von Anabel Roque Rodríguez, 07.07.2020
Die Schranken der Gesellschaft
So unterschiedlich die «Thurgauer-Köpfe-Ausstellungen» im Kunstmuseum und Ittinger Museum sind: Sie verbindet, dass selbst innovative Köpfe, manchmal nicht aus ihrem gesellschaftlichen Korsett ausbrechen können.
Mit dem Kooperationsprojekt «Thurgauer Köpfe» zeigen die sechs kantonalen Museen im Thurgau verschiedene Facetten aus dem Kanton und eröffnen auch eine interessanten Blick darauf, wie regionale Geschichte auch Fragen auf globalere Themen aufwerfen kann.
Das Kunstmuseum Thurgau zeigt unter dem Titel «Frauen erobern die Kunst» die Positionen von rund 20 Künstlerinnen. Sieht man sich die Kunstwelt, egal ob regional oder international an, ist man schnell ernüchtert, denn man fragt sich eher, wo die Künstlerinnen geblieben sind. Das führt häufig zu fragwürdigen Kausalitäten, so behauptete der deutsche Maler Georg Baselitz in einem Interview, dass Frauen einfach nicht so gut wie ihre männlichen Kollegen malen könnten.
Kunstgeschichte neu sortieren
Dabei ist es aber weniger eine Frage der Qualität, als eine von systemischen Ursachen. Frauen waren für Jahrhunderte in einem engen gesellschaftlichen Korsett eingebunden, in dem Künstlerinnen wenig Platz fanden. In Frankreich beispielsweise wurden Frauen erst 1897 an der École des Beaux-Arts für ein Kunststudium zugelassen. In Deutschland dauerte die Öffnung für Frauen sogar noch bis 1919.
In der Gesellschaft Schweizerischer Maler und Bildhauer wurden Frauen bis 1972 nicht aufgenommen, so gründeten Frauen 1902 eine eigene Schweizerische Gesellschaft der bildenden Künstlerinnen. Eine künstlerische Ausbildung war für viele Künstlerinnen also nur an teuren Damenklassen möglich, die finanzielle Herkunft entschied so über den Zugang.
«Der Begriff Feminismus sorgt bei vielen Menschen dafür, dass sie die Schotten dicht machen. Die Ausstellung soll neugierig auf die Künstlerinnen und ihr Leben machen. Es geht weniger um einen Vorwurf, als danach zu fragen, warum diese Frauen in der Kunstgeschichte kaum auftauchen.».
Stefanie Hoch, Kuratorin Kunstmuseum Thurgau
«Die Inspiration für die gegenwärtige Ausstellung ist aus der Helen-Dahm-Schau entstanden. Einige der Werke stammen aus der eigenen Sammlung, aber es gibt auch eine Menge Leihgaben» erzählt die Kuratorin der Ausstellung Stefanie Hoch.
Besucht man die Ausstellung im Kunstmuseum, wird man an keiner Stelle den Begriff Feminismus finden. «In der Kunstgeschichte sind Frauen wie Männer vergessen worden, auch wenn es mehr Frauen betrifft. Der Begriff Feminismus wird zwar häufig genutzt, sorgt aber bei vielen Menschen dafür, dass sie die Schotten dicht machen. Die Ausstellung soll neugierig auf die Künstlerinnen und ihr Leben machen. Es geht weniger um einen Vorwurf, als danach zu fragen, warum diese Frauen in der Kunstgeschichte kaum auftauchen», erklärt Kuratorin Stefanie Hoch.
Bessere Chancen für Töchter aus gutem Hause
In einem der Texte der Ausstellung über die Künstlerin Mathilde van Zùylen zeigt sich, in einem Nachruf von Wilhelm Hummel (1940) das Rollenverständnis jener Zeit «Sie war der erste Bubikopf im Thurgau und rauchte gerne gute Importen; dass sie überdies auch malte, vermochte ihre Normalität bei der Bevölkerung noch weniger zu legitimieren.»
Der Vater von Sophie Mathilde Ammann, so der Ledigenname der Künstlerin, gehörte zu den wohlhabendsten Bürgern von Ermatingen und verkehrte mit dem gleichaltrigen Prinz Louis Napoléon auf dem Arenenberg. Wie es sich damals für eine Tochter aus gutem Hause gehörte, erhielt sie eine sehr gute Ausbildung in Friedrichshafen und Stuttgart, dazu gehörte der Besuch in einem der Damenateliers der Weimarer Akademie unter Stanislaus Graf von Kalckreuth und Privatstunden bei Karl Gussow, der damals zu den bekanntesten Künstlern Deutschlands zählten.
Video: arttv.ch über die Ausstellung
Eine frühe Künstlerkolonie im Thurgau
Mit 28 heiratete sie den zehn Jahre älteren Freiherr van Zùylen-van Nyevelt, der allerdings wenige Wochen später verstarb. Als Witwe hatte sie die Möglichkeit ein recht freies künstlerisches Leben zu entfalten. So bildete sich eine Art Künstler- und Literatenkolonie um sie herum und schaffte damit die Strukturen für eine der frühesten professionellen Kunst- und Literaturszenen im Thurgau.
Ihr eigenes Werk besteht hauptsächlich aus Porträts von Bekannten und Familienmitgliedern und es gibt laut Ausstellungstext keine Informationen darüber, ob sie je an Ausstellungen beteiligt war oder Bilder verkauft hat. Man darf aber annehmen, dass sie finanziell auch über die Jahre ausgesorgt hatte.
Das Leben von Mathilde van Zùylen, aber auch andere Künstlerinnen aus der Ausstellung, wie die Frauenfelderin Martha Haffter zeigen, dass Töchter aus gutem Hause zwar gerne künstlerisch ausgebildet wurden, aber nie mit dem Ziel einen professionell künstlerischen Weg einzuschlagen. Die Frauen die dies zu jener Zeit versuchten, mussten gegen allerhand Vorurteile ankämpfen.
Wie das Eheleben die künstlerische Arbeit erstickt
Dann gibt es das Schicksal, das viele Frauen in der Ausstellung teilen, sie heiraten und ordnen ihr eigenes künstlerisches Schaffen dem Familienleben unter. Da gibt es zum Beispiel Margrit Tanner, Tochter einer Stickereifabrikantenfamilie. Sie wollte gerne einen künstlerischen Weg einschlagen und besuchte ab 1896 die École des Beaux-Arts in Genf. 1911 heiratete sie den Künstler Carl Roesch und zog nach Diessenhofen.
Sie arbeiteten beide noch eine ganze Zeit parallel, stellten beide sogar an der 1. Schweizerischen Werkbundausstellung 1918 in Zürich aus. Doch dann verliert sich ihre künstlerische Spur und es scheint, als hätte sie einfach mit der Kunst aufgehört. Sie stellte ihre künstlerische Expertise völlig in den Dienst der künstlerischen Karriere ihres Mannes.
Überraschungen in der Sammlung
Die 1935 in Schaffhausen geborene und noch in Appenzell Ausserrhoden lebende Künstlerin Susi Iff-Kolb stellt eine der vielen Überraschungen für die Kuratorin Stefanie Hoch da. Die Künstlerin hat sich ihren Freiraum genommen, der in den 1950er Jahren langsam auch grösser wurde. Eine bereits geplante Ausbildung sagte sie in letzter Minute zum grossen Entsetzen der Familie ab und besuchte die Kunstgewerbeschule in Zürich, wo sie an der Fachklasse Fotografie aufgenommen wurde.
In dieser Zeit lernte sie den Künstler Carl Roesch kennen, mit dem sie eine lange Freundschaft verband. Sie dokumentierte regelmässig seine Werke und fotografierte auch sein Werkverzeichnis. Ihre eigenen Arbeiten sind modern und zeigen wirklich spannende Bildaufbauten. Umso erstaunlicher ist es, dass die Künstlerin nach der Heirat und Kinder nur noch privat fotografierte.
Eine weitere Überraschung stellen die Arbeiten von Saskia Egloff dar. Auch diese Künstlerin kommt aus gutem Hause und konnte Bildungsreisen nach Nordafrika, Indien und in die USA unternehmen. Sie begann 1925 als Autodidaktin zu fotografieren. «Sie hat es allerdings mit der Fotografie ernst gemeint und wollte ihr Wissen vermitteln und hielt Vorträge im Yacht- und Tennisclub Kreuzlingen.» Ab 1940 begann sie sich ehrenamtlich beim Schweizerischen Roten Kreuz zu engagieren.
So dokumentierte sie die humanitären Einsätze und erhielt auch für Deutschland eine Dreh- und Fotogenehmigung. Zu sehen sind eindrückliche Zeugnisse vom Kriegsgefangenenaustausch der im Januar 1945 zwischen den Deutschen und den Alliierten stattfand, und von der vom Roten Kreuz organisierten Heimreise ehemaliger KZ-Häftlinge. Werke die hoffentlich umfangreicher in der Zukunft gezeigt werden können. Denn eines verrät uns noch die Kuratorin, bei der Recherche zur Ausstellung gab es einige überraschende Erkenntnisse, die weitere Recherche benötigen und hoffentlich in weiteren Ausstellungen münden.
Im Ittinger Museum: Ein Sohn aus gutem Hause
Die Ausstellung im Ittinger Museum widmet sich dem Leben von Victor Fehr, der 1867 mit gerade 21 Jahren die Kartause erwarb. So wurde aus dem jungen Mann, über die 71 Jahre in der er die Kartause bewohnte, ein modern denkender Gutsbesitzer, der am Ende aber nicht aus seiner aristokratischen Haut kann. «Vermutlich ist Victor Fehr, neben einigen Mönchen, der langjährigste Bewohner der Kartause» erzählt uns Felix Ackermann, Kurator der Ausstellung.
Eigentlich wollte er die Kartause nie erwerben, wie man in seinen «Lebenserinnerungen» lesen kann, die er in späten Lebensjahren verfasste. Darin liest sich nämlich, dass er die Kartause von einem «Konsortium von Appenzeller» erworben hat, vermutlich frühe Immobilienspekulanten. Er wollte sich mit 21 Jahren nicht schon binden, kam aber dem Wunsch seines Vaters nach doch ein Angebot abzugeben. «Ich kannte den Verkaufspreis, der verlangt wurde, und machte eine Schatzung von 2 mal hunderttausend unter dem Angebot, so dass ich glaubte, sicher zu sein, dass dasselbe nicht angenommen werde.» Umso schockierter war er, als das Angebot tatsächlich angenommen wurde.
«Vermutlich ist Victor Fehr, neben einigen Mönchen, der langjährigste Bewohner der Kartause.»
Felix Ackermann, Kurator Ittinger Museum
Aus was für einer Familie stammt Victor Fehr, dass er sich das Kloster leisten kann? Die Familie Fehr, eine traditionsreiche Kaufleute-Familie, kommt aus St. Gallen und ist dort im wichtigen Textilhandel tätig. Der Vater von Victor, Ernst Edmund Fehr, war Direktor der Handelskammer und Inhaber verschiedener öffentlicher Ämter.
Ein solches gesellschaftliches Ansehen sorgt für gewisse Pflichten. Zu jener Zeit war es ganz klar, dass Väter über die berufliche Laufbahn ihrer Söhne entscheiden, dennoch räumte der Vater den beiden Söhnen gewisse Freiheiten ein, so konnten sie sehr gegensätzliche Karrieren verfolgen: der eine wurde Arzt und der andere Gutsherr bzw. Landwirt.
Video: arttv.ch über die Ausstellung
Von Pflichten und Freiheiten
Man kann natürlich nur spekulieren warum diese Freiheiten möglich waren, Felix Ackermann sieht ein paar Lebensereignisse als potenzielle Gründe: «Ernst Edmund Fehr musste in seinem Leben einige Schicksalsschläge erdulden. Im Alter von 41 war er in Folge eines Schlaganfalls teilweise gelähmt. Ausserdem verlor er einen der drei Söhne früh an Lungentuberkulose.»
Die Lähmung des Vaters sorgte auch dafür, dass er sich häufig an der Kartause aufhielt und «streng minutiös über die Finanzen Buch geführt hat, inklusive Kost und Logis des Sohnes.»
Die akademische Ausbildung absolvierte Victor Fehr in Bonn, «eine solche Ausbildung wäre damals in der Schweiz nicht möglich gewesen. Sein Vater sah diese Ausbildung allerdings kritisch, denn für ihn galt, dass ein Mann arbeiten müsse.»
Die Kartause im Wandel der Zeit
Die Kartause Ittingen war im 18. Jahrhundert durch den Weingrosshandel zu einem der reichsten und bekanntesten Klöster im Thurgau aufgestiegen. Nach der Verstaatlichung der Klostergüter führten ab 1837 kantonale Beamte das Weingeschäft weiter, Betrug und mangelhafte Verwaltung sorgten aber immer wieder für erhebliche Probleme. 1856 verkaufte der Kanton die Kartause, die in dem Kloster wohl eher ein lukratives Spekulationsgeschäft gesehen haben. Bis Victor Fehr das Kloster in eine neue Zukunft führte.
Ein Gutsherr kein Bauer
Als Gutsherr veränderte Victor Fehr vieles am Kloster und verfolgte eine Diversifizierung der Landwirtschaft. So gab er den Weingrosshandel auf, der lange Zeit die Wirtschaft in Ittingen dominierte und konzentrierte sich stattdessen auf die Bewirtschaftung der eigenen Felder. Als wohlhabender Gutsherr konnte er ausserdem Personal beschäftigen und sich in ausgedehnten Reisen weiterbilden, als Zeit wählte er dazu meist den ruhigen Winter. Vor allem England und die innovativen Landmaschinenindustrie hatte es ihm angetan. Er importiere auch einige englische Maschinen.
Victor Fehr hat sich allerdings nicht als Landwirt oder Bauer gesehen, sondern Landwirtschaft eher akademisch betrieben: Sich weitergebildet, darüber veröffentlicht. 1882 beteiligte er sich an der Gründung der Gesellschaft Schweizerischer Landwirte, in der sich eine Elite von Fachleuten und Inhabern grosser Güter zusammenfand. Als Vorstandsmitglied engagierte er sich stark für den Schutz der Schweizer Landwirtschaft durch Zölle. Für dieses Engagement wurde ihm mit 86 Jahren die Ehrendoktorwürde von der ETH Zürich verliehen.
Eine heikle Affäre ohne Folgen
Die Ausstellung im Ittinger Museum gibt auch Einblicke in private Bereiche, so erfährt man von einer heiklen Affäre, die aber nie zur Hochzeit führte, stattdessen heiratete er recht spät für damalige Zeiten mit 36 Jahren aber dafür standesgemäss. Man lernt über den Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. in der Kartause, ein Medienspektakel in der damaligen Zeit, der aber in den Lebenserinnerungen von Victor Fehr nicht mehr erwähnt wurde. Wohl auch deshalb, weil die Rolle des Kaisers im 1. Weltkrieg nicht mehr ganz einfach war.
Im letzten Raum der Ausstellung findet sich schliesslich eine Brücke zur Ausstellung im Kunstmuseum. Zu sehen sind dort zwei Porträts, eines von Victor Fehr und eines von seiner Frau Marie. Gemalt wurden die beiden von der bekannten Schweizer Künstlerin Ida Baumann. Sie porträtierte zu jener Zeit viele einflussreiche Persönlichkeiten und hatte unter anderem in der Royal Academy in London studiert (vielleicht dominiert die Liebe für England auch die Wahl der Künstlerin). Die Sommermonate verbrachte sie aber in der Schweiz und bei so einer Gelegenheit scheinen diese Porträts entstanden sein.
Die «Thurgauer Köpfe»
Die Ausstellungen im Kunstmuseum Thurgau und Ittinger Museum laufen noch bis 18. Oktober 2020 in der Kartause Ittingen. Eintritt: 10 Franken.
Geöffnet: Montag bis Sonntag, 11 bis 18 Uhr. Ab 1. Oktober: Montag bis Freitag, 14 – 17 Uhr, Samstag und Sonntage, 11 – 17 Uhr.
Informationen zum Rahmenprogramm gibt es auf der Website des Museums.
Mehr zum Gesamtprojekt «Thurgauer Köpfe» gibt es hier.
Die Besprechungen der Ausstellungen in den anderen kantonalen Museen:
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