von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 02.02.2025
Von Wölfen und Menschen
Wer ist hier jetzt die Bestie? Beat Oswalds neuer Film „Tamina“ ist eine grandiose Parabel auf unsere Zeit. Am 4. Februar stellt er den Film im Cinema Luna vor. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Manchmal muss man nur in die Nachrichten blicken, um die Relevanz eines Themas zu erkennen. 5. April 2024: Wolf reisst in Dussnang drei Alpakas. 30.November 2024: 39 Wölfe in wenigen Wochen getötet. 28. Januar 2025: Wolf nähert sich Bub – nur dank Glück greift er nicht an. 30. Januar 2025: Totgebissenes Damwild in Bad Sobernheim - es war ein Wolf. Diese Liste liesse sich beliebig fortführen.
Die Beziehung zwischen Wolf und Mensch ist, nun ja, kompliziert. Das hat viel mit der Prägung durch Märchen und Schauergeschichten zu tun. Es ist aber auch sonst eine seltsame Mischung aus Faszination und Furcht: Der Wolf als ein Stück ungezähmter Natur zieht uns gleichermassen an wie er uns abstösst.
Dem Frauenfelder Filmemacher Beat Oswald geht das ganz ähnlich. Seit Jahren beschäftigt er sich mit dem Thema. Was ihn dabei besonders interessierte - der Konflikt um den Wolf als Metapher dafür, wie wir mit Herausforderungen in unserer Gesellschaft umgehen. Jetzt kommt sein Film „Tamina - wann war es immer so?“ in die Schweizer Kinos. Im Thurgau am 4. Februar im Cinema Luna, im Roxy Romanshorn am 27. Februar.
Nach «Golden Age» ist es der zweite Kinofilm des Regisseurs. Fünf Jahre lang hat Oswald an «Tamina» gearbeitet, dreieinhalb Jahre lang war der Regisseur jeden Monat mindestens einmal mit seinem Kameramann Samuel Weniger im Taminatal (zwischen den Kantonen St. Gallen und Graubünden), um zu drehen und den Wolf zu suchen.
Video: Trailer zu „Tamina“
In der Schweiz darf man auffällige Wölfe töten
In all den Jahren hat das Thema an Aktualität nie verloren. In der Schweiz gilt seit 1. Februar 2025 ein neues Jagdgesetz, das den Kantonen unter Auflagen erlaubt Wölfe zu töten, die auffällig geworden sind. Auch in der Europäischen Union läuft die Debatte, der Europarat hat den Schutzstatus des Wolfes gesenkt, auch der Ständige Ausschuss der Berner Konvention hat am 3. Dezember mehrheitlich dafür gestimmt, den Schutzstatus des Wolfs herabzusetzen. Naturschutzverbände protestieren gegen die Pläne.
Diese gesetzliche Ebene schwingt in „Tamina“ aber nur am Rande mit. Regisseur Beat Oswald will mit seinem Film eine andere Geschichte erzählen. Sein Fokus liegt auf all den Widersprüchen, die wir uns beim Thema Wolf leisten und was das vielleicht ganz grundsätzlich darüber aussagt, wie wie mit Herausforderungen im 21. Jahrhundert umgehen.
Oswald will auch Bewegungen beschreiben vom Kommen und Gehen, von Stillstand und Beschleunigung, vom Zerstören und Aufbauen. Dazu muss man vielleicht wissen: Der Wolf war in der Schweiz seit 1871 offiziell ausgestorben. Erst 1995 wurde wieder ein Tier hier gesichtet. Inzwischen hat sich der Wolf exponentiell verbreitet. Aktuell leben laut der Stiftung Raubtierökologie und Wildtiermanagement (Kora) 35 Rudel in der Schweiz.
Mit Mahler in den Abgrund
„Tamina“ startet poetisch. Man sieht den Sonnenaufgang in den Bergen in Zeitlupe, dann fallendes Geröll und schliesslich einen Strudel in den man als Zuschauer unweigerlich hineingezogen wird, die Kamera kreist immer tiefer und tiefer in den Abgrund hinein. Kein schlechter Einstieg für eine Geschichte, die einen tatsächlich so schnell nicht mehr loslassen wird.
Musikalisch unterlegt ist das Ganze von Gustav Mahlers „Lied von der Erde“. Darin heisst es unter anderem: „Wenn der Kummer naht, Liegen wüst die Gärten der Seele, Welkt hin und stirbt die Freude, der Gesang. Dunkel ist das Leben, ist der Tod“ Damit ist der Ton deutlich gesetzt.
Beat Oswald (Bild: Florian Schweer) wurde am 28. Mai 1982 in Frauenfeld geboren. Seine Kindheit und frühe Jugend verbrachte er in Aadorf. Sein Elternhaus stand gleich am Waldrand und die meiste Zeit seiner Freizeit verbrachte er im Wald. Der Wald war der Raum für alle Formen von Gefühlen und Aktivitäten. Oswald schrieb sich an der Universität Zürich ein, um Ethnologie und Publizistik zu studieren. Nach dem Studium erfolgte ein erster Ausflug als Teil einer Filmcrew nach Grönland. Dieser Ausflug war schliesslich der Grund, weshalb Oswald sich entschied, Filme zu machen. „Die Art und Weise, wie sich einem die Welt öffnet, wenn man in voller Konzentration als Suchender durch sie wandelt, dies war und ist der Grund weshalb ich Filme mache“, sagt der Regisseur. Oswald brachte im Jahr 2019 «Golden Age» als Erstlingswerk ins Kino, eine Beobachtung und Reflexion über das Leben im Ruhestand.«Tamina – Wann war es immer so?» ist Oswalds zweiter Kinofilm. Beat Oswald ist Präsident des Vereins «Frauenfelder FilmfreundInnen», dem Trägerverein des Cinema Luna. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern, und lebt zusammen mit seiner Familie, sechs Hühnern, zwei Katzen und einem Hund in Frauenfeld.
Im weiteren Verlauf des Films folgen wir dem Erzähler (gesprochen von Giuseppe Spina) auf seiner Suche. Der im Wald nach dem Wolf. Und der in seinem Kopf nach Antworten. Dabei trifft er auf ganz verschiedene Menschen. Bewohner:innen aus dem Taminatal, die sich Sorgen machen, ob der Wolf denn wirklich so nah am Dorf leben müsse.
Kurz zuvor hatte ein Wolf einen Hirsch direkt neben dem Schulhaus gerissen. Der Anblick dürfte für viele Kinder verstörend gewesen sein. Zu Wort kommen auch ein Jäger, eine Familie, die ein Hotel im Tal betreibt, Schülerinnen, die als Problemkinder gelten und in einem Internat in der Nähe leben, sowie eine Gruppe von Tourist:innen, die sich selbst auf Wolfssuche begeben.
Worum es dem Regisseur geht
Dabei interessiert sich der Regisseur Beat Oswald weniger für die einzelnen Personen als mehr für das, für was sie stehen. Die sorgenvollen Dorfbewohner:innen, der Jäger, der um die Wildbestände fürchtet, die Problemschüler:innen, die vielleicht auch wild sind wie ein Wolf und deshalb gesellschaftlich gezähmt werden sollen und die Tourist:innen, die vehement für den Schutz des Wolfes eintreten, aber nie die Konsequenzen ihrer Haltung tragen müssen, weil sie in keinem Wolfsgebiet leben.
Hier liegt eine der Kernbotschaften von „Tamina“: Reden wir in Teilen der Gesellschaft vielleicht zu leichtfertig über Themen zu denen wir keinen existenziellen Bezug haben? Es ist natürlich viel leichter für den Schutz des Wolfes zu sein, wenn das eigene Leben davon nicht berührt wird.
Der Film funktioniert auf vielen Ebenen
Diese Geschichten sind Stellvetreter-Geschichten. Sie sollen über den Einzelfall hinausweisen und das grosse Ganze zeigen. So schafft Beat Oswald erzählerisch eine Metaebene, die in beide Richtungen funktioniert. Für den Einzelfall. Aber auch für das grosse Ganze. Das ist ziemlich klug, weil es den Film auf verschiedenen Ebenen zugänglich macht.
Die filmischen Kniffe, die eindrucksvollen Bilder, der stimmige Einsatz von Musik als erzählerisches Mittel (verantwortet von Clinton Haycraft), die ganze Ästhetik von „Tamina“ tragen ebenso dazu bei. Man kann den Film als Naturdoku anschauen und sich von der beeindruckenden Bergkulisse bezaubern lassen. Man kann ihn aber auch mit all seinen Metaebene als interpretatorisches Spiel verstehen aus dem jeder Zuschauer für sich schlau werden muss.
Referenzen an den Horror-Klassiker „Blair Witch Project“
Vielfältig ist der Film allemal. Nah- und Fernsicht wechseln ständig, der Zoom geht auf und zu, beeindruckende Drohnenaufnahmen folgen auf Porträtaufnahmen. Schnelle Sequenzen reihen sich an Zeitlupen. Mal folgt man dem Erzähler durch die Landschaft und blickt gewissermassen durch seine Augen, inklusive schneller Schwenke auf der Suche nach Wolfsbewegungen im Dickicht des Waldes, auf die Welt. Mal erinnern Szenen an die Bildersprache des Horror-Klassikers „Blair Witch Project“: Im Dunkeln auf der Suche nach den Monstern des Waldes.
Spannend ist, wie Beat Oswald Erwartungen auch immer wieder durchbricht. Zum Beispiel als er mit derselben Nachtsichtkamera nicht nur durch den Wald, sondern auch durch eine Ausstellung ausgestopfter Tiere läuft. Die Fragen, die der Film erzählerisch stellt, stellt er auf anderer Ebene auch visuell.
Vielleicht ist „Tamina“ am Ende auch deswegen so überzeugend, weil es in sich stimmig wirkt, obwohl er Widersprüche zulässt. Eine der vielen Stärken des Films ist, dass er sich nicht gegenüber seinem Publikum erhöht, sondern der Erzähler selbst mit all seinen Zweifeln und inneren Konflikten hörbar wird. „Ich verzeihe mir ziemlich viel, drücke die Augen zu, wenn es um mich geht, bin ja nur ich“, kommentiert er an einer Stelle seine eigene, aber auch sonst recht weit verbreitete Scheinheiligkeit unserer Gesellschaft.
Kamera und Co-Regie: Samuel Weniger
Schnitt und Co-Regie: Lena Hatebur
Musik: Clinton Haycraft
Ton: Jingle Jungle, Robert Büchel
Produktion: Beat Oswald (Conobs GmbH)
Samuel Weniger
Film Werkstatt Stillhard
Sprecher: Giuseppe Spina
Schnittassistenz: Gina Calamassi
Color Grading: Hannes Rüttimann
Antworten? Will der Film eher nicht geben
Allerdings: Wer Antworten von dem Film erwartet, der wird enttäuscht sein. Beat Oswalds „Tamina“ gleicht eher einer grossen Suche. Nicht nur nach dem Wolf, sondern ganz allgemein nach unserem Verhältnis zur Natur und letztlich auch zu uns selbst. „Ist der Mensch vielleicht des Menschen Wolf?“, heisst es an einer Stelle und da ist man dann ziemlich nahe am Kern von Oswalds Anliegen. „Es geht um die Dynamik von Veränderungen, Reaktionen auf Veränderungen, Versprechen und Ängste, die mit Veränderungen einhergehen“, hat der Regisseur in einem Interview vor vier Jahren mit thurgaukultur.ch mal gesagt.
Letztlich ist „Tamina“ ein grosses Plädoyer für mehr Empathie in unserer Gesellschaft. Oder präziser gesagt: Ein Aufruf zu mehr Ambiguitätstoleranz. Also der Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen anzunehmen. Oswald ist ein Verfechter des Sowohl-als-auch und der Grautön, starke Meinungen sind ihm eher suspekt. Er ist ein Grübler und das führt er in „Tamina“ exemplarisch vor.
Wie können wir über etwas entscheiden, das wir nie selbst erlebt haben? Muss eigenes Erleben immer Grundlage von Handeln sein? Und falls die Antwort darauf „Ja“ lautet - was bedeutet das für eine repräsentative Demokratie und unser Verständnis von Politik und unserem Miteinander? Beat Oswalds Film stellt sehr grosse Fragen. Aber er bietet auch eine versöhnliche Haltung als Lösung an. Sie könnte in etwa so klingen: Du kannst nicht einfach machen, was du willst. Also du kannst es natürlich schon, aber du musst dir immer bewusst sein: Alles was du machst, hat Auswirkungen auf die Gemeinschaft.
Schlusspointe nicht verpassen!
„Tamina“ wird so zum filmischen Essay, zur erzählerischen Parabel, in der der Wolf letztlich nur eine Metapher ist für alle möglichen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Aber eine aus der man lernen kann, wie wir es in Zukunft besser machen können. Ach und an alle, die es gerne eilig haben: Die Schlusspointe des Films unbedingt abwarten. Erst sie macht den Film komplett. Manchmal sucht man sehr lange, ehe man am Ende selbst gefunden wird.
Kinostart, Festivals und TV
Offizieller Kinostart von „Tamina - wann war es immer so?“ (Dokumentarfilm, 105 Minuten) ist in der Deutschschweiz am Donnerstag, 6. Februar. Im Frauenfelder Cinema Luna ist der Film bereits am Dienstag, 4. Februar, 19:30 Uhr, zu sehen. Regisseur Beat Oswald ist anwesend für ein Filmgespräch. Im Roxy Romanshorn wird der Film ab 27. Februar zu sehen sein. Der Film wird irgendwann ab der zweiten Jahreshälfte auch im SRF gezeigt.
Festivalteilnahmen
55. Visions du Réel (Nyon): Burning Lights Wettbewerb
2024 Mountain Film and Book Festival (Banff, Kanada): Offizielle Selektion
60. Solothurner Filmtage: Wettbewerb Visioni
Weitere Beiträge von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter
- Sehen und gesehen werden (29.01.2025)
- Die Angst vor dem Anderen (21.01.2025)
- Grenzenlose Werkschau im Freien (09.01.2025)
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