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von János Stefan Buchwardt, 20.12.2024

Erfmotingas

Erfmotingas
Die Bezeichnung «Erfmotingas» für Ermatingen steht so in der Gründungsurkunde des Klosters Reichenau aus dem Jahr 724. | © János Stefan Buchwardt

1300 Jahre Ermatingen. Das Buch zum Jubiläum ist mehr als eine blosse Chronik, es ist eine eigene Liebeserklärung an die Geschichte eines Ortes. (Lesedauer: ca. x Minuten)

Und ob gefeiert wurde! Ermatingen am Bodenseeufer blickt auf eine über tausendjährige Geschichte voller Traditionen und Erinnerungen zurück. Und es ist ein Buch entstanden. Wie ein illustrer Wandteppich und rundweg auf bodenständige Weise offenbart es mit jedem Blick eine neue Facette lokaler Historie. Die Wurzeln reichen bis in die Zeit der Alamannen zurück. Seitdem haben Generationen von Ansässigen ihre Heimat geformt, kulturelle Werte geschaffen und die Gemeinschaft gestärkt. 

1300-jähriges Bestehen also im Jahr 2024. Die erste urkundliche Erwähnung stammt aus der Gründungsurkunde des Klosters Reichenau vom 25. April 724. Das Jubelfest wurde mit zahlreichen Projekten gewürdigt: 160 Schautafeln an historischen Orten, ein Dorf-Orientierungslauf, die passende Webseite und nicht zuletzt: das begleitende Buch. Voller Einsatz von den Initiatoren und Verfassern Urs Keller, Hans Herzog und Werner Stör. Genau so lassen sich besondere Festjahre volksnah begehen, so lässt sich die faszinierende Geschichte eines Dorfes neu entdecken. 

 

Der Vergangenheit eine Bühne gebaut

Der Autor Keller und seine Co-Autoren Herzog und Stör offerieren einen handfesten Schlüssel zur Vergangenheit Ermatingens. Sie vereinen alle 160 Infotafeln zu einem kurzweiligen Geschichtswerk, zeigen fünf spannende Rundgänge auf, um die inzwischen unter freiem Himmel nicht mehr verfügbaren Tafeln selbst zu erkunden. Triboltingen, seit 1975 Teil der Einheitsgemeinde, erhält ein eigenes Kapitel, tadellos verfasst von Arnold Bosshard. Ein Muss für alle, die Geschichte hautnah erleben wollen, möchte man meinen. 

Geordnetes Sammelsurium

Da sind ausladende Panoramafotos. Es ist die Rede von einem aufgefundenen Mammut-Backenzahn. Den Pfahlbauern kommt man auf die Spur, Gräberfelder und übersetzte Gründungsurkunden kommen zum Vorschein. Das alles in einer hausbackenen Mischung aus geordneter Chronologie und bunter Faktenauflistung, aus Neugierigmachen und hohem Unterhaltungswert, aus einem irgendwie ungehörigen Design und der liebevollen Akribie der Forschenden. 

Erzählt wird von Gerichtsstuben, Gemeindeordnungen, Schlachten, Mühlen und Rebbau, von Holzrechten, vom Armen- und Gesundheitswesen, von Badstuben, der Fischerei, Färbereien, von Schulen und Verkehr. Alles in allem ein aufgesprengtes Wissenskaleidoskop aus Abbildungen, Erläuterungen und sauberen Aufzählungen. Geborgen werden Kenntnisse um das Leben an sich und all den Lebenszusammenhängen, die sich in Grundstrukturen gleichbleiben, aber immer wieder bunt zusammengewürfelt werden. 

 

Amüsant und verwunderlich

Neben den Jubiläumsprojekten, die in der Bevölkerung sehr gut aufgenommen worden seien, hätten Keller und seine beiden Dorfhistoriker – geradezu wandelnde Geschichtsbücher von Ermatingen – eine Menge anerkennender Rückmeldungen bekommen. «Das Buch haben wir bald einmal achthundertmal verkauft», gibt Keller stolz zu verstehen. In der Tat ist die Publikation in bestem Sinne publikumsgefällig. Sie packt einen auf amüsante und verwunderliche Weise zugleich und widersetzt sich jedem Versuch, in klaren Kategorien von «gelungen» oder «misslungen» gefasst zu werden. Ein geerdetes Werk also, verwurzelt im Alltag und in der Geschichte der Menschen, die diesen Ort ausmachen. 

Nächtelang gerungen

Wo politisches Leben beschrieben, das Schloss Wolfsberg, Schloss Breitenstein und andere Anwesen wie etwa klassizistische Bürgerhäuser, Ammänner und Bürgermeister, Weinhandel und Handwerk, schlimme und gute Jahre halt umschrieben werden, da war neben der historischen eben auch die sprachliche Arbeit herausfordernd. Und es hat sich gelohnt: Jede Seite atmet die Mühen, Freuden und die Sorgen der Menschen, die hier lebten und immer noch leben. 

Wo vom Hochwasser berichtet wird, von See- und Strandbädern, vom Abbruch des stattlichen und stolzen Rathauses im Jahre 1968 oder des Schlosses Hard, da hat Urs Keller, wie er sagt, manchmal nächtelang um kurze und prägnante Formulierungen gerungen. Leichte Lesbarkeit und Prägnanz seien ihm wichtig gewesen. So blättert man mit spielerischer Leichtigkeit weiter und weiter, immer tiefer versinkend in den Strom der Zeit, bis man schliesslich am Ende ankommt – und doch das Gefühl hat, erst am Anfang zu stehen. 

 

Ein gedeckter Tisch

Die Hommage an das Vergangene und Jetzige an sich macht Freude. Die Sammlung von Geschichten begegnet uns auf Augenhöhe. Die Infotafeln, die dieses Projekt ausmachen, sind wie Wegweiser durch das Gewebe der Zeit. Sie pflastern den Ort mit Anekdoten und Wissenssplittern, die sich zu einem Gesamtbild fügen, das ebenso faszinierend wie unüberschaubar ist. Mal leise und unscheinbar, mal laut und dramatisch. 

Das Design des Buches, ungekünstelt und frei von jedem prätentiösen Gestaltungswahn, unterstreicht den Faktor Pragmatismus. Es ist ein Werk, das mit seiner liebenswürdigen Imperfektion, einem gelegentlich charmanten Durcheinander dem Wesen des Ortes treu bleibt. Man könnte fast sagen, es sei in derselben Weise verwurzelt wie die alten Reben am Hang des Seeufers – wild, organisch und doch von Erhabenheit. Auch wie ein gut gedeckter Tisch, an dem man sich immer wieder neu bedient, ohne je satt zu werden. 

 

Bekömmliches Fingerfood

Abschliessendes Lob: Manchmal ist es, als würden die Autoren der Publikation uns mit einem Augenzwinkern daran erinnern, dass die Geschichte nicht nur aus grossen Momenten, sondern auch aus alltäglichen Begebenheiten besteht. Es ist, als hätte jemand eine wissenschaftliche Bibliothek genommen, sie einmal kräftig durchgeschüttelt und die Essenz daraus in handliche Appetithäppchen gegossen. 

Die zahlreichen Leserreaktionen – von «Herzlichen Dank für dieses Bijou» bis hin zu «Ich wollte nur kurz reinschauen, und plötzlich war eine Stunde vergangen» – unterstreichen die Anziehungskraft, die das Buch ausübt. Das Gemeinschaftswerk lädt dazu ein, immer wieder neue Entdeckungen zu machen, und schafft es, selbst Nicht-Historiker für die Geschichte zu begeistern. Die knapp zweihundert Seiten wollen nicht perfekt sein – und genau das macht sie perfekt. 

 

 

 

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