von János Stefan Buchwardt, 07.06.2024
Zwei starke Frauen
Verstorben, dann vergessen. Martha Haffter darf wieder als signifikante Schweizer Künstlerin gelten – dank einem glänzenden Buchbeitrag von Monica Seidler-Hux. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Inzwischen ist Martha Haffters Leben und Werk solide aufgearbeitet. «Endlich» wird der vergessenen Thurgauer Kunstmalerin (1873 bis 1951) verdienter Respekt zuteil, dank aufwendiger Studien für eine Publikation und einer wirksamen Öffentlichkeitsarbeit der Kunsthistorikerin und Germanistin Monica Seidler-Hux. Haffter nun in einem Atemzug etwa mit Helen Dahm, Adolf Dietrich oder Carl Roesch zu nennen, hat nichts mehr mit kantonalem Pflicht- und Ehrendünkel zu tun. Minutiöse Recherche- und Überzeugungsarbeit haben sich gelohnt.
Der dezidierten Impressionistin mit Hang zum Unkonventionellen und Akademischen den entscheidenden Anstoss zur Unabdingbarkeit ihres Andenkens und der Wertschätzung gegeben zu haben, war überfällig. Widerständen zum Trotz war sie ausgezogen, um sich der Malerei zu widmen. Wie sich die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den bekanntesten Thurgauer Kunstschaffenden Zählende unbeirrt ihren Berufstraum erfüllte, ist erstaunlich und muss als exemplarische Frauenbiografie gelten.
Künstlerische Verortung
Martha Haffters Werk zeichnet sich durch eine poetisch-realistische Malerei aus. Es kennt abbildtreue Porträts, stimmungsvolle Landschaften, Blumenstillleben, lichterfüllte Interieurs, Hausporträts oder Strassenszenen in Paris und Frauenfeld. Unzählige Meisterstücke zeugen von hoher Produktivität und künstlerischer Einfühlungsgabe. Haffter stellte zeitlebens in der ganzen Schweiz aus, ab 1902 im Kunstverein Winterthur, im Künstlerhaus Zürich, am traditionellen Pariser Salon des artistes français und der Société nationale des beaux-arts, vor dem Zweiten Weltkrieg neben Frankreich auch in Deutschland. Während fast 40 Jahren spielte sich ihr Schaffen zwischen Kleinstadt und Kunstmetropole ab.
Wo der Laienblick Haffter vorderhand unspektakuläre Motive nachsagt, attestiert Seidler-Hux ihr gerade darin und durchaus begründet stille Grösse und Innerlichkeit. Sie suchte Nähe und Intimität und fand sie nicht zuletzt auch in nah heranzoomenden Kinder- und familiären Interieurbildern. Ob bei der beseelten Dynamik, die die Malerin aus froher Freilichtmalerei schöpft, ob in den dekorativ komponierten Kinderfriesen oder beim Einfangen kontemplativ-heiterer Momente des Badens, sie verfolgte ein Stilideal, das sie bei den französischen Impressionisten und Intimisten für sich entdeckt hatte.
Abnormal und extravagant
In der 336 Seiten umfassenden, grosszügig bebilderten Monografie geht es Seidler-Hux um mehr als nur um die Rekonstruktion eines Einzellebens. Das Kunstbuch thematisiert ebenso gesellschaftliche Erwartungen respektive zeittypische Mechanismen und Rollenbilder. Haffters Berufswunsch stiess auf mannigfache Vorurteile. Um 1900, so formulierte es die kunsthungrige Regierungsratstochter aus einflussreichem Weinfelder Geschlecht grad selbst, sähe man eine junge Dame mit künstlerischen Ambitionen als abnormal und extravagant an.
Kein Wunder, stellt Seidler-Hux fest, dass ihr Buch besonders auch Frauen zu berühren scheine und viele Emotionen auslöse, werde doch eine Frau und Künstlerin, die sich selber nie in den Mittelpunkt stellte, aber beharrlich ihre Ziele und Stärken verfolgte, für einmal in den Vordergrund gerückt und ernstgenommen. Folgerichtig stellt sie der Publikation eine ausgeweitete Zueignung voran: «Allen vergessenen und verkannten Schweizer Künstlerinnen gewidmet, die unbegangene Pfade zu betreten wagten und trotz Hindernissen dem Ruf der Kunst folgten, weil sie nicht anders konnten.»
Verheimatung im Grossen und Kleinen
Was es über die Thurgauer Künstlerin festzuhalten gibt, hat Seidler-Hux aufgearbeitet. Eine permanente Ausstellung zwischen zwei Buchdeckeln wolle sie bieten, inspirierende Horizonte aufzeigen und so schliesslich auch zur «Schönheit» beitragen. Ein Glücksumstand also, dass Haffters Leben eine qualitätsvolle wissenschaftliche Präsentation erfahren hat? Bis heute haben längst nicht alle Ungleichheiten im Kunstbetrieb beseitigt werden können. Mauerblümchen wider Willen gehören zur Tagesordnung, die Benachteiligung von Frauen in der Kunstszene scheint stabil, wenn auch in kleinerem Masstab.
Ihre Fähigkeit, universal zu denken, kostet Seidler-Hux, die hauptberuflich als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich arbeitet, aus. Beflügelt von ihrer eigenen «Künstlernatur» und Neugier. «Haffters Lebensweg», konstatiert sie, «gewinne ich eine für Frauen und hoffentlich auch Männer ermutigende Botschaft ab.» Das habe auch ihre Ausdauer und Ergebnisorientierung gefüttert. Nicht zuletzt über ein «Verführtwerden» durch Lesegenuss initiiert die Monografie «Verheimatung».
Lust an der Gesamtschau
Die zielgerichteten Haltungen der Autorin und der Künstlerin überschneiden sich geradezu. Sie liebe, schwärmt Seidler-Hux, das Schreiben und Büchermachen von all seinen Seiten. Hier sei die Quellenlage für ein «Frauenschicksal» aussergewöhnlich dicht gewesen. Neben Gemälden und Zeichnungen in öffentlichen Sammlungen und Privatbesitz dienten Martha Haffters Tagebücher zwischen 1901 und 1946 als Forschungsgrundlage. Lebensdokumente, Fotografien, Kataloge kamen hinzu, Artikel, Interviews mit noch lebenden Kindermodellen, mit Zeitgenossen und mit Haffters Neffen.
Seidler-Hux sind die Charakter-, Kunst- und Geschichtsstudien zur lebendigen Gesamtschau erwachsen. Der Frauenfelderin hatte sie bereits ihre Masterarbeit an der Universität Zürich gewidmet. Schon um die Jahrtausendwende war sie massgeblich an einer grossen Retrospektive im Kunstmuseum Thurgau beteiligt. Anerkennung dafür, wie gut es gelingen kann, ein Gespinst aus Lückenhaftem, Wahllosem und Fehlendem in ein klares Zeitbild überzuführen! «Eine Schweizer Künstlerin zwischen Peripherie und Paris» – so der Untertitel der Publikation – ist im Hier und Jetzt angekommen.
Anliegen der Autorin
Die Beschäftigung mit Martha Haffter ermögliche eine kulturgeschichtliche Bereicherung. Sie selbst, hebt die Autorin heraus, habe ein besonderes Interesse an historischen Neben- und Randfiguren abseits des offiziellen Kunstkanons und der offiziellen Geschichtsschreibung. Indem sie auch auf andere starke Persönlichkeiten wie Anna Roth, Hanna Brack, Elisabeth Thomann-Altenburger oder Elsa Wartenweiler-Haffter hinweise, wolle sie auch die Thurgauer Kultur- und Frauengeschichte erweitern und bunter färben.
Dass Begabung tunnelblickmässig nur männlichen Künstlern zugesprochen wird, hat sich, wenn auch nicht ausgewogen, geändert. «Ich lade dazu ein», holt Seidler-Hux abschliessend aus, «in die Vielfalt künstlerischen Schaffens und künstlerischer Lebensmodelle in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückzutauchen.» Ihr lauterer und Haffters stiller «Kampf» dafür, dass nicht nur ein paar Alibikünstlerinnen und dass Frauen überhaupt angemessen zu Museumsehren gelangen, ist exemplarisch geführt worden. Martha Haffter wird geachtet und wird nicht länger als ‹mölelende Frau› verharmlost.
Das Buch und die Autorin
Monica Seidler-Hux
Martha Haffter –
eine Schweizer Künstlerin
zwischen Peripherie und Paris
Benteli Verlag
Hardcover, 336 S., 390 Abb.
ISBN 978-3-7165-1877-9
Preis CHF 58,00
Erhältlich seit Oktober 2023
www.benteli.ch und
überall im Buchhandel
Monica Seidler-Hux, Kunsthistorikerin, Germanistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich, hat bereits ihre Masterarbeit an der Universität Zürich der Rekonstruktion von Martha Haffters Leben und Schaffen gewidmet und mit der grossen Retrospektive im Kunstmuseum Thurgau 1999/2000 die Wiederentdeckung der nahezu vergessenen Künstlerin ermöglicht. Nach der Biografie und Briefedition Gottfried Kellers feuriger Freund - Johann Ulrich Müller. Romanfigur, Baumeister und Kartograf der USA (2020) hat sie nun eine reich bebilderte Monografie über die Thurgauer Kunstmalerin zusammengestellt.
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