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von János Stefan Buchwardt, 14.02.2022

Die Vermessung der Thurgauer Kunst

Die Vermessung der Thurgauer Kunst
Ausschnitt aus Almira Medarics Arbeit «Krizevi» (Kreuze), 2019, entstanden im Kontext eines Projekts namens «Superhaufen». Fünf mit variierenden geometrischen Zeichnungen belegte Gesichter, die als bemalte Köpfe mit der Kamera dokumentiert sind, stellen Fragen nach Identität, gesellschaftlichen Sinnschichten und Frausein. | © János Stefan Buchwardt

In der Ausstellung «Neue Kollektion– Kunst hier und jetzt» zeigt das Kunstmuseum Thurgau, welche Werke es in den vergangenen Jahren angekauft hat – und warum. Ein spannendes Experiment. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Was über viele Jahrzehnte an kantonalen Kunstartefakten zusammengetragen wurde, ist längst zur Schatzkammer herangewachsen. Gesammelt wird seit 1941. Derzeit präsentiert sich unter dem Titel «Neue Kollektion – Kunst hier und jetzt» eine beachtliche Vielfalt an Neuerwerbungen.

Und das künstlerische Strandgut aus den letzten vier Jahren will sehr viel mehr als nur gefallen. Wer einen Rundgang durch die Räumlichkeiten des Kunstmuseums Thurgau plant, wird erfüllt von Tuchfühlung zum Zeitgenössischen nach Hause zurückkehren oder auch nur ganz pragmatisch mit einem Rucksack voller kritischer Fragen.

Die Ankaufskommission des Beirats des Museums – ihrerseits seit 2013 existierend – imponiert mit Sachverstand und gutem Schwung, insbesondere was Spielräume für Kunstwerte und Kunstbewertungen angeht. Zusammengesetzt aus drei Personen (Katharina Ammann, Direktorin des Aargauer Kunsthauses, der Künstler Alex Hanimann und Hans Jörg Höhener, Präsident der Kulturkommission Thurgau) lässt sie sich offenherzig und gescheit kuratiert in die Karten blicken. Immer im Wissen respektive besten Glauben, möglichst objektiv für eine aktuelle Bedeutungsvielfalt einstehen zu können.

Grosszügige Palette

Mit gegenständlicher sowie gegenstandsloser Malerei, Ausprägungen der Fotografie, umfassenden Videoarbeiten, mehreren Installationen und etwa einer Arbeit im Aussenraum wird eine beeindruckende Bandbreite gegenwartsnaher, also relevanter Kunsterzeugnisse geboten, die neu zu entdeckende und bewährte Namen führt: Lorenz Boskovic & Vincent Scarth neben Richard Tisserand, Sebastian Stadler neben Markus Dulk oder Lina Sommer neben Ute Klein. Othmar Eder, Mark J. Huber, Ernst Thoma, Cécile Wick, Günther Wizemann et cetera. 26 Positionen werden gezeigt, insgesamt circa 60 Werke.

 

Wo Ute Klein (links) mit dem Fliessen der Farbe und dem Spiel von Formen und Bewegungen experimentiert, hinterfragt Karin Schwarzbek Schein und Sein diverser Materialien mit Malmitteln wie Schminkfarben oder Glanzlacken. Daniel V. Kellers installatives Werk «Sediments Now» spielt mit dem trügerischen ersten Eindruck und Vorstellungen von Echtheit. Bilder: János Stefan Buchwardt

Nur das Beste

«Seit 8 Jahren gibt es jährlich 100’000 Franken für diese Ankäufe», führt Markus Landert, Museumsdirektor und nicht zuletzt auch beratender Sekretär des Ankaufsgremiums, aus. Letztes Jahr belief sich die aus dem Lotteriefonds gespeiste Summe auf 150'000 Franken – eine einmalige Erhöhung als Massnahme zur Abfederung der Folgen der Corona-Pandemie für Kulturschaffende.

Der Unterstützungsaspekt bei Ankäufen sei hier nur die eine Sache. «Wichtiger», so Landert, «ist, dass die Sammlung des Kunstmuseums kontinuierlich um Werke erweitert wird, die von einer informierten Gruppe von Menschen, nämlich der Kommission, als bedeutend und kulturtragend empfunden wird.» Denn für die Sammlung wolle man nur das Beste einholen. Und dem geht eine solide geführte Diskussion voraus, die mit kompetenten Bewertungsmassstäben operiert.

Ein Zeitbild

Laut Untertitel der Schau repräsentiert das Zusammengetragene das Hier und Jetzt, also das, was heute in dieser Region gute zeitgemässe Kunst ausmacht. Dabei setzt der Erwerb von Werken mindestens den Wohnsitz der jeweiligen Künstlerin im Thurgau oder zumindest einen engen Bezug des Künstlers zum Kanton voraus. Lustvoll animiert die Ausstellung dazu, Herausragendes gerade auch darüber zu erspüren, welche akuten und programmatischen Fragen es aufwirft.

Wo Landert die Dramaturgie des Ausgestellten aufschlüsselt, umschreibt er eine solche Präsentation auch als Assoziationsfeld. Einfühlnahme, Offenheit, Erörterung – darüber lässt sich nachvollziehen, warum was mit einiger Wahrscheinlichkeit vielleicht sogar bahnbrecherischen Bestand über den Moment hinaus haben dürfte.

So lässt der Direktor, hier auch in seiner Funktion als versierter Kurator, ästhetische, visuelle und denkerische Ereignisse stattfinden. Die atemberaubende Variationsbreite wird zum Lockvogel, Zeitgenössisches eben nicht als Buch mit sieben Siegeln abzutun. Ein schillernd zukunftsgläubiges Grundgefühl, das das Wertvermögen des Angekauften hinterfragt, wird in Gang gesetzt: eine Lust, proaktiven Gestaltungswillen zu wecken und die Thurgauer Sammlungsdosis um mehr als Gegenwartstaugliches zu erhöhen.

 

Während sich in Rachel Lumsdens Werk rein gar nichts von den handwerklichen Feinheiten einer klassischen Malereitradition finden lässt, arbeitet der Fotograf Roland Iselin mit kalter Präzision und fast schon erschreckender Präsenz. Bilder: János Stefan Buchwardt

 

Farbe in der Feuerlinie

Dass ein regelrechtes künstlerisches Flirren und Schimmern die vier Ausstellungsräume samt Korridor durchzieht, wird schon beim ersten Gesamtaugenschein deutlich. Kopfschütteln scheint fehl am Platz, wenn auch erlaubt, und wird zum Aspekt des Vorgestrigen. Es sei denn, man gehört zu denen, die immer noch die Qualität eines Bildes daran messen, wie wirklichkeitsgetreu und naturalistisch es die gegenständliche Welt widerspiegelt oder kommentiert.

Der Rundgang mit Landert wird zur Tour d’Horizon. So hebt er etwa die wahnsinnige Improvisationsfreude heraus, mit der Rachel Lumsden Farbe auf die Fläche bringt. Über diese euphorische Malweise wird ihr Ölbild «Sound of Pleiades» zum gleissenden Auftaktgemälde, das die Besucherschaft im Eingangsbereich heissblütig empfängt. Das Sujet: Durch einen Filter beobachtet eine junge Frau eine Sonnenfinsternis. Damit sei das Ausstellungsthema gesetzt: Es geht ums Sehen, Schauen und um Blendung.

Ungewissheit des Sehens

Oft käme die Eindeutigkeit gegenwärtiger Sichtweisen ins Schlingern, so Landert. Kunst, hier und jetzt, habe immer etwas Ambivalentes. Im Unterschied zur Presse oder Werbung setze sie auf Verstörung und Verunsicherung der Gewissheit des Sehens. Handkehrum arbeitet ein Roland Iselin in seiner Reihe «The Naked Portrait» mit einer gestochen scharfen Präsenz seiner Fotomodelle. Jede Pore, jedes Härchen ist auf den Grossfotografien auszumachen. Die ungeschönten, «abstossend» kenntlich gemachten Körper unterscheiden sich radikal von der Haltung der Modefotografie und machen uns zu Voyeuren. Sehen wird zur Penetranz.

 

Ausschnitt aus Olga Titus’ monumentaler Gartenszenerie «Ohne Titel», 2018, Digitalprint auf Paillettenstoff auf Vliesline, und aus Conrad Steiners «Wellen IV», 2020, Öl auf Leinwand. Bilder: János Stefan Buchwardt

 

Amorphe Kompositionen

Eine vorzügliche Vertreterin des Irisierenden und Schimmernden und damit eines grossen Themas zeitgenössischer Kunst überhaupt ist Olga Titus. Ihre Äusserungen sind von sinnlicher Strahlkraft getragen, die weit über Effektkunst und Design hinausgeht. Im Unterschied zu Conrad Steiner, dessen buntgewürfelte Farb- und Formgebungen «nur» aus improvisiertem Pinselspiel be- und entstehen, bedient sich Titus neuer technischer Verfahren. Über ihre mit eigenen Bildvorlagen aufwendig bedruckten Paillettenstoffe initiiert sie ein dionysisches Fest der Perzeption.

Die offiziellen Erläuterungen zur Ausstellung bringen es auf den Punkt: «Bilder sind heute offensichtlich nicht länger verbindliche Spiegelungen der Wirklichkeit, sondern vielfältig schillernde und wandelbare Wahrnehmungsereignisse, die sich in immer wieder neuen Formen präsentieren. Das ist zwar faszinierend und fesselnd, aber auch herausfordernd und irritierend, insbesondere auch deshalb, weil konventionelle Gattungsbestimmungen nicht mehr zutreffen.»

 

Auszug aus dem Saalblatt: Isabelle Kriegs Arbeit (oben) «Mondfladenphasen» besteht aus acht grafischen Blättern, auf denen die Künstlerin mit einem mit Sepiatinte eingefärbten Fladenbrot Papier bedruckt. In Co Gründlers drei Bildern aus der Serie «Color drunk» schimmert, kräuselt, fliesst, leuchtet, tropft Farbe und weist als bildhafte Stofflichkeit über ihre realisierte Form hinaus. Bilder: János Stefan Buchwardt

 

Interpretationstierchen

Ob nun die gegossenen Zinnbilder des Plastikers Reto Müller unter dem Titel «Potentielle Normaliensammlung», die Frage nach der Funktion der Geraden in Markus Dulks Anordnung eines frei fliessenden Linienspiels namens «Pragma» oder die geometrische Linienarbeit der in Frauenfeld lebenden Almira Medaric an der Aussenwand einer der Ausstellungszellen, mit künstlerischen Situationen in unbestimmtem Rahmen konfrontiert tritt der Mensch nolens volens als «Interpretationstierchen» auf, wie Landert es nennt. Und steht sich mit seinen persönlichen Voraussetzungen mitunter selbst im Weg.

In welchem Moment kippen Weglassungen und Generalisierungen hin zu Verwischungen oder aber Zeichenhaftigkeiten, die wir dann wieder interpretieren können und wollen? Beginnt Kunst nicht gerade auch da, wo man eine gewisse Sinnlichkeit verspürt? Wo man im Wellengang von Gegenständlichkeit zu vollständiger Abstraktion schwappt, sich Eindeutigkeiten auflösen und Dinge passieren, die im nicht kontrollierbaren Bereich der Wahrnehmung funktionieren?

Flügelspanne der Kunst

In den theoretischen Vorgaben des Museums heisst es, eine flüchtige künstlerische Spur könne ebenso als seismografischer Ausdruck der unmittelbaren Empfindung des Künstlers gelesen werden wie als Hinweis auf überzeitlich gültige Themen der Kulturgeschichte. Anders gesagt: Im besten künstlerischen Fall eröffnet sich dem agierenden Individuum eine ihm eingeschriebene mögliche Spannweite zwischen Genügen im Einzelspiel und verallgemeinerbarer Ausdruckskraft.

 

Co Gründlers Blumen (hier: «Flower», 2014) flimmern metallig silbern, ihre imposanten Blütengebilde aus geschäumten Kunststoffwürsten erzeugen wesenhafte Konstrukte. Mit seinen Handlauf-Videos (unten) beschäftigt sich der Künstler Christoph Rütimann mit der Linie und demonstriert, dass die Welt auch ganz anders gelesen werden kann. Renate Flurys leuchtend gelbes Bild von 2017 (links) zeugt von einem für ihr Werk typischen Assoziations- und Farbklangreichtum. Bilder: János Stefan Buchwardt

 

Fontänen und Vulkane

In «Kunst hier und jetzt» wird nicht oberflächlich geböllert, es werden leise und laute Feuerwerksbatterien gezündet. Das banale Alltägliche sieht sich in Verbindung mit Gesellschaftlichem und Universellen gebracht. Was in einer Besprechung nur andeutungsweise beschrieben werden kann, lässt sich vor Ort im glühenden Ittinger Lavafluss aufschlussreich erleben:

Verborgenes und Ungreifbares, das Unerwähnte, die Farbigkeit der Materialien, eine vielgestaltige Behandlung der Oberflächen, das Verlassen der Usance, Versuchsanordnungen des Eingebundenseins in kunsthistorische Traditionen, fantastische Ausformungen des Sichtbaren, visuelle Rauschzustände – all das ist schlicht und einfach einen Besuch wert, Neugierde für neue Instrumente der Erklärung vorausgesetzt.

Richtmass und Wert des Vagen

Und genau dieses allseitige «Schillern» erhebt Markus Landert im Hier und Jetzt zu seinem aktuellen Lieblingsbegriff. Das Ambivalente sei ein mustergültiges Kriterium für gute Kunst und dennoch will das Museum ein diskussionswürdiges Richtmass setzen.

Zeitgenössisches Künstlertum hat etwa prompte Attraktivität zu unterlaufen, indem es, wie zum Beispiel bei den Arbeiten von Sebastian Stadler, musterhaft die alltägliche Manie der Fotografie als vorschnelle Spiegelung der Realität hintertreibt. Den Wert der Rätselhaftigkeit an sich aufleben zu lassen, darum darf es gehen – unter Einbezug einer Reflexion über Fragen der Wahrnehmung von Wirklichkeit und, wie so oft, des Kommens und Gehens.

 

Ausschnitt aus Almira Medarics Arbeit «Krizevi» (Kreuze), 2019. Bild: János Stefan Buchwardt

 

Die Ausstellung und die Serie

Die Ausstellung: Neue Kollektion - Kunst hier und jetzt ist noch bis zum 18. April im Kunstmuseum Thurgau zu sehen. Die Öffnungszeiten: Montag bis Freitag, 14 – 17 Uhr; Samstag und Sonntage, 11 – 17 Uhr

 

Die Serie: Zur Ausstellung schreibt unser Autor János Stefan Buchwardt eine 3-teilige Serie zu drei besonderen Werke aus der Ausstellung. Darin wird er in den nächsten Wochen diese drei Werke eingehender betrachten:

 

Karin Schwarzbek, *1969 in Egnach TG, lebt und arbeitet in Zürich
«041», 2015, Öl, Acryl und Kreide auf Baumwolle, gefaltet

 

Isabelle Krieg, *1971 in Fribourg, lebt und arbeitet in Kreuzlingen
«Schwarzer Rattenreigen», 2020, alle Knochen einer Ratte, Lack, Polyestergarn, Karbonstäbe

 

Ernst Thoma, 1953 – 2020, lebte und arbeitete in Stein am Rhein
«Colors of Delhi / Shyama Prasad Mukherji Marg», 2013/2015, Videoinstallation

 

Weiterlesen: Ein Interview mit Kunstmuseum-Direktor Markus Landert über Werte in der Kunst und die Arbeit der Ankaufskommission des Kunstmuseums, gibt es hier.

 

 

 

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