von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 13.06.2017
Heimatfremdeln
Sonja Lippuner ist über die Bildhauerei in die Kunst gekommen. Im Sommeratelier in Weinfelden zeigt die 29-Jährige, dass sie dem längst entwachsen und zur Vordenkerin eines generationenprägenden Gefühls geworden ist.
Jeder, der schon mal länger von Zuhause weg war und dann wieder zurückkehrt an den Heimatort, kennt dieses Gefühl: Alles scheint stehen geblieben und doch fühlt sich alles anders an. Irgendwie falsch. So als passten Mensch und Ort einfach nicht mehr zusammen. Wie Puzzleteile, die sich nicht mehr fügen wollen. Weil man sich doch selbst so verändert hat und die alte Heimat immer noch die Gleiche zu sein scheint wie damals als man loszog, die Welt zu erobern. Oder zumindest die nächst grössere Stadt. Dieses Heimatfremdeln, diese Gleichzeitigkeit von Vertrautheit und Fremde fühlt sich einerseits merkwürdig an, gleichzeitig beruhigt es aber auch. Weil es einem bestätigt, sich entwickelt zu haben. Zu diesem globalen Gefühl gibt es in Weinfelden ab Samstag jetzt auch eine Ausstellung.
Die junge, aus dem Thurgau stammende, Künstlerin Sonja Lippuner beschäftigt sich schon lange mit derlei Konstellationen. Im Sommeratelier der Remise Weinfelden hat sie nun drei Monate an neuen Werken zu dem Thema gearbeitet. Unter dem Titel „Paradise Island oder wie wir leben wollen" sind sie ab dem 17. Juni zu sehen. „Meine Werke spiegeln eine Diskrepanz zwischen Nostalgie und einer absurden Bestandsaufnahme dessen wider, was längst nicht mehr so existiert wie in der eigenen Erinnerung. Ländliche Zustände und menschliche Existenzen mischen sich in einer Diversität aus Sehnsüchten und paradoxen Erscheinungen", erklärt die 29-Jährige ihren Kunstansatz. Gewissermassen ist Lippuner damit eine Vordenkerin des Heimatfremdelns. Denn auch für sie ist dieses Gastspiel ja genau das - eine Rückkehr an den Ort, in dem sie aufgewachsen ist. Die Remise Weinfelden ist nur wenige Fahrradminuten von Hugelshofen entfernt, dem Ort in dem Sonja Lippuner aufgewachsen ist. Seit 10 Jahren lebt sie in Basel, jetzt also die Rückkehr. Was das mit ihr macht? „Natürlich ist das ein bisschen schräg", sagt sie, „ist aber auch eine interessante Erfahrung, das noch mal so am eigenen Leib zu spüren."
Hier wird gearbeitet: Einblicke in das Sommeratelier von Sonja Lippuner in der Remise Weinfelden. Bild: Michael Lünstroth
Wer Sonja Lippuner in diesen Tagen in ihrem knarzenden Sommeratelier trifft, der ist zunächst mal beeindruckt von der knisternden Energie, die die Künstlerin ausstrahlt. Ihre Werke sind auf zwei Etagen verteilt, Pinsel, Hammer, Zange, Farbtuben und Materialproben liegen auf dem Boden herum. Die Aufbruchstimmung der letzten Tagen vor einer Ausstellungseröffnung hängt in der Luft. Und mittendrin steht die sehr gelassene 29-Jährige. Spricht man mit ihr, merkt man mit jedem Wort, das sie Lust hat zu gestalten, Dinge anzupacken und dass sie das Talent hat, die richtigen Fragen zu stellen. An die Kunst. An sich als Künstlerin. An das Leben. „Mich interessieren die Handlungsspielräume zwischen Materialialität und Inhalt, zwischen (kultur-) historischen Bezügen und meiner persönlichen Wahrnehmung als Künstlerin des 21. Jahrhunderts. Wann und wie verändern sich Bilder, wenn sie losgelöst sind von ihrem ursprünglichen Kontext?"
Sie brauchte lange, bis sie sich das Kunststudium zutraute
Ihre Herangehensweise an ihre Arbeit hat auch viel damit zu tun, wie sie überhaupt in den Kunstbetrieb gekommen ist. „Ich wollte schon immer Kunst studieren, habe mich aber lange nicht getraut", sagt die 29-Jährige heute. Sie wählt einen Umweg von dem sie damals noch nicht weiss, dass er einer ist. Sie beginnt eine Ausbildung aus Steinbildhauerin in Stein am Rhein, arbeitet danach ein Jahr als Bildhauerin in Münchwilen und zieht dann nach Basel. Der Traum vom Kunststudium ist da noch immer im Kopf, aber sie fühlt sich noch nicht bereit dafür. Erst 2012, vier Jahre nachdem sie nach Basel gezogen ist, bewirbt sie sich am Institut Kunst der Hochschule für Gestaltung und Kunst (HGK) Basel - und wird angenommen. Das Bachelor-Studium ist inzwischen fertig, Einzelausstellungen hatte sie in Basel und Bern, daneben war sie in den vergangenen Jahren auch an einigen Gruppenausstellungen beteiligt.
Remise Weinfelden. Hier findet das Sommeratelier der Gemeinde statt. Bild: Lünstroth
Das Sommeratelier in Weinfelden hat ihr jetzt die Möglichkeit gegeben, sich intensiv mit neuen Arbeiten zu befassen. Seit 1992 wird die Remise des Hauses zum Komitee für kulturelle Zwecke genutzt. Die Liste der bisherigen Stipendiaten liest sich wie das Who is who des Thurgauer Kulturlebens: Steffenschöni, Rahel Müller, Rachel Lumsden, Hans Gysi, Othmar Eder, Werner Widmer, Ernst Thoma und viele andere. Die Gemeinde Weinfelden vergibt jährlich dieses Stipendium. Kuratiert wird das Sommeratelier von Brigitt Näpflin Dahinden und Ivo Dahinden. Künstlerinnen und Künstler sollen hier die Gelegenheit haben, ein längerfristig angelegtes Kunstprojekt zu realisieren. Dafür bekommen sie 6000 Franken und alle drei Etagen der Remise, auf denen sie sich austoben können
Für Sonja Lippuner war das Gebäude erstmal die grösste Herausforderung. „Ich musste mich an den Ort herantasten. Am Anfang war ich sehr vorsichtig, habe mich nicht getraut gross zu experimentieren, weil ich dachte, ich mache alles dreckig", erinnert sie sich und lacht. Sie hatte sich auch zu viele Gedanken über den Rahmen gemacht: „Ich hatte die Ausstellung schon im Kopf und wollte sie planen wie in einem white cube. Das ging schief", sagt die 29-Jährige. Sie hat sich dann Raum für Raum im Wortsinn erarbeitet, wurde mit jedem Tag ein bisschen freier. Am Ende sind fast überall einzelne Werke entstanden. Gearbeitet hat sie mit Gips, Styrodur, Zement, Farbe und Schleifpapier. Das Skulpturale dominiert, da kann Sonja Lippuner ihre Herkunft als Bildhauerin nicht verleugnen. Das, was rund anderthalb Wochen vor Ausstellungseröffnung zu sehen ist, zeigt aber auch, dass die Künstlerin da nicht stehen geblieben ist. Sondern eine ganz eigene künstlerische Formensprache entwickelt hat.
Arbeiten von Sonja Lippuner, die im Rahmen des Sommerateliers 2017 entstanden sind. Bild: Michael Lünstroth
Ob sie jetzt so kurz vor der Vernissage nervös sei? Die Künstlerin überlegt kurz und sagt dann: „Ich freue mich darauf, die Arbeiten jetzt zu zeigen und bin gespannt auf die Reaktionen. Aber nervös? Nein, eher nicht. Ich bin gerade eher tiefenentspannt." Ob das auch auf die Arbeiten zutrifft, lässt sich ab Samstag, 16. Juni, in der Remise Weinfelden beobachten.
Vernissage: Die Ausstellung wird am Samstag, 16.Juni, 17 Uhr, eröffnet.
Neuerungen beim Sommeratelier
Das Format des Sommerateliers wird ab diesem Jahr eine Neuerung erfahren. Während sich Teil 1 bis zu den Sommerferien auf die künstlerische Arbeit in der Remise konzentriert mit der Vernissage als Höhepunkt, wird vom 18. August bis 2. September ein Teil 2 folgen. Die Ausstellung wird erneut während rund 2 Wochen geöffnet sein, allerdings in Kombination mit weiteren künstlerischen Ausdrucksformen: Sommeratelier + Jazz, Sommeratelier + Text oder Sommeratelier + Klang.
Erste Ansichten von den neuen Arbeiten von Sonja Lippuner
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