von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 05.06.2025
Wo ist mein Platz in dieser Welt?

Kann man mit etwas verbunden und gleichzeitig frei davon sein? Die Fotografin Thi My Lien Nguyen zeigt im Kunstmuseum Thurgau die bitter-süssen Momente der Rückkehr in vergangene Heimaten. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Wenn wir an einen Ort zurückkehren, den wir früher mal Heimat genannt haben, dann breitet sich sehr oft ein ziemlich wilder Gefühlsmix tief in der Magengrube aus: Irgendwas zwischen süss und bitter, lustig und traurig, wehmütig und skeptisch. Am treffendsten umschreibt es wohl das englische Wort „awkward“, das so viel mehr als „seltsam“ oder „schräg“ bedeutet. Weil es auch den Weg beschreibt, das irgendwas in die falsche Richtung gelaufen ist. Oder anders gesagt: Dass etwas, das mal passte, sich jetzt vielleicht nicht mehr zusammenfügt. Rückkehr - das kann ein sehr komplizierter Gefühlscocktail sein. Mal wohlschmeckend, mal eher so, dass man davon aufstossen muss.
Um all diese sehr universell nachfühlbaren Facetten der Rückkehr dreht sich auch die neue Ausstellung der Fotografin Thi My Lien Nguyen im Kunstmuseum Thurgau. „Gestures of Return“ heisst die erste Einzelausstellung der 30-jährigen Foto- und Videografin in ihrem Heimatkanton. 1995 kam sie in Münstleringen zur Welt, aufgewachsen ist sie in Amriswil. Eigentlich wollte sie Journalistin werden, aber die Arbeitsbedingungen in der Medienbranche haben sie davon abgebracht. Heute lebt und arbeitet sie in Winterthur. In den vergangene Jahren hat sie unter anderem im Kunst (Zeug)Haus Rapperswil-Jona, in der Coalmine Winterthur und im Kunstmuseum St. Gallen ausgestellt.
Wie eine Neuentdeckung der alten Heimat
Im Thurgauer Kunstmuseum zeigt Thi My Lien Nguyen nun Fotografien, die über mehrere Jahre hinweg an verschiedenen Orten entstanden sind. Prägend dafür war, so erklärt es die Fotografin bei einem Rundgang durch die Ausstellung, ein Aufenthalt in Vietnam im Rahmen eines Artist-in-Residency-Programms von Pro Helvetia. „Während dieser Zeit fragte ich mich: Wie kann Mensch überhaupt zurückkehren beziehungsweise heimkehren? Wohin kehrt Mensch zurück? Und was oder wen habe ich zurückgelassen?“

Thi My Lien Nguyen wurde 1995 in St. Gallen geboren und ist in Amriswil aufgewachsen. Sie absolvierte den Bachelor in Visueller Kommunikation an der Hochschule Luzern – Design Film Kunst. Ihre Arbeiten sind in öffentlichen Sammlungen vertreten und wurden international sowie in mehreren Schweizer Museen ausgestellt, unter anderem Kunstmuseum St. Gallen (2024), 22. Biennale Sesc_Videobrasil in São Paulo (2023), Museum Haus Konstruktiv Zürich (2023), Photo Hanoi im Vincom Center for Contemporary Art (VCCA) (2021). Sie ist Teil des kuratorischen Teams bei Les Complices*, einem selbstorganisierten, gemeinschaftsbasierten Off-Space in Zürich, der sich dafür einsetzt, die Ideen und Werke von queer, trans, inter, nicht-binären, Frauen* und BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) zu unterstützen. Im Jahr 2024 nahm sie an Künstler:innenresidenzen in Vietnam (Pro Helvetia) und London (Landis & Gyr) teil und erhielt im selben Jahr den Freiraumbeitrag des Kantons Zürich.
Tatsächlich muss das für die 30-Jährige ein einschneidendes Erlebnis gewesen sein. Schliesslich ist sie in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern waren 1979 samt Grosseltern vor dem Vietnamkrieg aus Laos geflohen und standen damals - nach dramatischen Erlebnissen auf der Flucht und in Flüchtlingslagern - vor einem neuen Leben.
Zwar brachten ihre Eltern und Grosseltern ihr die Sitten und Bräuche der vietnamesischen Kultur auch in der neuen Heimat bei, aber trotzdem blieb Thi My Lien Nguyen immer eine Wandlerin zwischen den Kulturen. Denn so sehr sie die Traditionen ihrer Vorfahren respektieren und pflegen wollte, so sehr wollte sie doch auch in ihrem Leben in der Schweiz ankommen.
Die Fotos, die Nguyen jetzt im Thurgauer Kunstmuseum zeigt, sind vielleicht auch deshalb von einem gewissen Entdeckergeist geprägt. „Ich bin eine Sammlerin von Spuren“, wird die Künstlerin in der ebenfalls zur Ausstellung gehörenden Videoarbeit „Fruits to offer“ sagen. Und das trifft es ziemlich gut.
Bewusster Verzicht auf Rahmen
Die Fotografin beobachtet Rituale, hält mehr Momente als Menschen fest und zeigt so den Vibe der vietnamesischen Kultur und Tradition auf ihre ganz eigene Weise. Nicht exotisierend, aber auch nicht rein dokumentarisch. Nguyens Blick ist eher neugierig, staunend und mitfühlend. „Mit der Kamera zu arbeiten, bedeutet für mich immer auch innezuhalten - einen Schritt zurückzumachend und mich zu fragen: Was bedeutet diese Szene, diese Geste für mich? Für andere? Für meine Familie? Wenn ich Arbeiten auswähle, sie in Beziehung zueinander setze und öffentlich zeige beginnt eine neue Auseinandersetzung“, sagt Thi My Lien Nguyen.
Die einzelnen Arbeiten sind weder gerahmt, noch hinter Glas. Sie hängen wie Fahnen von der Wand herab. Eine bewusste Entscheidung, wie die Fotografin erklärt. „Ich wollte damit keine feste Setzung machen, sondern eher das Prozesshafte hervorheben. Die Arbeiten sollen unmittelbar zugänglich sein und körperlich spürbar werden, ohne Glas und Kasten dazwischen“, so Thi My Lien Nguyen.

Wie kehrt man an einen Ort zurück, an dem man noch nie war?
Die Ausstellung zeigt Detailaufnahmen von Trauerritualen wie dem Verbrennen von Pappmaché-Kleidung oder von so genanntem „Joss money“ aus Papier. Beides Handlungen, die in der vietnamesischen Kultur sicherstellen sollen, dass die oder der Verstorbene im Jenseits ausreichend versorgt ist. Eine Form der transzendentalen Fürsorge, eine Geste des Respekts, wenn man so will.
Und genau darum geht es der Fotografin ja auch in der Ausstellung - die kleinen Gesten des Alltags. Deshalb der Titel der Ausstellung „Gestures of Return“. „Ich bin in einer Kultur aufgewachsen, in der nicht so viel geredet wird, aber über Gesten sehr viel ausgedrückt wird“, erklärt die 30-Jährige ihren Zugang zum Thema.
Das stärkste Bild der Ausstellung verbindet Tradition mit etwas Superheldenhaftem
Neben den religiösen Szenen zeigt die Fotografin in Ittingen aber auch atmosphärische Alltagsszenen. Gedeckte Stehtische vor einem Fest, eine Bar irgendwo in Vietnam mit fröhlichen Menschen oder auch der nächtliche Moment, in dem Nguyen am vietnamesischen Neujahrsfest mit ihrer Tante durch eine menschenleere Gasse geht.
Die Tante voraus, den Mantel umgehängt, er weht fast wie ein Superhelden-Cape. Das Neujahrsfest ist eines der wichtigsten Feste in vielen asiatischen Ländern. Viele reisen zurück in ihre Heimatstädte, um Zeit mit ihren Verwandten zu verbringen. Für viele ist es auch eine Zeit, ihre Älteren zu ehren, über die Freuden und Tragödien des vergangenen Jahres nachzudenken und sich Vorsätze für ein gutes kommendes Jahr zu fassen.
Thi My Lien Nguyen fängt hier einen flüchtigen Moment ein, und doch einer der im Gedächtnis der Betrachter:innen bleiben wird. Es liegt so viel in diesem Foto: Nähe und Fremdheit, Zuneigung und Skepsis, Dunkelheit und Helligkeit. Vielleicht das stärkste Foto der Ausstellung, weil es wie die Essenz der gesamten Schau wirkt.
Die im ersten Saal implizit gestellten Fragen („Alle Bilder sind Einladungen an die Betrachter:innen, es selbst zu sehen“, sagt die Fotografin), vertieft die Künstlerin in den weiteren Arbeiten der Ausstellung. Während sie in der Fotoserie „Long Returns“ über familiäre Verbindungen und Zugehörigkeit über geografische Distanzen nachdenkt, fasst sie in dem Video „Fruits to offer“ so etwas wie ihre eigene kleine Philosophie der Rückkehr zusammen.

Eine poetische Philosophie über die Komplexität von Rückkehrprozessen
Szenen aus dem vietnamesischen Alltag und von besonderen Ritualen kontrastiert sie mit ihrer Stimme aus dem Off über ihre sehr persönlichen Gedanken und Gefühle vor der Rückkehr in die Heimat ihrer Familie. Sie versucht darin auch ihren eigenen Platz in der Welt zu finden.
Thi My Lien Nguyen bei diesem Ringen um die eigene Selbstbestimmung zuzuhören, berührt unmittelbar. Weil es authentisch ist, weil ihre Sprache poetisch ist und weil sie Fragen aufwirft, die wir uns alle stellen (Woher komme ich? Wie finde ich meinen Platz auf dieser Welt? Wie kann ich mit etwas verbunden und gleichzeitig frei davon sein?) An einer Stelle heisst es: „Rückkehr bezieht sich manchmal nicht so sehr auf einen Ort. Sondern eher darauf, eine frühere Version von dir selbst wieder zu treffen.“
Viel besser kann man die ambivalente Komplexität von Reisen in die eigene Vergangenheit nicht beschreiben.

Veranstaltungen im Rahmen der Ausstellung
Die Ausstellung Gestures of Return ist bis zum 9. November im Kunstmuseum Thurgau zu sehen. Mehr zum Rahmenprogramm gibt es auch hier.
Vernissage: Donnerstag, 5. Juni 2025, 17.45 Uhr
Begrüssung: Stefanie Hoch, stellvertretende Direktorin Kunstmuseum Thurgau
Einführung mit der Künstlerin: Florian Hürlimann, Registrar Kunstmuseum Thurgau
Sonntag, 10. August 2025, 11.45 Uhr
Öffentliche Führung mit Thi My Lien Nguyen, Künstlerin
Donnerstag, 11. September 2025, 17.45 Uhr
Öffentliche Führung mit Thi My Lien Nguyen, Künstlerin, und Miriam Edmunds, freischaffende Kuratorin
Texte von Thi My Lien Nguyen
In der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ hat die Fotografin Thi My Lien Nguyen im Jahr 2023 für thurgaukultur.ch fünf Texte über ihren Alltag als Künstlerin geschrieben. Alle dazu erschienenen Texte sind in einem Dossier gebündelt.
«You never know where it leads you» : So viel Mühe, so viel Freude: Über die Arbeit als Künstlerin.
Hope? Check. Über die Bedeutung von Hoffnung für meine Arbeit – und mein Leben.
Video: arttv.ch über die Ausstellung im Kunstmuseum St. Gallen

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