von Brigitte Elsner-Heller, 18.03.2019
«Die Seele wohnt hier nicht»

Micha Stuhlmanns Projekt „Ich esse deinen Schatten“ ist ein hypersensibles Stück Kunst, das sich elementar mit Leben beschäftigt und dabei irritiert, wenn nicht bestürzt.
Bewegung. Klang. Ein fast verwehter Geruch von Maschinenöl. Das Zusammentreffen von Aussen- und Innenwelt in ständiger Veränderung – beim Publikum, auch auf der Bühne, die allerdings weniger als solcher bezeichnet werden kann. Eher als undefinierbarer Raum einer Nähe, der man sich nicht entziehen kann.
Das aktuelle Projekt „Ich esse deinen Schatten“ der in Kreuzlingen lebenden Performerin Micha Stuhlmann ist ein Abenteuer, gerade so, wie das Gedankenexperiment des Physikers Schrödinger, der fiktiv eine Katze in einer Box beobachtet. Eine tote Katze? Eine nicht „real“ in der von uns wahrnehmbaren Welt vorhandene? Eine Katze jedenfalls, die unterschiedliche Zustände erst annehmen kann, sobald sie in den Fokus gerät. Das Rätsel der Quantenphysik verstört.
Was ist der „Quellgrund des Seins“?
Micha Stuhlmann hat sich in ihrer künstlerischen Vita der Beobachtung verschrieben, setzt dafür in all ihren Projekten den Körper, auch den eigenen, als erste Instanz der Wahrnehmung ein. Ein „Selbst“ kann dabei für sie dabei wohl immer wieder anders konstituiert werden, nach dem Abtauchen in den „Quellgrund des Seins“, wie sie Leo Maria Giani in ihrem – ebenfalls künstlerisch gestalteten – Programmheft in diesem Kontext zitiert. Wie bei Schrödinger klingt das nicht eben einfach, ist es auch nicht. Kein Dolce Vita.
Zur Premiere von „Ich esse deinen Schatten“ hat das Publikum im Kult-X in Kreuzlingen auf Klappstühlen Platz genommen, wobei die Bestuhlung auf drei Seiten des ehemaligen Fabrikraumes dann den Raum umreisst, der Micha Stuhlmann als Bühne dient. Zum Einlass sass sie noch auf einem Hocker, schälte in aller Ruhe, geradezu meditativ, Kartoffeln. Dann jedoch legt sie den lockeren Mantel, der sie sanft umhüllte, ab. Ihr Körper wird zum Instrument der Darstellung, wirkt im erst leisen, dann sich steigernden Gewitter der kaum noch als solche erkennbaren E-Gitarre (Beat Keller) nicht mehr wie der einer Frau, die eben noch im Alltag verortet war.
Video: Trailer zur Performance
Sinn als Schlüsselbegriff
Sehr hell geschminkt ist diese Figur, gekleidet nur in einen hautfarbenen Body – ein Embryo, der schon bald gänzlich in Hüllen abgetaucht ist, um sich dann mühsam wieder zu häuten. „Am Anfang war kein Licht und kein Schatten“ haucht sein Mund, der sich immer wieder wie zum Schrei öffnet. Oft vergeblich, dann jedoch zu Worten, zu ganzen Textpassagen fähig: „Die Nacht lächelte und gebar den Sinn.“ Sinn bleibt ein Schlüsselbegriff der Performance, die sich in die Haut eingräbt, in Dialog tritt mit den Wahrnehmungen und Gefühlen des Publikums. Wenn Micha Stuhlmanns Bühnenwesen sich kriechend nähert, um die zuvor ausgelegten „Knochen“ einzusammeln, ist Gleichgültigkeit keine Option, genauso wenig allerdings wie Empathie. Wenn sie die langen Hülsen auf ihre Finger steckt, sie dadurch zu Antennen der Wahrnehmung macht (oder zu den Schattenhänden Frankensteins), ist dies auch eine Provokation. Zeitgenössischer Tanz hat viele Ausdrucksformen, und manches erinnert hier an Butoh, eine japanische Variante, in der Verfremdung und Erschrecken zum Ziel erhoben werden.
Musiker Beat Keller als Stabilisator
Kein Abend, um sich genüsslich zurück zu lehnen. Fast könnte die experimentelle Musik von Beat Keller, der Micha Stuhlmanns Performance sehr genau beobachtet, noch als stabilster Faktor angesehen (angehört!) werden. In der Tat tauchen Bluesrhythmen auf, während Micha Stuhlmann ihre durchaus besonderen Texte rezitiert. Texte, die das Licht des Lebens doch noch aufscheinen lassen, selbst wenn „Die Seele wohnt hier nicht“ ausgesprochen wird. Bald schon wird sie Asche verstreuen, sich selbst in der Asche wälzen, bis Haut und Asche eins sind, vereint im Tod. Ist es wirklich dann eine Art Auferstehung, wenn sie ein durchscheinendes Blütengewand erst wässert und dann dem immer noch mit Staub behafteten Körper überzieht? Die im Prozess vermittelte Ästhetik widersetzt sich jedenfalls nachhaltig einem derartigen „Happy End“. Schlusszeilen tun ein Übriges: „Wenn kein Traumbild | kein Sehnen | kein Bitten erzeugt | IST | hohe Zeit | IST | höchste Zeit | IST | Todes Zeit. | Komm, komm tanz mit mir.“
Bitte nicht. Was, wenn sich bei der Selbstbefragung doch ein Ort für die Seele finden liesse? Hier und jetzt – oder wenigstens morgen? Wenigstens für einen Augenblick? Gracias a la vida. Nicht nur Joan Baez hat dieses Lied gesungen und dabei ehrlich geklungen. Wenn nicht demütig.
Weitere Aufführungen
Freitag, 29.03.2019, 19 Uhr Tanzraum Herisau
Donnerstag, 25.04.2019, 19:30 Uhr Kammgarn West
Freitag, 26.04.2019, 19:30 Uhr Kammgarn West
Sonntag, 5.05.2019, 18 Uhr Lokremise
Samstag, 25.05.2019, 19:30 Uhr Hof zu Wil
Freitag, 21.06.2019, 20 Uhr Theater Konstanz
Freitag, 6. & Samstag, 7.09., 19.30 Uhr, Kunstmuseum Thurgau
Donnerstag, 3.10.2019, 19:30 Uhr Kulturhaus Helferei Zürich
Freitag, 4.10.2019, 19:30 Uhr Kulturhaus Helferei Zürich
Tickets für alle Termine gibt es über die Website von Micha Stuhlmann: https://micha-stuhlmann.com/ich-esse-deinen-schatten/

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