguez, 03.06.2025

Leise Radikalität

Leise Radikalität
Die Installation der Thurgauer Künstlerin Lina Maria Sommer wirkt wie eine Einladung zu einer persönlichen Zeremonie. Fast wie ein japanisches Teezeremoniell entfaltet sich ihre Ausstellung in zurückhaltender Geste, mit einer Präsenz, die sowohl kontemplativ als auch körperlich erfahrbar ist. | © Anabel Roque Rodriguez

Das Shed im Frauenfelder Eisenwerk verwandelt sich in der Ausstellung von Lina Maria Sommer ab 12. Juni in einen konzentrierten Raum, in dem sich Materialien, Formen und Gerüche zu einem vielschichtigen, sinnlichen Erlebnis verweben. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Im Zentrum des Shed hat die in diesem Jahr mit dem Adolf-Dietrich-Förderpreis ausgezeichnete Künstlerin Lina Maria Sommer schwere Steinblöcke aufgestellt. Ihre Platzierung nimmt die Vertikalen der Architektur auf und tritt mit den Säulen in einen leisen Dialog. Es wirkt alles mit Bedacht ausgewählt und fügt sich zu einer Erzählung. Die Ausstellung besticht durch ihre minimalen Gesten und die Konzentration auf pures Material, fast wie eine Verbeugung vor den Materialien. 

Die Steinblöcke leiten in ihrer Anordnung den Körper an, den Raum zu begehen. Neben Wegsystem werden sie auch zu Skulpturen für die grossen Teelichter, aus denen unterschiedliche Gerüche strömen wie zum Beispiel Bergamotte, Rosmarin, Lavendel. An anderen Stellen werden sie zu Trägern von kleinen Sitzbänken: nah am Boden, erdend. 

Die Herkunft der Steine ist Teil der Erzählung: «Es war wie in einer Schatzkammer bei meinem Vater», erzählt Sommer, deren Vater als Steinmetz arbeitet. Diese Verbindung zwischen Generationen, zwischen handwerklichem Wissen und künstlerischer Intuition, prägt die Installation auf subtile Weise. Sommer begegnet dem Material mit Respekt – ihre Arbeit gleicht einer Verbeugung vor dem, was schon da ist: Erde, Stein, Duft, Farbe.

 

Einblick in die Ausstellung von Lina Maria Simmer im Shed Eisenwerk.

Der Körper als Werkzeug

Der Körper selbst wird in Sommers Arbeit nicht nur angesprochen, sondern aktiviert letztendlich die Installation. Die Anordnung der Elemente lädt ein, sich zu bewegen, zu verweilen, zu riechen, zu atmen. Sommers künstlerische Praxis entwickelt sich aus einer tiefen Sensibilität für das Zusammenspiel von Körper und Raum. Die Künstlerin selbst unterstreicht selbst: «Ich bin das Werkzeug meiner Arbeit».

Ihre Installationen sprechen eine leise, aber bestimmte Sprache, in der der eigene Körper als Sensorium aktiviert wird – nicht zur Performance, sondern zur stillen Koexistenz mit dem Werk. Wir als Besuchende werden zum Teil des geschaffenen Ökosystems der Arbeit - eine Erinnerung, dass Menschen selbst Teil der Natur sind und nicht ausserhalb stehen. 

Die Installation von Lina Maria Sommer lädt ein, Kunst wieder herunterzubrechen auf die eigene Wahrnehmung: Riechen, Spüren, Sehen und schafft es dabei, den Alltag durchlässig für die Poesie des Materiellen zu machen.

Ein Gedicht der schreibenden Künstlerin fasst dieses Gefühl in Worte

«Du sollst glänzen

ein Stein klemmt
in einem Schraubstock
ein Mann kommt 
mit einer Feile und
beginnt zu schleifen
auf seine Schürze
legt sich Staub»

 

Über Rhythmen und Strukturen

Der poetische Titel meertau im erdgarten verweist auf eine Vielzahl assoziativer Ebenen, wie die Künstlerin erläutert: «Die Wahl des Titels hat sich im Mailverkehr mit der Kuratorin Mirjam Wanner gefestigt. Eine Anziehung zu Rosenquarz und die Sehnsucht nach ultramarinen Farbtönen legten das Wort Rosmarin nahe, welches aus dem lateinischen übersetzt Meertau bedeutet. Und dann die Erde, der Grund, der Boden - auf dem wir stehen, auf dem ich arbeite. Garten bedeutet, etwas zu kultivieren und ist ein Ort, an dem verschiedene Dinge zusammenkommen. In meinen Arbeiten ist die Erdverbundenheit wichtig. Meine Sitzbänke in der Installation waren inspiriert vom Sitzen im Garten.» 

Zwischen den Gedanken über das Sinnliche und der Natur entsteht ein Raum, der Sommers Praxis treffend als ein Spiel mit Elementen, tief verbunden mit natürlichen Prozessen und Zyklen beschreibt, aber auch immer wieder zurück zur Kunst findet, zum Schaffen von Strukturen und Rahmen - es ist ein Dialog zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen.

 

Künstlerin und Kuratorin im Dialog: Lina Maria Sommer und Mirjam Wanner. Bild: Anabel Roque Rodriguez

Wie sich die Künstlerin selbst einen Rahmen schafft

An den Wänden der Halle hängen vier gerasterte Gemälde, je eines für die Monate Januar bis April. Sie folgen einem selbst auferlegten Rhythmus: ein Bild pro Monat. «Der Mai ist fast vorbei, jetzt muss ich mich beeilen», meint Sommer mit einem Augenzwinkern. Was Lina Sommer damit meint, ist ihr eigener Anspruch, jeden Monat ein Werk fertigzustellen. 

Zeit ist ein kostbares Gut und seit sie vor ein paar Jahren Mutter geworden ist, ist diese Zeit noch kostbarer. «Als ich Mutter geworden bin, habe ich das Raster in meinen Malereien eingeführt. Es ordnet das Bild und sorgt für eine zeitliche Verknappung, weil ich mich von Raster zu Raster arbeiten kann. Wenn mein Sohn ruft, kann ich los und später weiter arbeiten.» 

Das Raster wird so zum Gerüst, das sowohl Struktur vorgibt als auch Freiheit schafft – eine Strategie, um künstlerische Prozesse in einen neuen Lebenskontext zu übersetzen. 

Essenz der Kunst

Lina Maria Sommers Arbeiten sind durchdrungen von einer leisen Radikalität. Ihren Arbeiten gelingt es auf eindrückliche Weise, Kunst aus der Enge des rein Konzeptionellen zu lösen. Statt Bedeutung über Text oder Theorie zu vermitteln, rückt die Ausstellung das sinnliche, körperlich verankerte Erleben ins Zentrum. Den Besuchenden wird zugemutet, im Moment darauf zu reagieren – mit Geruchssinn, Gleichgewicht, Haut und Atem. Es ist kein distanziertes Sehen, das hier gefragt ist, sondern ein körperliches Wahrnehmen. 

Man könnte sagen, dass genau in dieser Art der Wahrnehmung eine der ursprünglichsten, grundlegendsten Qualitäten von Kunst liegt: ihre Fähigkeit, nicht nur verstanden, sondern erlebt zu werden. Noch bevor Kunst institutionalisiert, historisiert oder durch Diskurse gerahmt wurde, war sie Teil von Riten, Gesten, Körpern und Materialien – ein Medium der Erfahrung, nicht der Erklärung.

 

Rasterbild von Lina Maria Sommer. Jeden Monat entsteht eins davon. Bild: Anabel Roque Rodriguez

Ein Moment der Verlangsamung

Wenn man Sommers Ausstellung unter diesem Blick betrachtet, wird deutlich, dass sie nicht gegen das Denken arbeitet, sondern es an den Körper zurückbindet. Sie erinnert daran, dass künstlerische Erfahrung aus Präsenz, Resonanz und Involviertsein entsteht und erst später in der Interpretation Teil eines Systems wird.

Meertau im erdgarten ist nicht bloss eine Ausstellung – es ist ein Erfahrungsraum, ein Moment der Verlangsamung und eine Erinnerung, dass der Körper selbst Wissen generiert.. Eine leise Geste, die lange nachwirkt.

Die Ausstellungsdaten

Vernissage: Donnerstag, 12. Juni, 19 Uhr
Lesung mit Lina Maria Sommer: Freitag, 27. Juni, 19 Uhr
Finissage: Samstag, 5. Juli, 16 bis 20 Uhr, Rundgang mit Lina Maria Sommer und Mirjam Wanner 20 Uhr

Öffnungszeiten jeweils Do/Fr 19 bis 21 Uhr und Sa 16 bis 20 Uhr. 

 

 

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