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von Judith Schuck, 21.11.2023

Das Leben in Szene gesetzt

Das Leben in Szene gesetzt
Bei den Dreharbeiten zum Film über Adolf Dietrich (1991). Und Porträtfoto von Friedrich Kappeler vor Robert Zünde Eichenwald im Kunsthaus Zürich 1989 | © Doris Fanconi/Yvonne Griss

Bilder, die uns berühren: Das Werk des Frauenfelder Filmemachers Friedrich Kappeler ist digitalisiert. Zum Gedenken an den verstorbenen Künstler zeigt das Cinema Luna eine Retrospektive. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

In der ersten Sequenz schauen wir über die Schultern eines Fotografen. Er ist gerade dabei, eine Familie vor ihrem Haus zu portraitieren. An der Mode erkennen wir sofort die 1980er Jahre. Wir müssen schmunzeln, denn die Situation kommt uns so vertraut vor, diese Mischung aus nett lächeln für die fröhliche Einigkeit auf dem Foto bei gleichzeitiger Ungeduld, wann diese Schau endlich vorbei ist.

„Der schöne Augenblick“ ist ein Dokumentarfilm über die Geschichte der Fotografie, die uns der Frauenfelder Dokumentarfilmer und Fotograf Friedrich Kappeler und sein Kameramann Pio Corradi auf sehr nahbare, geistreiche und humorvolle Art nachzeichnen. 

„Fritz hätte sich gefreut, dass so viele Leute hier sind, um zu feiern, dass sein Werk jetzt digitalisiert ist.“

Christof Stillhard, Leiter des Kulturamt der Stadt Frauenfeld

Im vergangenen Herbst, am 3. Oktober 2022, verstarb Friedrich Kappeler im Alter von 73 Jahren. Bis auf seine Lehr- und Wanderjahre verbrachte er sein Leben in der Heimat, in Frauenfeld. Sein enger Begleiter auf dem Weg durch die Filmwelt war Pio Corradi, Kameramann und Fotograf aus Zürich. Mit ihm arbeitete Kappeler viele Jahre eng zusammen. Auch Corradi ist inzwischen gestorben. 

Kappeler war bekannt für seine poetischen Portraits, darunter der Berlinger Maler Adolf Dietrich oder, sein erfolgreichstes Werk, die Doku über den Liedermacher Mani Matter. Beiden Portraits gemein war, dass sie nach dem Tod der Künstler entstanden.

 

Christof Stillhard, Ueli Nüesch und Paul Avondet im Cinema Luna. Bild: Judith Schuck

98’000 Franken aus dem Lotteriefonds

Was am Freitagabend im Frauenfelder Cinema Luna gefeiert wurde, schuf Kappeler teils zusammen mit Corradi zwar zu seinen Lebzeiten; die Fertigstellung der mit 98’000 Franken aus dem Lotteriefonds finanzierten Digitalisierung konnten sie aber nicht mehr miterleben. 

„Fritz hätte sich gefreut, dass so viele Leute hier sind, um zu feiern, dass sein Werk jetzt digitalisiert ist“, sagt Christof Stillhard, Leiter des Digitalsierungsprojekts bei der Präsentation der neueditiert, restaurierten und remasterten Filme von 1972 bis 2007. 

In der siebenteiligen DVD-Box sind enhalten: „Es Hundeläbe“, „Emil Eberli“, „Müde kehrt“, „Ein Wanderer zurück“, „Der andere Anfang“, „Stolz oder Die Rückkehr“, „Der schöne Augenblick“, „Wald Adolf Dietrich – Kunstmaler 1877–1957“, „Varlin“, „Mani Matter –Warum syt dir so truurig“, „Dimitri – Clown“ sowie „Gerhard Meier – Das Wolkenschattenboot“.

 

Insgesamt 19 Kilometer Filmmaterial wurden restauriert

Friedrich Kappeler arbeitete zeitlebens analog. Zum einen, weil er mit analogen Techniken in die Foto- und Filmwelt hineinwuchs; zum anderen, weil er die Ästhetik des Körnigen so sehr liebte. Paul Avondet und Ueli Nüesch, die das Material restaurierten, erklären dem Publikum anhand eines Beispiels, welche Herausforderungen sie bei ihrer Arbeit zu bewältigen hatten: „Die Filme gingen durch verstaubte Räume, Labore oder waren nicht sachgemäss eingelegt worden.“ Dadurch, so Avonde, seien mechanische Schäden wie Kratzer entstanden. 

Für die Bearbeitung der insgesamt 1,2 Millionen Bildern, die sie im Zusammenhang mit der Digitalisierung von Kappelers Werk vor sich hatten, nutzten sie eine Automatisierungssoftware, die grobe Schäden beheben kann. Wenn allerdings Regen oder Schnee gefilmt worden sei, habe die Software dies als Fehler erkannt. Es stecke viel Handarbeit dahinter und es sei eine Kunst, das am Ende richtig zu restaurieren, sagt Avonde.

Die Schwierigkeiten mit dem Ton

Sein Kollege Ueli Nüesch hingegen suchte drei Monate nach dem Ton für das Mani Matter-Portrait. „Bilddateien sind viel fassbarer als Ton. Er ist aber ebenso wichtig. Im Falle Mani Matters, ein Musikfilm, wäre der Verlust eine Katastrophe gewesen“, so Paul Avonde. 

Und Ueli Nüesch ergänzt mit einem Augenzwinkern: „Der Fritz hatte nicht so eine grosse Ordnung.. Ich führte x Telefonate, dass er in seinem Keller nach seinem Zeugs suchen soll.“ Dennoch arbeiteten sie sich erfolgreich durch eine Materialfülle von 19 Kilometern Film.

 

Auf dem Set von "Der schöne Augenblick": Richard Aschwanden belichtet ein Negativ mit der Grossformatkamera (1985). Bild: Friedrich Kappeler

Ohne Teamarbeit wäre es nicht gegangen

Zum Auftakt der Retrospektive sehen die Anwesenden ebendiese lehrreiche, poetische und humorvolle Archäologie des Lichtbildes. Der Produzent von „Der schöne Augenblick“, Hans-Ulrich Schlumpf, ist anwesend und sagt etwas zur Entstehungsgeschichte, des im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde in Basel gedrehten Films. 

„Die Idee war, weg von den ewigen ländlichen Themen und Bauernfilmen. Wir wollten etwas moderner werden.“ Schlumpf war damals Leiter der Gesellschaft für Volkskunde. Der Film vom Kappeler und Corradi sei eine seiner schönsten Arbeiten gewesen. „Ich möchte Pio Corradi deutlich hervorheben, denn ich weiss, welche Bedeutung er für Fritz hatte.“

Enge Verbindung der beiden Filmemacher

Und man spürt diese Verbindung der beiden Filmemacher, die befruchtende Synergie. Beim Betrachten des Filmes können wir förmlich miterleben, welche Freude die Beiden bei ihrer Arbeit gehabt haben müssen.

Obwohl ein Aufkärungsfilm, ist er inszeniert im Sinne des Cinéma vérité. Im Gegensatz zum Direct Cinema, bei dem der Dokumentarfilmer möglichst objektiv die Kamera auf die aktuellen Geschehnisse hält und diese im Grunde begleitet, rekonstruiert das Cinéma vérité die Wirklichkeit, inszeniert also, was war.

Der See veschluckt die alte Technologie

In „Der schöne Augenblick“ sind wir ganz nah an den Menschen und glauben uns oft mittendrin im Geschehen, weil die Menschen, denen wir begegnen so nahbar, mit hoher Sensibilität und Respekt für ihre ureigene Persönlichkeit dargestellt werden. Gleichzeitig haben die Ereignisse manchmal etwas von einem Spielfilm. Zum Beispiel, wenn der Zürcher Strassenfotograf Jean Amrein mit seinen Filmpaketen beladen einen Fussgängerstreifen quert. 

Wie die Kamera die sich rasant nahenden Autos kadriert baut eine Dramaturgie auf, dass ein Raunen durch die Zuschauerreihen geht. Oder als dem Altdorfer Fotografen Richard Aschwanden seine Kamera über die Ballustrade der Gallerie in den Vierwaldtstätter See fällt; die Zeitlupe beim Fall und die Gestiken des Entsetzens sind nicht die abgebildete, sondern erinnerte und gefühlte Wirklichkeit. 

Und wir alle fühlen im Kinosaal mit Aschwanden mit, spüren den Verlust, der gleichzeitig symbolisch für den Verlust und das Aussterben alter Technologien steht, die von neuren abgelöst werden.

 

Auf dem Set zum Adolf Dietrich-Film: Friedrich Kappleler im Gespräch mit Heinrich Dietrich, dem Neffen von Adolf Dietrich, 1990. Bilder: Yvonne Griss

Erinnerungen der Schwester Simone Kappeler

Simone Kappeler, Thurgauer Fotografin und Schwester von Friedrich Kappeler, erinnert sich am Abend im Cinema Luna an ihre Kindheit mit dem Bruder. Ihr Vater, ein Ledergerber, sei Filmfreak gewesen. Er habe die beiden Geschwister oft mitgenommen ins damalige Scala-Kino in Frauenfeld. 

„Der Mann an der Kasse hat immer etwas komisch geschaut, weil die Filme eigentlich nicht für Primarschüler:innen geeignet waren“, sagt sie. Aber der Vater war zu angesehen in Frauenfeld, als dass er ihm den Zutritt für die Kinder hätte verweigern können. Fritz und sie kamen schon früh in Kontakt mit den italienischen und französischen Autorenfilmen.

Das Spiel mit den Bedeutungen 

Dieser Einfluss zieht sich sowohl inhaltlich wie ästhetisch durch Kappelers Werk. Es ist der italienische Neorealismo, der uns die einfachen Menschen und ihre Geschichten so nahe bringt. Und die lakonische, sexy Erzählweise der Nouvelle Vague Filmer, die mit Referenzen, Lücken und Symbolen arbeitet. 

Beispiel: In „Der schöne Augenblick“ zieht eine Mönchs-Prozession durch den Ort. Wie bei einer Leseschlaufe, bei der nach und nach die Buchstaben ersichtlich werden, gewährt uns der vorbeiziehende Menschenzug den Blick auf die Klostermauer, auf der steht: „Wir sind wieder da.“ 

Der humoristische Überraschungseffekt ist nicht nur der Satz in Bezug zu den Kirchenmenschen, sondern dass das A von „da“ als Symbol für Anarchismus auf die Wand gesprüht wurde.

Wer Lust hat, in diese feine, witzige Bilderwelt einzutauchen, bekommt mit der Retrospektive von Friedrich Kappeler im Cinema Luna, die am 17. November startete, Gelegenheit.

 

Stolz: Walter Wefel und Yves Jansen vor der Zehntenscheune in Diessenhofen. Bild: Hans-Ulrich Schlumpf

 

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