von Maria Schorpp, 23.08.2018
Die Blickesammlerin
Am 12. September erhält Judit Villiger im Frauenfelder Eisenwerk den Thurgauer Kulturpreis. Ein Garten und ein Haus nehmen in ihrem aktuellen Schaffen zentralen Raum ein.
Den Blick verengen, ihn auf einen ganz kleinen Weltausschnitt fokussieren, das fasziniert Judit Villiger. Ihn immer wieder neu ansetzen, neu ausrichten, um über die Vielzahl der subjektiven Blicke zu so etwas wie einer objektiven Existenzweise vorzudringen. Eine, die sich ihrerseits in zahllosen Erscheinungsformen ausdrückt. Etwa im Fall eines Gartens. „Das ist wie ein Dialog. Ich finde, dass man mit einem Garten einen Dialog führen kann“, sagt Judit Villiger, die designierte Trägerin des Thurgauer Kulturpreises 2018.
Das Beispiel vom Garten an dieser Stelle ist kein Zufall. Judit Villigers Kunstschaffen ist vielseitig, umfasst Malerei, Skulpturen, Plastiken und Installationen sowie Materialien jeglicher Konsistenz. Digitales Handwerkszeug eingeschlossen. Die Sache mit dem Garten scheint jedoch besonders geeignet, ihrer Kunst und damit auch ihrer Person als Künstlerin auf den Grund zu gehen. Von einem ganz bestimmten Garten ist dabei die Rede, von dem Barockgarten, den der Thurgauer Maler Adolf Dietrich immer wieder von seinem Fenster aus in unterschiedlichen Perspektiven und zu unterschiedlichen Zeiten gemalt hat. Eine scheinbar kleine Sache, die für das Schaffen von Adolf Dietrich allerdings von geradezu erkenntniskritischer Bedeutung war. So auch für die Steckborner Künstlerin bis heute.
Eine Frage der Lebensqualität
Judit Villiger und Steckborn. Vielleicht eine Liebe auf den zweiten Blick, eine, für die man sich im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte entscheidet – und belohnt wird. Zwei Jahre, von 1996 bis 1998, hat Judit Villiger die School of Visual Arts in New York besucht. Wieder ein Leben im Thurgau, wo die geborene Luzernerin aufgewachsen ist, schien von dort aus unvorstellbar. Dann war da aber dieser ständige künstlerische und monetäre Überlebenskampf in der Megametropole: „Ich habe mich gefragt, wo die bessere Lebensqualität ist. Dann bin ich nach Zürich zurückgekehrt.“ Wegen ihres Mannes ist sie später nach Steckborn gezogen, ihr Atelier blieb an der Limmat. Zunächst. Spätestens als sie auch mit ihrer Arbeitsstätte nach Steckborn abwanderte – begleitet von erstaunten Reaktionen ihrer Zürcher Künstlerfreunde – hatte das Folgen: „Die einzige angemessene Konsequenz war die radikale Fokussierung.“ Seit ein paar Jahren auch auf Adolf Dietrichs Malerei. Die Auseinandersetzung mit dessen Arbeitsweise trägt Züge einer Symbiose, die soweit geht, dass die Künstlerin seine bis heute zugängliche Malstube „quasi als weiterführende Form des Arbeitstisches aus meinem Atelier“ bezeichnet. Wenn Judit Villiger davon erzählt, hält sie sich den Kopf und senkt ihn etwas Richtung Tisch. Ein bisschen als ob sie sich die Haare raufen wollte. Eigentlich ist die Konzeptkunst eines Bruce Nauman für sie massgeblich.
Jardin des plantes, Kunstmuseum Singen, 2012. Foto: Judit Villiger
Von Dietrich wurde sie anders geprägt, persönlicher. „Seine Bilder haben einen Sog“, sagt sie. Durch den Maler aus Berlingen, dem Steckborner Nachbarort, und die Weiterführung seiner künstlerischen Haltung, seinem „SichdarüberBeugen, Hineinsinken, SichimDetailVerlieren“ möchte sie mehr über ihre eigene Arbeit erfahren. „Mich faszinieren seine Bilder, die manchmal auf den ersten Blick so harmlos aussehen und auf den zweiten so streng und verstörend sind. Ich habe herausfinden müssen, was es ist, das mich nicht loslässt, diesem Rätsel in seinen Bildern nachspüren beim Nachvollziehen seines Arbeitsprozesses.“ Fast besessen scheint Dietrich angesichts des Gärtchens vor seinem Fenster gewesen zu sein. Er hat es selbst dann noch gemalt, als es zwischenzeitlich gar nicht mehr existierte.
Das Haus zur Glocke gehört zu Judit Villigers Kunst
Aber was bedeutet das Hineinversetzen und Weiterführen für die Künstlerin, für ihren auktorialen Anspruch? Spätestens jetzt muss erklärt werden, wo dieses Gespräch stattfindet. Im Haus zur Glocke nämlich, an der Seestrasse Nr. 91 in Steckborn. Das schmale Gebäude aus dem 17. Jahrhundert steht gegenüber dem Wohnhaus von Judit Villiger, das selbst um die siebenhundert Jahre alt ist und wie das Haus zur Glocke zum Grossteil von Mann der Künstlerin restauriert wurde. Gut vorstellbar, dass sie das Wohnhaus schleichend in Beschlag genommen hat („Wo sind Ihre Arbeitsräume?“ – „Überall, im ganzen Haus“), das Haus zur Glocke ist jedenfalls expliziter Ausdruck ihres Verständnisses von künstlerischer Autorenschaft.
Judit Villiger bei der Arbeit. Foto: Christoph Ullmann
Vor ein paar Jahren hat sie es übernommen, als im Erdgeschoss ein Dritte Welt-Laden einquartiert war. Mit den damaligen Betreibern arbeitet sie heute noch zusammen. Im Haus zur Glocke finden Ausstellungen statt, Lesungen, Konzerte. Es gibt sogar eine kleine Wirtschaft, die bei Gelegenheit eine Suppe anbietet. „Ich sehe das Haus zur Glocke auch als Teil meiner künstlerischen Arbeit. Ich denke Kunst als etwas Partizipatives, als einen Sozialakt.“
Die Frage nach dem Sozialen in der Kunst
Dann fällt nochmals ein Heroenname aus der jüngeren Kunstgeschichte: Beuys und seine Soziale Plastik. „Wenn ich Beuys sage, versteht man vielleicht besser, warum ich das Projekt Haus zur Glocke als meine Arbeit anschaue.“ Geht es beim Kunstschaffen darum, dass einzelne Personen im Rampenlicht stehen, oder nicht eher darum, als Gruppe eine soziale Frage zu stellen? Im Haus zur Glocke hat man sich entschieden: „Das Partizipative ist wichtig, dass die Menschen, die Kunst anschauen, einbezogen werden, eigentlich in eine Co-Autorenschaft. Mir ist das viel wichtiger, als Bilder zu produzieren, die meinen Stempel tragen.“ Fragen nach dem Sozialen in der Kunst nehmen Raum ein, der Autorenschaft wird das Kollektiv, dem Produkt die prozesshafte Veränderung gegenübergestellt.
Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau hat Judit Villiger und den Zirkel der Freundinnen und Freunde des Hauses dabei unterstützt, mitten in Steckborn diese Kunst- und Kulturplattform aufzubauen. Der Thurgauer Kulturpreis kommt für Judit Villiger dennoch wie aus heiterem Himmel – vor allem genau zur richtigen Zeit. „Es hat mich berührt, dass sie ihn mir jetzt geben und damit sagen: Mach da weiter. Der perfekte Zeitpunkt, besser geht nicht.“ Ihre Tätigkeit als Kunstvermittlerin ist für Judit Villiger, die ausgebildete Kunstpädagogin, von ihrem künstlerischen Schaffen nicht zu trennen. Seit 2012 ist sie Dozentin für Art Education in der Zürcher Hochschule der Künste. „Der Unterricht, die Lehre, das sind für mich sehr wichtige Anliegen. Es ist für das Fach entscheidend, dass gute Lehrpersonen ausgebildet werden.“ Auch dafür hält sie sich immer noch drei Tage die Woche in Zürich auf.
Mit Adolf Dietrich über das Sehen nachdenken
Bei allem Sinn für das Lebenspraktische – Judit Villiger liebt das Konzeptionelle. „Lieben“ sagt sie, wobei sich der Kopf wieder kurzzeitig in den Händen befindet. Alle Wege scheinen an diesem Nachmittag zu Adolf Dietrich und seinem Barockgarten zu führen, der sich ein paar Kilometer weiter an derselben Seestrasse befindet, an der Judit Villiger wohnt und arbeitet. Dieser über die Jahre fokussierte, immer wieder variierende Blick „wurde zu einem Modell, um bildnerisch über das Sehen nachzudenken. Daran möchte ich anknüpfen, wenn ich Dietrich lese und wiederlese, sehe und wiedersehe“, schreibt sie.
Dietrich Reloaded no.4 zu ‚Kleines Gärtchen mit Tulpenbeet‘ (1938), 2016, Foto: Judit Villiger
Über das Sehen nachdenken, das ist, was sie letztendlich beschäftigt, auch in ihrer Auseinandersetzung mit einem anderen Thurgauer Maler: Carl Roesch und die von ihm praktizierte Methode der Bildmontage – fotografisch reproduzierte Kunstabbildungen mit anderen Elementen in neue Sinnzusammenhänge zu stellen. Auch diese Arbeitsweise hat sie für sich adaptiert und führt sie mit ihrem künstlerischen Instrumentarium weiter. Hier kommt Judit Villigers Suche nach den Grundlagen der Ästhetik, des Sehens wieder zum Vorschein. In ihrer Kunst ist der Blick auf die Welt nicht voraussetzungslos. Er ist gefiltert durch all das, was an Wissen und Erfahrungen in uns steckt, ob als Kunstgeschichte oder Alltag.
Der Elfenbeinturm als Refugium
Das „Hasenkabinett“, noch so eine überraschende Serie von Judit Villiger, setzt die Vermitteltheit von Wahrnehmung auf fast skurrile Weise in Szene. Ausgangspunkt sind ausgestopfte Tiere in Museen, die die Künstlerin erst abfotografiert, dann abgemalt hat. „Es ist erst die Übertragung von Natur in Skulptur, die ich dann wiederum male. Eine Konstruktion, an deren Ende wieder ein Bild davon steht, was wir uns vorstellen.“ Dabei sehen die Hasen so harmlos aus – auf den ersten Blick. Judit Villiger ist Kunstvermittlerin, sie ist aber auch bekennende Bewohnerin des Elfenbeinturms: „Ich finde, das darf ich mir herausnehmen, mich darauf zu fokussieren und darin zu spezialisieren. Die Weiterentwicklung der eigenen Arbeit ist ein Refugium, zu dem ich und letztlich nur ich allein Zugang habe. Das ist ein Privileg.“
Das schönste Konzept ist allerdings nichts, wenn die handwerkliche Umsetzung – das darf wörtlich genommen werden – fehlt. „Ein reines Gedankenexperiment geht immer so gut auf. Bei der Umsetzung fängt es an sich zu verknoten. Das ist die Herausforderung, für die ich als Künstlerin lebe.“
Aus dem „Hasenkabinett“. Foto: Judit Villiger
Ausstellungen und Aktionen mit Judit Villiger:
seriell
Gruppenausstellung mit Judit Villiger in der Kunsthalle Schaffhausen,
Vernissage ist am 24. August 2018.
Dietrich lesen
De- und Rekonstruktionen des Nachbargärtchens am 9. September 2018 im Haus zur Glocke in Steckborn.
Von Maria Schorpp
Weitere Beiträge von Maria Schorpp
- Herr Fässler besiegt die Angst (11.11.2024)
- Problemfamilie mit Wiedererkennungswert (01.11.2024)
- Familiengeschichte im Zeichen des Kolonialismus (17.10.2024)
- Die Entstehung der Menschheit (15.07.2024)
- Wenn Elfen und Menschen Theater machen (17.06.2024)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Kunst
Kommt vor in diesen Interessen
- Kulturförderung
- Porträt
- Bildende Kunst
Ist Teil dieser Dossiers
Ähnliche Beiträge
Zwischen Zugehörigkeit und Fremdsein
Die im Thurgau aufgewachsene Künstlerin Thi My Lien Nguyen richtet ihr Augenmerk im Kunstmuseum St. Gallen auf die Ambivalenz postmigrantischer Realitäten. mehr
Warum Räume für Kultur so wichtig sind
Schwerpunkt Räume: «Kultur braucht Raum, um zu entstehen, aber vor allem auch um ein Ort des Austauschs zu sein», findet die Malerin Ute Klein. mehr
Alte Mauern, neue Gedanken
Beim grenzüberschreitenden Festival „Heimspiel“ wird ab 15. Dezember die Arboner Webmaschinenhalle erstmals als Kunstort bespielt. Wie gut kann das funktionieren? Ein Baustellenbesuch. mehr