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von Judith Schuck, 25.03.2025

Allem Anfang wohnt, ja, was eigentlich inne?

Allem Anfang wohnt, ja, was eigentlich inne?
Zwischenweltwesen in grünes Licht getaucht, gesichtslos. | © Radoje Markovic

Schlürfen, Wabern, Kriechen. So fängt das Leben an. Eine eigene Interpretation der Entstehungsgeschichte ist die Performance „Zwischenweltwesen“ von Micha Stuhlmann in Kooperation mit dem Kreuzlinger Apollo. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Frühlingsanfang. Ein gutes Datum, sich des Lebens und seiner immerwährenden Metamorphosen bewusst zu werden. Als Frühlingserwachen angekündigt ist die Performance „Zwischenweltwesen“ von Micha Stuhlmann, die am 21. März Premiere im Kulturhaus Apollo feiert.

Eine lange Eintrittsschlange bildet sich vor dem Eingang. Denn in den Saal darf jede:r nur einzeln eintreten. Im Vorraum sind drei Personen, die rhythmisch zischende Schnalzlaute von sich geben und einem etwas Feuchtes auf die Stirn tupfen. Dann geht es durch einen schillernden Lamettavorhang in den Saal. Der Initiationsritus ist vollbracht, die Schwelle in einen neuen Zustand übertreten.

Die Irritation des Anfangs

Orientierungslosigkeit, neugierige Erwartung, Freude, dass es endlich losgeht, Unsicherheit. Das sind die Gesichtsausdrücke der Eintretenden. Dass es diese Vielzahl an Reaktionen gab, kann im Verlauf des Abends anhand einer Videoprojektion nachvollzogen werden, denn Kameramann Till Schneider nimmt jede einzelne Mimik auf, um sie später als Grossaufnahme an die Wand zu werfen. Den Platz bekommen alle höchstpersönlich von Regisseurin Micha Stuhlmann zugewiesen.

Erst auf den zweiten oder gar dritten Blick fällt auf, dass unter den Stühlen, auf dem Boden, auf der Rampe Menschen liegen. Ungewohnt, ein reglos daliegendes Wesen unter dem Stuhl, zwischen den Beinen zu haben. Ungewohnt ist auch das grüne Licht, dass den ehemaligen Kinosaal und alle und alles, was sich darin befindet, begrünt.

 

Initiationritus vor dem Eintritt in den Saal. Bild: Radoje Markovic

Das reine Bewusstsein ist überall

Der Soundkünstler Oliver Schmid eröffnet mit Micha Stuhlmann, die ihren Text vorliest: eine abgewandelte, von Religion befreite Variante der Genesis. Nicht Gott, sondern das reine Bewusstsein ist überall. Fauchen, Schlürfen und Zischen und die reglosen Wesen kriechen aufs Zentrum zu, schwer am Boden haftend, mit viel Mühe. Einzeller, die sich zu einer Morula verbinden, einem Zellverbund, der Anfang komplexerer Lebensformen.

Wer die Performances von Micha Stuhlmann kennt, weiss, dass sie an den Ursprüngen forscht. Entstehen und Vergehen, Ritus und Elemente werden immer wieder neu thematisiert und auf sinnliche, aber auch geistige Weise wahrnehmbar. Während Chronik eines Aussterbens, eine Performance auf einem Parkdeck in Tägerwilen im Sommer 2022, sehr archaisch anmutete, arbeitete sie in ihrer Soloperformance Ich esse deinen Schatten auf eine eher digestive Art mit der Existenz, dem Körperlichen, dem Sein.

 

13 Performer:innen auf der Jagd zu Live-Musik von Oliver Schmid. Bild: Radoje Markovic

Live-Musik führt durch die Performance

Uneindeutige Inhalte, die viel Raum für eigene Assoziationen und Gefühle lassen, das Alltägliche und dessen Einflüsse fortschieben, um an das Wesentliche, Ursprüngliche, Unendliche heranzukommen. Live-Schlagzeug und Percussion sowie elektronische Kreationen des Zürcher Musikers Oliver Schmid untermalen oder leiten die Performance der 13 Zwischenweltwesen und das gelesene Wort von Micha Stuhlmann.

Wie die sieben Tage, an denen Gott die Welt schuf, ist die Performance in sieben Bilder strukturiert: Geburt, Differenzierung, Zwischenweltwesen, Ahnenberg, Ritual, Trauma und Ort des Bewusstseins.

Die Darstellenden sind in helle Erdtöne gekleidet, bewegen sich mal wabernd, mal zuckend, mal kauern sie sich ein. Dann geht es wieder los. „Immer währende Bewegung in der Unendlichkeit“, ertönt die Stimme von Micha Stuhlmann, „die Evolution hat zugepackt“, „das Menschengeschlecht schuf das Sterben im Geist. Wie einfach hätte es sein können.“ Und weiter: „Das Leben lernt“. Und die Wesen lernen auch und entwickeln sich weiter.

Sie gehen in Beziehung zueinander, geben Töne und Geräusche von sich, bald schon Sprache und dann erzählen sie von ihrer Grossmutter – Ahnenberg. Gedächtnis, Überlieferung. Die Erinnerung an Grosis legendäre Spaghetti mit Tomatensosse hallt durch den Raum und lässt das Publikum kurz auflachen – ein vertrautes Bild aus unserer Zeit.

 

Rituelle Bemalung. Bild: Radoje Markovic

Wummern und Wellen

Je weiter der Abend fortschreitet, desto tiefer wird das Verständnis für das, was hier geschieht. Es geht darum, sich einzulassen, zu spüren, zuzulassen. Wummernde Sounds, Wellenbewegungen, die „vollkommene Symbiose“, als sich plötzlich alle Zwischenweltwesen im Kreis einfinden, sich an die Hand nehmen.

Gegenseitig bemalen sie ihre Gesichter mit weisser Farbe und stampfen rhythmisch auf den Boden. In rasanter Beschleunigung werden die Bewegungen intensiver, bis zur Extase. Darauf folgt die Erschöpfung. Jean Rouche, Les Mâitres fous. Die Erinnerung an die ethnografische Dokumentation eines Trance-Ritus im Niger aus dem Jahr 1955 kommt in den Sinn.

Bewusstseinserweiterung ist ein weiteres Thema der Performance. Gemeinsames, rhythmisches Atmen soll hier als Technik dienen, um in einen anderen Zustand zu wechseln. Die Grenzen von Innen und Aussen lösen sich auf wie bei einem LSD-Trip – die Wesen berühren sich sanft, scheinen sich im anderen zu erkennen und nehmen sich eine nach dem anderen in sanfter Bewegung auf den Rücken für einen kurzen Moment der Verschmelzung.

Video: Rückblick auf Chronik eines Aussterbens (2022)

Die Reise ins Innere endet mit Applaus

Der Applaus des Publikums bestätigt, dass es den 13 Performer:innen, Oliver Schmid und Micha Stuhlmann gelungen ist, die Menschen im Saal mitzunehmen auf eine Reise ins Innere, hin zum Entstehen, und auch wenn es dazu gehört, weniger zum Vergehen.

„Es ist kein Düsterstück“, sagt Micha Stuhlmann selbst über Zwischenweltwesen, es feiert die Entstehung, die Erneuerung. Eingestimmt auf den Frühling, das Aufblühen
 der prallen Knospen, das zarte Erwachen der Blüten, das Schwirren und Summen der Insekten, lassen sich einige aus dem Kreis der Zuschauenden – denn eine Bühne gibt es nicht – einladen zum Frühlingsfest mit Tanz und Speis und Trank.

Andere nehmen das Erlebte und Gefühlte mit auf den Nachhauseweg. Nicht alle zieht es auf die Tanzfläche, in die Menge. Ein intensives Erlebnis, bei dem nicht alle in Symbiose verschmelzen und am Ende des Rituals die Innen- vielleicht auch wieder ein wenig Schutz vor der Aussenwelt bedarf, zurück im Hier und Jetzt.

 

Glückliche Regisseurin Micha Stuhlmann an der Premiere. Bild: Radoje Markovic

 

Das Ensemble und eine weitere Aufführung

Performer:innen:
Anja Dilthey, Amélie Kroneis, Albrecht Stuhlmann, Andrea Pfister, Heike Torres, Malin Ulke, Margarita Vogelyte, Simon Lehner, Susanne Heinzelmann, Myriam Scheidegger, Samuel Mosima, Thomas Kessler, Verena Hugentobler

Weitere Vorführung im Apollo Kreuzlingen: 4. April, 19.30 Uhr. Türöffnung: 19 Uhr, frühes Eintreffen empfohlen.

 

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