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von János Stefan Buchwardt, 02.10.2023

Thurgauer Nachtigall

Thurgauer Nachtigall
Am 16. September 2023 jährte sich der Todestag von Emilie Herzog – Opernsängerin mit Weltkarriere und schlicht-natürlichem Wesen – zum 100. Mal. Zu diesem Anlass zeigt das «Vinorama Ermatingen» eine Ausstellung über die «Thurgauer Nachtigall». | © János Stefan Buchwardt

In Ermatingen gelangt Emilie Herzog, eine ehemals international gefragte Operndiva, zu neuen Ehren. Dem Bassbariton und Kurator Reto Knöpfel wird sie zur Passion. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

«Zwei Konzerte im Jahr und jetzt gerade eine Ausstellung, die es in sich hat», sagt Reto Knöpfel verheissungsvoll. Neben Stiftungsratspräsidentin Nathalie Leu zeichne er als ehrenamtlicher Kurator des «Vinorama Museum Ermatingen» für Veranstaltungen verantwortlich. Nicht etwa im klassizistischen Haupthaus, das das Wohnen um 1900 präsentiert, sondern im Dachgeschoss der angrenzenden Remise ist neuerdings und bald dauerhaft zu sehen, was vom Weltruhm einer Operndiva aus Ermatingen zeugt. 

Die Etagen der Geschichte des Weinbaus und politischer wie gesellschaftlicher Themen der Region passierend, werden unversehens im Mansardensektor Werdegang und Charakter einer Primadonna aufgerollt. Was in Vergessenheit geriet, gelangt selbst hier noch mit einem Hauch von Dachkammerromantik, die unverhoffte Schätze zu bergen verspricht, ans Licht. An der Ausstellungseröffnung hebt Leu zu Recht heraus: «Wir feiern eine grosse Frau. Emilie Herzog, die ‹Diva vom Untersee›.» Zu nichts weniger als einer Weltpremiere habe man geladen. 

 

Im Kleinen, aber Feinen reiht die Ermatinger Ausstellung über den vergessenen Opernstar Emilie Herzog Dokumentarisches aneinander. Wissenswertes berührt, sorgfältig ins Licht gesetzte Erinnerungsstücke sprechen die Sprache hochverdienter Wertschätzung. | Bilder: János Stefan Buchwardt

Superstar ihrer Zeit

Stolz und sympathisch trumpft das ehemalige Fischer-, Acker- und Weinbauerndorf mit dem veritablen Sensationsfund auf. In immenser Freiwilligenarbeit hat Knöpfel die vergessene Meisterin ihres Faches wiederentdeckt und führt sie zu neuem Ansehen und überfälligen Ehren. Ein Ausnahmetalent, das zwischen 1880 und 1910 über 3000 Opernabende und Konzerte bestritten hat. Eine Künstlerin, die dreissig Jahre lang professionell mit den Grössen ihrer Zeit aufgetreten ist. Eine hoch disziplinierte Thurgauerin mit glanzvoller Karriere. 

Bislang wusste kaum jemand etwas von Emilie Herzog, weder in ihrem Geburtsort Ermatingen noch an den Stätten ihres Wirkens. Die Familie der im Dezember 1859 Geborenen hatte es aber auch schon zwei Jahre später nach Diessenhofen verschlagen. Als Lehrer war der Vater Heinrich Herzog in eine bessere Stelle gewählt worden. Die Jugendjahre verbrachten seine drei Töchter am Südufer des Hochrheins. Nach einer Gesangsausbildung in Zürich und München führte es Emilie von Bayern aus in Städte wie Berlin, Brüssel, Bayreuth, Paris oder Moskau. 

 

An der Ausstellungseröffnung am 10. September 2023 liess der Ermatinger Gemeindeammann Urs Tobler es sich nicht nehmen, als Willkommensgeste den Mundschenken zu machen. Gerührt und dankbar nahm Emilie Herzogs Urenkelin – im Bild neben Reto Knöpfel (vorne) und ihrem Gatten – am Festakt teil. | Bilder: János Stefan Buchwardt

Absolutes Talent 

Musikalisch, heisst es, bevorzugte Herzog dramatisch Gefärbtes wie leidenschaftlich Bewegtes. Einen Namen machte sie sich als Lied-, Oratorien- und Konzertsängerin. Sie war Leiterin von Meisterklassen für Gesang an den Konservatorien in Berlin (1903 bis 1910) und Zürich (1911 bis 1922). Schon als Mädchen hatte sie sich auf Gitarre, Klavier und Orgel geübt, nicht ahnend, dass das «Thurgauer Meitli» viele Jahre später einmal am Krönungskonzert des letzten Zaren des russischen Reiches mitwirken sollte. Als Künstlerin blieb sie immer auch ihrer Schweiz treu. 

Herzog lässt sich ein Wunderkind-Status bescheinigen, soll sie doch, erst zweijährig, einmal gehörtes Liedgut makellos nachgesungen haben. Eine Absoluthörerin? «Sie hätte sagen können, auf welchem Ton man hustet», bemerkt Knöpfel mit einer Mischung aus Respekt und Schmunzeln. Die rund 80 interpretierten Rollen habe sie innerhalb kürzester Zeit einstudiert. Rein technisch, neben der enormen Rollenspannweite, eine Meisterleistung. Er habe nachgezählt: Allein die Partie der Nedda aus «Der Bajazzo» gab sie ganze 178 Mal. 

Reinhören: So klingt Emilie Herzog

Stadtmuseum Berlin · Gnadenarie - Robert der Teufel - Emilie Herzog - 1904,

Zeichen der Verbundenheit

Jedes Jahr, so Knöpfel, selbst ausgebildeter Opern- und Konzertsänger, sei Herzog in die Schweiz gekommen. Sie war sich nicht zu schade, an eidgenössischen Sänger-, Schützen- und Weinfesten mitzuwirken. Die Verbundenheit mit dem Heimatkanton gipfelte darin, dass sie 1898 anlässlich der Centenar-Feier der Befreiung des Kantons Thurgau in Weinfelden die Thurgovia und die Helvetia verkörperte. 1923 fand sie auf dem alten Friedhof im aargauischen Aarburg, dem Heimatort ihres Gatten Dr. Heinrich Welti (Musikkritiker und -historiker), ihre letzte Ruhe. 

«Musikwissenschaftlich ist wenig aufgearbeitet», bedauert Knöpfel. Nach meinen Recherchen werde man aber am besonderen Stellenwert Welti-Herzogs nicht mehr vorbeikommen, habe sie sich doch im Laufe ihrer Karriere zusehends etabliert. Von Komponisten ihrer Zeit bewundert, wurden ihr Lieder und Opernpartien zugeeignet. Engelbert Humperdinck, Hans Pfitzner und Richard Strauss schrieben oder widmeten ihr solche. Letzterem war sie neben Hugo Wolf erste Förderin. Als bewährte Pädagogin erteilte sie seiner späteren Frau Gesangsunterricht. 

 

Ein Originalkleid aus schwarzer Seidenspitze, persönlicher Schmuck oder handschriftlich Festgehaltenes wie das Mantra der Pädagogin «Im Tone klar, im Ausdruck wahr!» machen die Thurgauerin nahbar und zeugen von einem lebendigen Ausstellungskonzept. | Bilder: János Stefan Buchwardt

Pionierrolle eines Besessenen

«In naher Zukunft plane ich eine Publikation über Emilie Herzog», kündigt Reto Knöpfel an. Schon jetzt erfahre er ein umwerfendes Echo. Seinerseits brilliert er in der Pionierrolle des Geschichtsschreibers. Grundlagenforschung tue in diesem Falle Not. Nathalie Leu bestätigt: «Unser Kurator hat dokumentiert und eigenhändig aufgebaut. Jeder Nagel ging durch seine Hand. Ausstellungstafeln, sämtliche Text- und Designarbeiten, aber auch die Anstrengungen der Geldbeschaffung gehen auf ihn zurück.» Beseelt sei er Teil der Diva vom Untersee geworden. 

Und ob der Geist eines Beflügelten über seinen Ambitionen schwebt! Jede freie Minute der Bekanntmachung einer Vergessenen widmen, kostbare Exponate zusammenzutragen und zu präsentieren, Medientermine wahrnehmen … Für ihn, sagt Knöpfel, bleibe es kein geringes Problem, die nötigen finanziellen Mittel aufzutreiben, um Emilie Herzog wirklich unsterblich zu machen. «Sie füllt meinen Alltag, wenn nicht sogar mein Privatleben aus», gibt er zu verstehen. Die beiden scheinen eine Symbiose aus Akribie und Arbeitssoll einzugehen. 

 

Unermüdlich führte Emilie Herzog, deren Stimme sich souverän von der Opernsoubrette zum dramatischen Koloratursopran entwickelte, das Familienunternehmen und sorgte für den Lebensunterhalt. Oben: Herzog im reiferen Alter, Privataufnahme, ca. 1918. Unten: Schellackplatten aus Herzogs Besitz. | Bilder: János Stefan Buchwardt

Musikgeschichtliche Nachforschung

Als Reto Knöpfel im letzten Herbst realisierte, dass sich der Tod der Diva zum hundertsten Mal jähren wird, ging er definitiv in Planung, um eine fixe, vor allen Dingen aber publikumswirksame Ausstellung einzurichten. Ob Gelegenheitskäufe auf Online-Marktplätzen wie eBay oder Funde aus internationalen Auktionshäuser, er kaufte zusammen, was ihm unter die Finger kam. Neben Postkarten mit Herzogs Unterschrift stiess er auf einen wunderschön geschriebenen Originalbrief der Frau, die in jungem Alter sicherheitshalber noch eine Lehre als Putzmacherin zu absolvieren hatte. 

Übrigens kann er beweiskräftig widerlegen, dass Herzog Auftritte an der Metropolitan Opera in New York City zugesprochen werden. «Aufgrund der Agenden, die das Ehepaar Welti-Herzog minutiös geführt hat, ist das schier unmöglich», stellt er klar. Er selbst habe mit New York korrespondiert und vom dreisten Schwindel einer Sängerin erfahren, die dort unter Herzogs Namen aufgetreten ist. «Kuriosa zu sammeln, macht durchaus Spass und Sinn, aufwändige Archivarbeiten im In- und Ausland zu tätigen aber auch viel Mühe», konstatiert Knöpfel nachdenklich. 

 

Zur Ausstellungseröffnung gereicht Emilie Herzog ein von Reto Knöpfel konzipiertes Konzertprogramm, umrahmt von arrangierten biografischen Schlaglichtern (Rezitation: Astrid Keller, Koloratursopran: Alexa Vogel, Pianistin: Margareth Schicker-Looser), zur Ehre. | Bilder: János Stefan Buchwardt

Büchse der Pandora

«Als ich in einem Stammbaum auf eine Urenkelin aufmerksam wurde», erzählt er, «sollte sich herausstellen, dass ich die Büchse der Pandora öffnen würde. Wohlgemerkt im Positiven.» Mit der mittlerweile 70-jährigen Silvia Wiesner Alder aus Zürich entstand ein herzlicher Kontakt. Unglaubliches Material kam zum Vorschein. Kisten, die sich als Schatztruhen entpuppten. Eine lückenlose Dokumentation der Auftritte ihrer Urgrossmutter: wo, wann und zum wievielten Mal was stattgefunden hatte. Auch ihr läge wie ihm ein gesunder Personenkult am Herzen. 

Das Potenzial der Geschichte bleibe in Zukunft wohl kaum in Eigenregie handzuhaben, sinniert der beflissene Kurator. Und ob nun Diessenhofen mehr oder zumindest ebenso viel Anspruch darauf habe, sich die Sache verfügbar zu machen, oder sogar Aarburg? Ein Lokalhistoriker der Kleinstadt am Rhein hätte tatsächlich ins Spiel gebracht, von der «Diva vom Untersee und Rhein» zu sprechen. Eine Fehde suche Knöpfel nicht. Schliesslich stamme auch Herzogs Vater aus einem Seerücken-Dorf oberhalb von Ermatingen. Längst sei geplant, die Ausstellung Anfang nächsten Jahres in Diessenhofen zu zeigen. 

Ausladender Gabentisch

Jetzt wartet Ermatingen also mit überreichem Einblick in das Leben und Schaffen der berühmten Thurgauerin auf. Karriere (auch als Pädagogin), Privatleben und die enge Beziehung zum Heimatkanton Thurgau stehen im Mittelpunkt des Gezeigten. Zu hören sind Aufnahmen von Schellackplatten. Zu sehen, neben einem seltenen Synchron-Tonfilm, Fotografien, Rollenporträts, Accessoires, Haushaltsgegenstände, Postkarten, Plakate, Diplome, Orden, Notenblätter und viele weitere erstaunliche Memorabilien erster Güte. 

So lässt eine Herzensangelegenheit die Herzog wiederauferstehen. Höhepunkte der Ausstellung sind das silberne Frauenverdienstkreuz zweiter Klasse am weissen Bande oder eine durch Kaiser Wilhelm II. verliehene Brosche, mit der die Schweizerin vermutlich zur königlich preussischen Kammersängerin ernannt worden war. Entdeckt zu haben, dass ihr berühmtester Bühnenpartner niemand Geringerer als Enrico Caruso gewesen sei, lässt Reto Knöpfel mitnichten übermütig werden. Selbstlos und geradezu verliebt will er fernerhin um ein vollständiges Wissen bemüht sein. 

 

Neben abhörbaren Musikaufnahmen stellt das Vinorama mit dem einzig erhaltenen Tonbild von Emilie Herzog, einst ein Synchronlauf von Projektor und Grammophon, eine Rarität des frühen Filmerbes vor. | Bilder: János Stefan Buchwardt

 

Ausstellung über Emilie Herzog

Remise Vinorama Ermatingen, 3. Stock 
September bis Dezember 2023 
jeweils sonntags 14.00 – 17.00 Uhr

 

Führungen auf Anfrage unter 
info@vinorama-ermatingen.ch oder 
unter 071 660 01 01 bzw. 077 411 77 52 
Eintritt frei

 

Folgeausstellung im Museum kunst + wissen 
in Diessenhofen: ab Januar 2024

 

Zusatzkonzert zur Ausstellung

Gewölbekeller Vinorama 
Sonntag, 12. November 2023, 17.00 Uhr 
Platzzahl beschränkt, Anmeldung 
unter info@vinorama-ermatingen.ch 
Eintritt frei, Kollekte (empfohlener Betrag: CHF 25)

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