von János Stefan Buchwardt, 05.07.2024
Visionen mit Bodenhaftung
Plastische Objekte im Aussen- und Innenbereich – Ursulas Fehrs Handschrift kommt im «Museum kunst + wissen» in Diessenhofen zu verdienter Geltung und korrespondiert für einmal mit dem Thurgauer Maler Carl Roesch. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Dass die Sonderausstellung im «Museum kunst + wissen» unter dem Titel «Beflügelt und geerdet» überhaupt zustande gekommen sei, hinge auch mit Ursula Fehrs mächtigem Ikariden-Paar auf dem Diessenhofener Rathausplatz zusammen, sagt Lucia Cavegn. Den 140. Geburtstag des 1979 verstorbenen Malers Carl Roesch nimmt die Museumsleiterin zum Anlass für eine sinnige Jubiläumsgegenüberstellung. Werke aus dem umfangreichen hauseigenen Roesch-Bestand treten in Kontakt mit feingliedrigen Bronzefiguren aus Fehrscher Hand.
Die sogenannten Ikariden in der Ausstellung, fügt Cavegn mit einem Lächeln an, seien gewissermassen der zeitlich begrenzte Familiennachzug zu dem eindrücklichen Exponat vor dem Amtshaus. Enden würde die Präsentation bald, nämlich am 18. August dieses Jahres. Die Frage, inwieweit die 1940 geborene, renommierte Bildhauerin und der bedeutende Exponent der schweizerischen Kunstgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts korrespondieren, beantwortet sie mit Bezugnahme auf Gemeinsamkeiten wie das Ausloten der Spannung zwischen Erdverbundenheit und Geistigkeit.
Endlichkeit und Ewigkeit
Berechtigterweise sprechen die «Schaffhauser Nachrichten» dem «Museum kunst + wissen» nicht nur im Zusammenhang mit der jetzigen Ausstellung die Kompetenz zu, vor Ort ein kundig und offenkundig breit angelegtes, bisweilen auch schmal geführtes, aber fortlaufend prägendes Kulturkarussell zu etablieren. Intuitiv vermittelt auch das jetzt Parallelisierte Einsicht und Bewusstsein. Gerade auch die umfassenden Roesch-Schenkungen in immer wieder neuen Konstellationen modernen Positionen gegenüberzustellen, versteht sich als eine der fortwährenden Aufgaben des Hauses.
«Beflügelt und geerdet»
Ursula Fehrs Bronzeplastiken im Dialog mit Carl Roeschs Malerei
Weiteres Rahmenprogramm
Öffentliche Führung: Sonntag, 4. August 2024, 14.30 Uhr
Ursula Fehr erläutert ihre ausgestellten Werke.
Finissage: Sonntag, 18. August, 16 Uhr: Führung und Apéro
Museum kunst + wissen
Museumsgasse 11
8253 Diessenhofen
Tel. 0041 (0)52 533 11 6
Öffnungszeiten
Montag und Dienstag 9.00 – 11.00 Uhr / 14.00 – 17.00 Uhr
Mittwoch 14.00 - 17.00 Uhr
Donnerstag 13.00 - 18.00 Uhr
Freitag 7.00 - 13.00 Uhr
Reduzierte Öffnungszeiten während der Sommerferien (8. Juli - 9. August 2024): mittwochs geschlossen; donnerstags nur bis 17.00 Uhr geöffnet. Am 1. und 2. August geschlossen. Ausserhalb der Öffnungszeiten sind Termine nach telefonischer Vereinbarung möglich.
Mit der eigenwillig verbindenden aktuellen Thematik will Cavegn also nicht nur ausserordentliches Künstlertum gewinnbringend zusammenführen, sondern nebenbei wie explizit auch Carl Roeschs Verdienste um sein Heimatstädtchen würdigen. Grosszügig überliess der Thurgauer Maler in den Jahren 1964 und 1970 viele seiner Werke der Stadtgemeinde Diessenhofen. Die jetzige spezifische Vorgabe liegt im Sensibilisieren für die Naturverbundenheit und «Standfestigkeit» der gezeigten Kunstexponenten, aber auch für deren Prozesse künstlerischen Abtastens, Erspürens und Festhaltens von Endlichkeit und Ewigkeit.
Beziehungskräfte und Beheimatung
Die Diskrepanz des Seins zwischen Erdverbundenem und «Höhenflügen» haben Roesch wie die bald 84-jährige Fehr intensiv gelebt. Sie beide scheinen vom Wissen getrieben, dass irdischer Aufbruchwille und angezeigte Hoffnung handkehrum nach Verankerung und Verwurzelung rufen. Fast ein ganzes Leben lang blieb der eine seinem Diessenhofen verbunden, die andere ihrem Wohnradius mit Romanshorn, Götighofen, Zezikon und schliesslich Weingarten-Kalthäusern. «Solange wir leben, stehen wir alle noch auf dem Boden», sagt Fehr mit bescheiden weisem Unterton.
Wie tief verwachsen muss man sein, wie hoch verästelt, mögen sich die beiden fragen, damit nachhaltige Lebenszufriedenheit und Sorgfaltspflicht sich selbst gegenüber spielen können? Physisches und psychisches Verwurzeltsein scheint hier noch so wichtig. Der Leib-Seele-Dualismus sorgt für Wissensdurst und künstlerischen Ausdruckswillen, der in diesem Fall ja per se schon eine hochgeistige Leistung darstellt. «In jedem Fall können wir über uns hinausdenken, ob religiös, technisch, wissenschaftlich oder künstlerisch», sinniert die Bildhauerin. Der Mensch müsse aber irgendwo irgendetwas wollen.
Konstitution und Verwesentlichung
Weder ist Carl Roesch nach Paris gegangen noch Ursula Fehr nach Genf, wo sie ursprünglich die Académie des Beaux-Arts erfolgreich besucht hatte. Sie lotet aus zwischen Unabdingbarkeiten und Unzulänglichkeiten, zwischen Wohltat wie Bürde eines gesunden Alltagsrealismus mit all den auferlegten Beschränkungen und Unfreiheiten und ihrer künstlerisch angestrebten Harmonie in der Verwandlung; er – auf der Suche nach Wesenhaftigkeit in der Gestaltung von Körperlichkeit – zwischen Abstraktion, Einfachheit und der unendlichen Welt dessen, was zwischen zwei Buchdeckeln geschrieben steht.
Bei Roesch hat Cavegn oftmals und sinnigerweise Bilder ausgewählt, die einen Raum nach hinten eröffnen. Auf dem Feld arbeitende Bäuerinnen mit mehr und mehr flächenhaft wirkenden Leibern und Kopftüchern ziehen sich durch sein Werk, andererseits fokussiert er das sonntägliche Flanieren am Rheingestade. Die Arbeit mit der Mutter Erde bekundet und umschliesst auch Besinnlichkeit, wenn nicht Sinnenhaftigkeit eines gesegneten siebten Tages. In unterschiedlichem Wirkungsgrad und in wesenseigener Ausführung zieht sich diese Spanne durch die Arbeiten der aneinander Herangeführten. Fehrs Entfaltungstraum ist in der Tat faktischer, weil sehnsuchtsvoll wie handfest.
Irdische Verfasstheit und Metamorphose
Allergisch reagiert Ursula Fehr, wenn ihre Ikariden, nur weil sie Flügel haben, als Engel bezeichnet werden. In ihren sorgsam gestalteten Schwingen erkennt sie die Erreichbarkeit der Fantasiewelten. Sie stehen symbolisch für die Flugbahnen der Ideen und Wünsche, auf die wir Menschen zustreben, für Ideale, die in ihrer geforderten Konsequenz einstweilen unerreichbar scheinen. Das konzentrierte und stets variantenreiche Kreiseln der Fehrschen «Himmelsfahrten», die heidnischen Tänze und Windungen könnten selbstverständlich auch mit Religion zu tun haben, gesteht die Bildhauerin ein.
Video: Ausstellung von Ursula Fehr in Münchwilen
Ein Zurück zu den Angelpunkten des Lebens, zur Reinheit der Brennpunkte ist versteckter wie offensichtlicher Tenor des Gegenübergestellten. Ob Kartoffelleserinnen oder Harztränen-Reliefs, Kiwi-Ikariden oder die Werkgruppe Wirbel-Ikariden, ob behäbige oder geschlankte Leiber, die Kompositionen suchen nach Verkörperungen der Überlebensfähigkeit und deren Überwindung. Der Schau ist Verdichtung und Verwandlung eingeschrieben, in Form von keimenden und ausagierten Lebenswegen. Ein lebendiges Spiel aufbrechender Kräfte will gerade bei Fehr offensichtlich über menschliches Empfinden hinausgehen und entzündet so auch Roeschs Werke.
Mirakulöses und Silentium
Ganz plötzlich stünden sie im Raum, ihre Ideen, sagt Ursula Fehr. Sie seien immer irgendwo, in einer Geschichte, in einer Situation, einem Grundstoff oder entsprängen einem Wettbewerb. «Das organische Material um mich herum», holt sie aus, «wartet auf den Moment, in dem ich weiss, was ich damit und daraus machen werde». Ein Steinatelier wäre für sie nie in Frage gekommen. Von Anfang an habe sie das Giessen, diese rotflüssige Bronze fasziniert und erregt. So dürfe sie die lebenslang und hingebungsvoll auf die Probe gestellte Metamorphose hautnah und archaisch vorerleben.
Natürlich hat Fehr neben elementaren Mythengestalten auch anderes expressiv und schön Gefügtes etwa an Bauten oder im öffentlichen Raum gemeistert: Skulpturen in Holz, Stein und Beton; Zeichnungen, Radierungen, Brunnen, Bronzeschmuck; surreale Mischwesen, florale Üppigkeiten. Sie hat das Thema «Einschränkungen» variiert, sich an der Kraft des Ausbrechens und Emporbringens versucht. Zeichenhafte Verknappung und wuchernde Physis aufspürend hat sie schliesslich im gefassten Kreis ihrer Ikaridenfamilie eine bleibende wie beruhigende – was letztlich auch für Carl Roesch gelten darf – Einmaligkeit geschaffen.
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