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von Judith Schuck, 12.05.2025

Der Kunst beim Wachsen zusehen

Der Kunst beim Wachsen zusehen
Andrea Fortmann führt mit Geschichten durchs Quartier | © Judith Schuck

Die erste Ausgabe des Festivals der Vorgärten feierte seine erfolgreiche Premiere im Arboner Bergli-Viertel: Beim Streifzug durchs Quartier wurden die Grenzen von Privat- und Allgemeingut aufgeweicht und zeitgenössische Kunst im Garten aufgeführt. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Runde Blumenrabatten mit Lilien und anderen Blüten und Stauden bilden mit dem sorgfältig geschnittenen Rasen und einer mit Steinplatten unterlegten Sitzecke eine geometrisch wohlgeformte Gartenanlage. Es dämmert bereits, aber was den Eintretenden schnell ins Auge sticht, sind Fremdkörper in dieser gestalteten Natur.

Einige Pflanzen sind in Christo-Manier eingehüllt, in Luftpolsterfolie. Unter einem grossen Baum spannt sich wie eine zarte, milchige Haut ebenfalls eine Plastikfolie, wie eine Nebelschwade, viel zu fragil, um als Hängematte genutzt zu werden. Sabine und Roger Ammann aus dem Bergli-Quartier in Arbon haben ihren Garten für eine Performance der Multimedia-Künstlerin Lyn Bentschik zur Verfügung gestellt.

 

Verhüllte Blüten beim Festival der Vorgärten. Bild: Judith Schuck

Künstler:innen arbeiten vor Ort

Der Abend vom 10. Mai ist die Premiere des Festivals der Vorgärten, eine Idee des Zürcher Künstlers San Keller, der das Projekt gemeinsam mit der Thurgauer Künstlerin Anna von Siebenthal sowie dem Kunstraum Kreuzlingen durchführt. Die Idee belegte zunächst lediglich Platz 3 bei der Ausschreibung „Ratartouille“ der Thurgauer Kulturstiftung, fand aber nun doch noch ihren Weg in die Umsetzung.

Private Vorgärten sollen zur Bühne werden, Begegnungen zwischen Bevölkerung und Kunstschaffenden an einem Ort stattfinden, der die Übergangszone zwischen privatem Heim und der öffentlichen Strasse bildet. Seit Donnerstag sind sechs Kulturschaffende im Bergli-Quartier intensiv an der Vorbereitung für den Samstagabend und die sonntägliche Matinée.

Anwohnende nehmen das Angebot an

Das Format stösst auf grosses Interesse. So viele Gäste wie am Samstagabend hat das Ehepaar Ammann noch nie im Garten willkommen heissen dürfen. Besonderes präsent ist dort ein Luftpolsterballen, der mitten auf dem Rasen ruht. Für Irritation sorgt er, als er sich zunächst ganz minimal zu rühren beginnt.

Ein Wesen aus Verpackungsmaterial, das sich erst eher ungeschickt vorwärts walzt und plumpst, dann wie ein Riesenfrosch zu hüpfen beginnt und sich immer aufdringlicher in die Menschengruppe drängt. Unbehagen und Neugierde wechseln sich ab – was will dieses Knäuel?

Der menschengemachte Abfall gewinnt die Kontrolle über uns, selbst ermächtigt nimmt er den Raum, den Vorgarten ein. In die Folie eingewickelt agiert Lyn Bentschik. Wie Anna von Siebenthal einleitend erklärt, arbeitet sie seit vielen Jahren mit dem Material Luftpolsterfolie und setzt sich mit der Fragilität der Natur auseinander.

 

San Keller und Anna von Siebenthal begrüssen Publikum, Kunstschaffende und teilnehmende Gartenbesitzer:innen.

Eindringen in die Privatsphäre

Eröffnet hat diesen Premiereabend des Festivals der Vorgärten der Musiker Vincent Glanzmann. Mit einem alten Sägeblatt und einem dünnen Metallstab bearbeitet er rhythmisch einen morschen Holzzaun, der einen Park zur Strasse hin abgrenzt. Er steigt über den Hark ins Private, trommelt nun auf einen Baumstamm. „Ein menschlicher Specht“, ist die Assoziation einer Zuschauerin.

Flink verschwindet er im Dickicht um an anderer Stelle wieder aufzutauchen, dort, wo sein Schlagzeug bereit steht. Glanzmann spielt mit Nähe und Distanz, Privatsphäre und Voyeurismus.

Die Rolle des Zufalls

Beim Festival der Vorgärten spielen Zufälle mit, das Wetter beispielsweise beeinflusst die Show und die Stimmung. In diesem Falle ist es ein sonniger Frühlingsabend, welcher der Kunst optimale Bedingungen beschert. Die untergehende Sonne sorgt für das ideale Spotlight und leuchtet, besser könnte es nicht sein, direkt und warm das Gesicht des Schlagzeugers Vincent Glanzmann aus. Mit gefundenen Stöckchen und Steinen erweitert er sein Drumset und experimentiert so mit Klängen und Rhythmen.

Während die sicher drei Dutzend Festivalbesucher:innen die oftmals langen Wege durchs Quartier zurücklegen, begleitet die Luzerner Performerin Andrea Fortmann den Trupp, stets einen langen Stab vor sich herschiebend, an dem vorne ein Stück Strassenkreide befestigt ist. Damit zeichnet sie den Weg vor, bleibt immer mal wieder stehen, um Geschichten, die sie in den Tagen zuvor im Gespräch mit Anwohner:innen erfahren hat, weiterzugeben.

 

Der Garten als Bühne: Der Musiker Vincent Glanzmann im Gebüsch hinter einem Zaun beim Festival der Vorgärten. Bild: Judith Schuck

Gemischtes, neugieriges Publikum 

Kinder mit Skaterollern führen die altersdurchmischte Wandergruppe an. Beim Schlendern wird die Umgebung anders wahrgenommen als im Alltag. Ansprechende Pflanzen in den Vorgärten werden teils fotografiert, Gespräche über Nachbarschaftsverhältnisse, Katzenhaltung und Veränderungen im Quartier entstehen. Dass Konzept, dass Kultur auch zu den Menschen kommt, die für gewöhnlich nicht mit diesen experimentellen zeitgenössischen Kunstformen in Kontakt treten, geht auf.

Es ist bereits dunkel und die nächste Station, eine grosse Brachwiese im Wohngebiet, eröffnet eine atemberaubende Sicht auf den Säntis und die Lichter der vorgelagerten Dörfer. Gregory Tara Hari adaptiert hier eine Performance, die er 2021 in einer Pariser Banlieue aufführte. Die komplett andere Umgebung reizte ihn zu einer Wiederaufführung. Im barocken Kleid stelzt er ungeschickt in mechanischen Bewegungen über die Wiese, das Gesicht ist vollkommen von einer schwarzen Lockenperücke bedeckt.

Viel Wissenswertes über Federn

Dieses aus der Zeit gefallene, gesichtslose Wesen hält einen soziokulturellen Vortrag über Federn: „Ich bin kein Plumologe, aber kenne mich aus.“ Dass er das Thema sorgsam recherchierte, im historischen Kontext, aus Tierschutzperspektive oder aus Sicht der kulturellen Aneignung, aber auch aus rein ästhetischen Blickwinkeln betrachtet – die Feder wird uns in unterhaltsamer Weise, die zum Nachdenken und Lachen verführt, nähergebracht.

Gegen halbzehn ist es dann wirklich stockfinster. Der Autor und Musiker Dominic Oppliger erwartet sein Publikum im für heute letzten Garten des Bergli-Quartiers. Mit Stirnlampe versehen liest er seinen Text, der wirklich hier in den Tagen seit Donnerstag entstanden ist.

Während sich im Hintergrund eine einfache Melodie in Endlosschleife abspielt, nimmt er die ihn umgebenden Element in seinen Text auf: die Bienen, welche die Gartenbesitzer:innen dort halten, die Rhabarberblätter und kommt vom Hier und Jetzt im Garten immer mehr zu einer Episode aus seiner Vergangenheit. Inspirative Streifzüge durchs Quartier riefen im Autor längst verschüttete Erinnerungen wach an zwanzig Jahre vorher, als er durch Zufall eine Nacht in einem Keller eines Einfamilienhauses im Bergli-Quartier verbrachte.

 

Vincent Glanzmann: so klingt Holz mit Metallsäge. Bild: Judith Schuck

Festival stiess am Anfang auf Skepsis

Die künstlerischen Darbietungen des Abends waren allesamt bereichernd. Dass es aber gar nicht so leicht war, Vorgartenbesitzer:innen vom Konzept zu überzeugen, sagt Anna von Siebenthal rückblickend auf die vergangenen Wochen. Seit Februar führte das Koordinationsteam Tür-zu-Tür-Gespräche mit Anwohner:innen. Hier bräuchte es mehr Zeit und Leute, findet sie. Mehr Erfolg hatten sie in Warth, wo das Festival der Vorgärten am letzten Maiwochenende stattfinden wird.

Eine Infoveranstaltung für die Bevölkerung sei effektiver gewesen als Einzelgespräche. Das gemeinsame Veranstalten im Quartier habe auf diese Weise besser verständlich gemacht werden können. Am 17. und 18. Mai kann im Weinfelder Südquartier Kunst in privaten Vorgärten gemeinschaftlich erlebt werden.

Abschluss am 21. Juni im Kunstraum Kreuzlingen

Diese erstmalige Durchführung sieht San Keller als Pilotprojekt. Er hofft, dass der „ortspezifische Jam“, bei dem sich Alltags-, Volkskultur und zeitgenössische Kunst verbinden, künftig Unabhängigkeit erlangt und das Konzept eigeninitiativ von Quartieren übernommen wird.

Am 21. Juni bildet die Revue der Vorgärten den Abschluss im Kunstraum Kreuzlingen, wo die Eindrücke von allen drei Orten des Festivals aufgearbeitet werden sollen.

 

Der Arboner Stadtpräsident Renée Walther eröffnet das Festival der Vorgärten. Bild: Judith Schuck

 

Die weiteren Termine der Festivals im Überblick

17./18. Mai 2025 
Quartier: Weinfelden, Süd. 
Festival-Zentrum: 
Spielplatz Feldhofstrasse 8
 (Beschilderung ab 
Bahnhof Weinfelden)
Treffpunkt Samstag 20 Uhr beim Festival-Zentrum
. Matinée: Treffpunkt Sonntag 12 Uhr beim Festival-Zentrum
. Anfahrt: Es gibt keine im Parkplätze im Quartier, die Veranstalter empfehlen die Anreise mit dem ÖV.

 

24./25. Mai 2025 
Quartier: Warth, Breite
. Festival-Zentrum:
 Spielplatz Ecke Rebweg Breitwies 
(Beschilderung ab Bushaltestellen Warth,
Gemeindehaus & Warth Rohr)
Treffpunkt Samstag 20 Uhr beim Festival-Zentrum
. Matinée: Treffpunkt Sonntag 14 Uhr beim Festival-Zentrum
. Anfahrt: Es gibt keine im Parkplätze im Quartier, die Veranstalter empfehlen die Anreise mit dem ÖV.

 

Samstag, 21. Juni, ab 18 Uhr

Revue der Vorgärten im Kunstraum Kreuzlingen 

 

Schon zuvor, am Samstag, 24. Mai, ab 14 Uhr, veranstaltet der Kunstraum ein Gartenforum. Das gesamte Programm des Gartenjahrs kann man hier nachlesen.

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