von Urs Oskar Keller, 14.04.2025
Auf Tuchfühlung mit Dietrich, Dix und Heckel

Hans Süss, einst Zeichenlehrer am früheren Landerziehungsheim Glarisegg bei Steckborn, erinnert sich an seine ungewöhnlichen Begegnungen mit den Malergrössen. In Schaffhausen hat gerade eine neue Ausstellung über Otto Dix und Adolf Dietrich eröffnet. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Die erste Begegnung mit dem Maler Adolf Dietrich aus Berlingen hatte der Glarisegger Zeichenlehrer und Künstler Hans Süss 1943. Der Journalist Urs Oskar Keller unterhielt sich mit ihm für sein Buchprojekt «Adolf Dietrich – ein Künstlerleben am See» (2002) über seine Beziehung zu seinem berühmten Thurgauer Kollegen und die Besuche bei den Höri-Malern Erich Heckel und Otto Dix.
Rund drei Kilometer Luftlinie voneinander entfernt lebten beide Maler am Bodensee – Adolf Dietrich seit seiner Geburt im thurgauischen Dorf Berlingen, und Otto Dix, von den Nationalsozialisten diffamiert, ab 1936 in Hemmenhofen auf der deutschen Seeseite. «Ihre Motive fanden beide Künstler in den Szenen und Landschaften rund um den Bodensee. Ob sich Dix und Dietrich je besucht haben, ist nicht bekannt, wahrgenommen haben sie sich», steht auf der Webseite des Museums zu Allerheiligen.

Hans Süss, Jahrgang 1927, wuchs in Kemptthal ZH auf und absolvierte nach Primar- und Sekundarschule in Grafstal ZH den einjährigen Vorkurs an der Kunstgewerbeschule Zürich. Bereits während der vierjährigen Grafikerlehre war er als Hörer für Kunstgeschichte an der Universität Zürich eingeschrieben. 1947/48 arbeitete er als Grafiker und Maler in Brüssel, dann in Zürich, wo er als Hilfslehrer für Zeichnen an der Töchterschule II erste Erfahrungen im Unterrichten machte. Er unterrichtete von 1956 bis 1965 Zeichnen und Kunstgeschichte am bekannten Landerziehungsheim und Gymnasium Schloss Glarisegg bei Steckborn am Untersee TG. (1987 entstand mit der neuen Besitzerin die «Stiftung Schloss Glarisegg» eine Waldorf-Internatsschule, die «freie Bildungsstätte Glarisegg». 2001 stellte die Schule den Betrieb wieder ein.)
1966 erwarb Hans Süss das Zeichenlehrerdiplom und wurde zum Hauptlehrer am Seminar Küsnacht ZH gewählt. Ab 1971 führte er an der Ausbildungsklasse für Zeichenlehrer der Kunstgewerbeschule Zürich Übungen zur Unterrichtsgestaltung durch. Vier Jahre amtete Süss als Zentralsekretär der Gesellschaft Schweizerischer Zeichenlehrer. Danach betreute er als Redaktor die Beilage «Zeichnen und Gestalten» der Schweizerischen Lehrerzeitung. Bis zu seiner Wahl zum Vorsteher der Abteilung Gestalterische Lehrberufe 1972 war Hans Süss neben seiner Lehrtätigkeit als Künstler aktiv und in Gruppen- und Einzelausstellungen in der Öffentlichkeit präsent. Er leitete die Abteilung Gestalterische Lehrberufe bis zu seiner Pensionierung 1992.
Süss lebte mit seiner Gattin Kirta Süss-Lienhart (1929-2019) und ihren vier Kindern im Zürcher Stadtkreis Schwamendingen. Dort hatte der Maler auch ein Atelier. Hans Süss starb am 11. September 2005. (uok)
«Im Frühjahr 1943, damals war ich 16 Jahre alt, verbrachte ich eine Ferienwoche bei der Familie Heinrich Dietrich in Berlingen. Gewohnt habe ich bei Adolf Dietrichs Schwägerin Amalya Dietrich in der Absicht den Maler kennenzulernen, dessen Bilder ich bei verschiedenen Verwandten immer wieder begegnete. Es war mein erster Besuch im Haus von Adolf Dietrich. Amalya Dietrich, welche ihm unter anderem die Wäsche besorgte, begleitete mich.
Der Maler sass am Stubentisch und hatte vor sich ein Stillleben mit Seevögeln in Arbeit. Er nahm kaum Notiz von mir ausser, dass nach der Erklärung der Absicht meines Besuches, sich ein stilles Lächeln über sein Gesicht ausbreitete. Ich verbrachte den Tag, ebenso den folgenden, zeichnend und beobachtend am anderen Ende des Tisches sitzend. Wir wechselten wenige Worte während dieser Zeit.
Abends, jeweils nach 18 Uhr kamen zwei, drei oder auch mehrere Nachbarn, setzten sich an den Tisch und begannen nach der Begrüssung ein Gespräch, nicht etwa mit dem Maler, sondern sie unterhielten sich untereinander über Dinge das Dorf betreffend. Ebenso wie sie die Stube betraten verliessen sie diese mit knappem Gruss.

Cézanne war für Dietrich einer der Grössten
Am dritten Tag spürte ich sein zunehmendes Interesse an meinem Besuch. Er wies mich auf seine Bibliothek im Estrich hin, wo einige Bücher noch ungeöffnet gestapelt waren. Vor allem erinnere ich mich an seine farbige, voluminöse Ausgabe über Cézanne, den französischen Maler, den er als einen der grössten betrachtete. So verging diese Woche im Flug, und ich spürte immer stärker, dass er meinen Besuch schätzte, da er mich öfters fragte, wann ich wiederkäme.
Dietrich ruderte vom Ufer hinaus um zu Zeichnen
Einmal waren wir malend und zeichnend mit dem Boot eines Nachbarn auf dem See gewesen. Adolf Dietrich ruderte nicht mehr als zehn Meter vom Ufer hinaus um zu Zeichnen. Es war während des Krieges nur möglich, sich in unmittelbarer Nähe des Ufers zu bewegen. Adolf Dietrich malte an einem Stillleben mit Seevögeln, ich wandte mich mit farbiger Kreide der Abendstimmung zu. Wir haben einander den Rücken gekehrt. Dietrichs Holzgondel drehte sich immer, trotz Gewicht und Ankerkette, denn es hatte niemand von uns gerudert. Wir sind einfach auf dem See draussen gesessen.
In einer dieser Nächte wurde Stuttgart bombardiert. Es war ein beklemmendes Schauspiel mit dem brennenden Widerschein des Himmels im Norden.
Der Besuch hatte mich sehr beeindruckt und beeinflusste, in nicht geringen Masse, neben anderen Aspekten, meine spätere Entwicklung. Letzteres war sicher mit ein Grund, dass mir die Begegnung so bildhaft in Erinnerung geblieben ist.
Der Maler Adolf Dietrich wurde am 9. November 1877 in Berlingen geboren. Kein zweiter Maler im Kanton Thurgau wurde später so populär und hat die Menschen so bewegt wie Adolf Dietrich in Berlingen. Sein Einfluss auf die Kultur des Kantons lässt sich kaum überschätzen. In seiner Biografie war dies nicht unbedingt angelegt: Adolf Dietrich wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Als Hilfsarbeiter musste er sich verdingen, zur Malerei kam er als Autodidakt. Schon als junger Mann suchte Dietrich nach einem Fluchtweg aus seiner Einsamkeit und fand ihn im Malen. Was auf den ersten Blick dem klassischen Muster einer wunderbaren Erfolgsgeschichte zu folgen scheint, war jedoch alles andere als ein zielstrebiger Aufstieg. Er starb in der Nacht vom 4. Juni 1957 allein, wie er gelebt hatte. Adolf Dietrich, zugänglich, leutselig und doch einsam in seiner engen Berlinger Welt, ist ein Solitär, ein einzigartiger Findling in der kargen Thurgauer Kunstlandschaft. (uok)
Ausstellung: Die neue Ausstellung «Otto Dix – Adolf Dietrich: Zwei Maler am Bodensee» zeigt erstmals eine Gegenüberstellung zweier bedeutender Vertreter der Neuen Sachlichkeit: Otto Dix (1891–1969) und Adolf Dietrich (1877–1957). Dauer: 5. April bis 17. August. Mehr auf der Internetseite des Museums.
Literatur zum Thema/Bibliografie: «Adolf Dietrich – ein Künstlerleben am See» von Urs Oskar Keller. Frauenfeld: Huber Verlag, 2002. 256 Seiten, über 100 Fotos. Gebunden. ISBN 3-7193-1288-7. Preis: 48 Franken CHF. Bestellung: info@urs-ok.ch, www.urs-ok.ch, Telefon +41 76 346 97 33.

Besuch mit Erich Heckel bei Otto Dix
1956 wurde ich als Zeichenlehrer an die Internatsschule Schloss Glarisegg bei Steckborn gewählt. Im selben Jahr hatte ich die Gelegenheit den Maler Erich Heckel (1883-1970) in Hemmenhofen am Südhang der deutschen Halbinsel Höri kennenzulernen. Ich besuchte mit Erich Heckel seinen Nachbar, den Maler Otto Dix (1891-1969), der uns schweigend empfing und ebenso schweigend entliess.
Erich Heckel bat mich, nachdem die Rede auf die Schweizer Malerei und somit auch auf Adolf Dietrich kam, diesem seine Grüsse auszurichten und ihm zu sagen, wie sehr er dessen Malerei schätze. Adolf Dietrich, wenige Monate vor seinem Tod (1957), war berührt, dass ein so berühmter Künstler Kenntnis von seiner Malerei nahm.
Schloss und Landerziehungsheim Glarisegg: Prominente Gäste und Zöglinge
Die erstmalige Nennung des Hofes Larusegg lässt sich ins Jahr 1411 zurückverfolgen. 1692 wurde das «guet und schloss glarisegg» zum ersten Mal erwähnt. 1774 liess der in Paris zu Reichtum gekommene Bankier Daniel Labhart das heutige Schlossgebäude nach Plänen von Franz Anton Bagnato erstellen. 1779 machte auch Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe einen kurzen Halt in Glarisegg. Im Jahre 1901, nach einem weiteren kurzen Besitzerwechsel, erwarben Schulreformer Werner Zuberbühler und Wilhelm Frei das Anwesen. Es entsteht das «Landerziehungsheim Glarisegg». Unter den vielen prominenten Zöglingen besuchte auch der Schriftsteller Friedrich Glauser (1896-1938) von 1911 bis 1913 das Landerziehungsheim.
Wladimir Rosenbaum (später Anwalt, Antiquar und Kunsthändler aus Minsk) sowie der Historiker und Diplomat Carl Jacob Burckhardt wurden in Glarisegg unterrichtet. Der Lehrer, Germanist und Schriftsteller Otto von Greyerz gab sogar seine Stelle am Berner Gymnasium auf, um sich in der pädagogischen Provinz als Deutsch- und Englischlehrer engagieren zu können. Er unterrichtete von 1908 bis 1915 in Glarisegg. Von Greyerz war von Anfang an begeistert von seinem neuen Wohnort. «In Glarisegg ist’s immer schön. Auch im Winter. Und so frei und frisch und mutig geht es da zu und her und vorwärts», schrieb 1908 an den Berner Schriftsteller Simon Gfeller. In einem anderen Brief an denselben Freund schwärmt er von seinem Studierzimmer: «Ein gemütlicheres Studierzimmer hat niemand. Hermann Hesse, der gestern da war (er wohnt in Gaienhofen, gegenüber am See), meinte, hier würde er vor Gemütlichkeit gar nicht mehr schaffen.» Einer der ersten Schüler des Landerziehungsheims Glarisegg, Hans Ganz aus Zürich, hat 1913 einen Roman über einen jungen Selbstmörder geschrieben, der zum grossen Teil am Bodensee spielt.
Hans Süss unterrichtete von 1956 bis 1965 Zeichnen und Kunstgeschichte am bekannten Landerziehungsheim und späteren Gymnasium Schloss Glarisegg. Zu seiner Zeit besuchten auch einige Mädchen Glarisegg. Diese kamen von Familien aus dem nahegelegten Steckborn, oder sie waren Töchter von Lehrern. Der Anteil der Internatsschüler war damals unter die Hälfte des Gesamtbestandes gesunken und ging weiterhin zurück. Die Eröffnung der Kantonsschulen Kreuzlingen und Romanshorn führte dazu, dass keine externen Schüler mehr eintraten.
Der Glarisegger Zeichenlehrer Hans Süss sagte 2002: «Ich war vorher Klassenlehrer einer Klasse von zwölf Schülern von denen vier aus Eschenz, zwei aus Steckborn und einer aus Stein am Rhein kamen. Die Schule musste Mitte der 1970er-Jahre schliessen. Die Schliessung der Schule hatte politische und emotionale Folgen. Für die damals betroffenen Lehrer und Angestellte ist das bis heute schwer nachvollziehbar. Um das Interesse für Neueintretende und auch für Externe zu wecken, wurde zur Zeit meines Eintrittes der Name Landerziehungsheim in Gymnasium Schloss Glarisegg geändert.» (uok)
Das Kauzige stand für sie im Vordergrund
Mit Erstaunen habe ich später festgestellt, dass innerhalb seiner Familie und Teilen seiner Verwandtschaft Adolf Dietrichs Arbeit nur am Rande und nie in ihrer Bedeutung wahrgenommen wurde. Das Kauzige an ihm stand für sie im Vordergrund, und man hielt es für unmöglich, in der Familie einen bedeutenden Künstler zu haben.
Eine Ausnahme bildet unter anderen Walter Bosshart in Oberwangen TG [Anm.: dieser kommt ausführlich im Dietrich-Buch vor], der sich eingehend und kompetent um den Familiennachlass der Dietrichbilder kümmert. Seine Erinnerungen sind wahrscheinlich vielfältiger, denn seine Eltern besassen unter anderem eines der bedeutendsten Bilder, die Nachtlandschaft am See, die ,Mondscheinlandschaft‘ von 1930.»

Quelle: Gespräche und Korrespondenz mit Hans Süss, 2001-2002 und seiner Gattin Kirta Süss-Lienhart sowie mit Walter Bosshart, Oberwangen TG, Cousin von Hans Süss, 2001 und 2025. Die aktuelle Ausstellung: «Otto Dix – Adolf Dietrich. Zwei Maler am Bodensee» im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen. Aus aktuellem Anlass: Ausstellung «Otto Dix – Adolf Dietrich. Zwei Maler am Bodensee», Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen. Vom 4. April bis 17.August 2025

Von Urs Oskar Keller
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