von Anabel Roque Rodríguez, 10.10.2019
Stadt, Land, Kunst?
Was unterscheidet die Kulturarbeit auf dem Land von jener in der Stadt? Eine internationale Konferenz in Kreuzlingen und Konstanz geht Ende Oktober auf Spurensuche. Wir machen das schon jetzt. Anabel Roque Rodriguez über die Kultur zwischen Peripherie und Zentrum.
Es hat einen komischen Beigeschmack über Begriffe wie Zentrum und Peripherie zu sprechen. Zwar handelt es sich rein oberflächlich betrachtet nur um geographische Bestimmungen, aber sie implizieren auch eine hierarchische Ordnung. Was im Zentrum liegt wird stärker wahrgenommen, als das was davon entfernt ist. In der Kunstwelt gibt es eine lange Geschichte dieser beiden Konzepte. Entscheidende Anstösse gingen dabei von der Theorie des Postkolonialismus aus, denn Kunst wurde lange Zeit aus der Perspektive der westlichen Welt betrachtet, alles andere erschien als Peripherie und war weniger relevant.
Nun möchte Ende Oktober (23. bis 26.Okotober) eine Tagung in Kreuzlingen und Konstanz sich tiefer mit diesem Thema befassen. Peripherie und Zentrum wird hier eher als ländlicher und städtischer Raum betrachtet, was sich auch in dem Fokus der Tagung auf «Non-urban territories» widerspiegelt. Wir haben uns vorab umgehört und Kultur- sowie Kunstschaffende befragt, ob es Unterschiede in der Kulturarbeit zwischen dem urbanen Zentrum und der ländlichen Peripherie gib. Und was diese Unterscheidung für sie persönlich eigentlich bedeutet.
«Es ist ein Irrglaube, dass Kultur in der Schweiz nur in den städtischen Zentren passiert.»
Gioia Dal Molin, Beauftragte der Kulturstiftung des Kantons Thurgau
«In erster Linie ist einmal anzumerken, dass es in der Schweiz eine lange Tradition von Kulturarbeit abseits der Zentren gibt. Ausstellungshäuser in Luzern, Aarau oder Glarus zeigen das seit vielen Jahren. Es ist ein Irrglaube, dass Kultur in der Schweiz nur in den städtischen Zentren passiert. In der Peripherie und also auch im Thurgau passiert vieles. Die dezentrale Organisation generiert eine grosse Vielfalt von kulturellen Aktivitäten, oft selbstorganisiert und abseits von starren institutionellen Strukturen. Und es gibt Raum – nicht nur im realen Sinne (zu denken ist etwa an die tollen alten Industriehallen, die die Kunsthalle Arbon oder den Shed im Eisenwerk auszeichnen), sondern auch im übertragenen Sinne: Raum für Experimente», bringt es Gioia Dal Molin, Beauftragte der Kulturstiftung Thurgau auf den Punkt.
Sie sieht aber auch, dass sich Kulturarbeit in der Peripherie von urbanen Zentren unterscheidet: «Die Fragen nach dem Publikum, nach den Vermittlungsstrategie aber auch nach der Zugänglichkeit und der Erreichbarkeit von Anlässen müssen anders gestellt werden. Mit spezifischem Blick auf den Thurgau fällt auf, dass auch die Kultur dezentral organisiert ist und funktioniert. An ganz verschiedenen Orten passieren ganz verschiedene Dinge, die ein mitunter weniger übersättigtes Publikum ansprechen.»
«Der Möglichkeitsraum in der Peripherie bleibt damit breiter und auch offener, es darf mehr experimentiert werden!»
Judit Villiger, Künstlerin und Kuratorin
Einen Raum für Experimente hat auch die Künstlerin und Kuratorin Judit Villiger geschaffen. Sie leitet mit viel Engagement das Haus zur Glocke in Steckborn und ist zudem seit 2012 Dozentin für Kunstpädagogik an der Zürcher Hochschule der Künste. «Das Pendeln zwischen dem Haus zur Glocke und der Zürcher Hochschule der Künste kann von aussen als Spannung wahrgenommen werden, fühlt sich für mich aber relativ selbstverständlich an. Es bedeutet einfach vor der Haustür zu beginnen, dort, wo es sich förmlich anbietet, im leerstehenden Gebäude auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Es meint, das Potential des Vorhandenen zu thematisieren, indem Bausubstanz, die in der Kunst verwendeten Stoffe wie auch die eigene Arbeitsenergie eingesetzt werden. Es glückt, wenn ein Netz von Fäden im Kunstaustausch entsteht, der Resonanz erzeugt.
Ich denke mir, dass im ländlichen Raum heterogenere Gruppen angesprochen werden (können) als in urbanen Zentren, die durch die grössere Dichte an ähnlichen Angeboten (positiv gesagt) fokussierter und (negativ ausgedrückt) eingeschränkter operieren. Der Möglichkeitsraum in der Peripherie bleibt damit breiter und auch offener, es darf mehr experimentiert werden! Trotz allem darf nicht unterschätzt werden, wie nah zusammengerückt wir in der Schweiz leben. Wenn etwas spannend und innovativ ist, sind die Menschen bereit, den Weg dazu unter die Räder zu nehmen, so ist wenigstens meine Erfahrung. Viele haben übrigens Steckborn durchs Haus zur Glocke erst ‘entdeckt’, sprich erstmal besucht!»
«Ich glaube, dass durch das geringere Angebot seitens des Publikums mehr Identifikation und Verbindlichkeit gegenüber den einzelnen Kunsträumen besteht.»
Deborah Keller, Kuratorin Kunsthalle Arbon (Foto zeigt Deborah Keller links neben Inge Abegglen)
Viele der Befragten teilen die Ansicht, dass Kulturarbeit im ländlichen Raum häufig entzerrter ist und innerhalb der wenigen Kulturangebote auch besser von einem lokalen Publikum wahrgenommen wird. Die bessere Wahrnehmung vor Ort resultiert aber nur selten im Erreichen eines wirklich überregionalen und durchmischten Publikums. Deborah Keller, Kuratorin an der Kunsthalle Arbon und freie Kunstkritikerin in Zürich, sieht dies ähnlich: «Ich glaube, dass durch das geringere Angebot seitens des Publikums mehr Identifikation und Verbindlichkeit gegenüber den einzelnen Kunsträumen besteht. Auch habe ich schon mehrmals beobachten können, dass die Kunstschaffenden ausserhalb der städtischen Zentren, auf die alle blicken, experimentierfreudiger sind und sich neu inspirieren lassen. Die grösste Herausforderung besteht sicherlich darin, ein überregionales Publikum zu erreichen und dieses auch zum Besuch der Ausstellungen zu bewegen. Oftmals sind den Leuten die Wege dann doch zu weit, und die mediale Verbreitung der Ausstellungsbilder scheint manchmal das Live-Erlebnis vermeintlich zu ersetzen.»
«Das künstlerische Schaffen in einem Zentrum wie Zürich war für mich geprägt durch dauernde Ablenkung.»
Esther Huser, Künstlerin, die von Zürich nach Weinfelden gezogen ist
In einer Zeit der steigenden Mietpreise und des Raummangels in den Ballungszentren sucht Kultur Alternativen und weicht oft automatisch in Randgebiete. Die Entscheidung sich ausserhalb der Zentren anzusiedeln hat also oft auch ganz pragmatische Gründe. Neben den Institutionen sind es oft die Kulturschaffenden selber, die sich ausserhalb der Städte niederlassen.
So auch die Künstlerin Esther Huser, die sich entschieden hat vor ein paar Jahren aus Zürich nach Weinfelden zu ziehen: «Das künstlerische Schaffen in einem Zentrum wie Zürich war für mich geprägt durch dauernde Ablenkung. Unzählige Einflüsse wie Menschen, Konsum, Geräusche, künstliche Farben, Linien, Werbung, omnipräsenter Kunstkontext. Ein grosser Verlust an Energie und Zeit, immer wieder aus meiner Arbeit herausgerissen zu werden und den Weg zurück finden zu müssen. Eine kurze Zeit stärken die dauernden Entscheidungen ‘für und meistens gegen etwas’ den eigenen Weg. Dann nicht mehr. Das Problem in einem Zentrum war für mich, mich nicht von dem aufdringlichen, geschlossenen, starren Regeln folgenden Kunstkontext ablenken zu lassen.»
«Nach dem Umzug von Zürich in den Thurgau kehrt sich mein Interesse unmodernen, profanen Dingen und in einem ersten Schritt vollständig der Natur zu.»
Esther Huser, Künstlerin
Ein solcher Umzug hat auch Auswirkungen auf das künstlerische Schaffen. Viele Künstler ändern die Dimensionen ihrer Arbeiten, wenn sie plötzlich mehr Platz zum Arbeiten haben. Auch für Esther Huser kam es zu Veränderungen in ihrem Schaffen: «Nach dem Umzug von Zürich in den Thurgau kehrt sich mein Interesse unmodernen, profanen Dingen und in einem ersten Schritt vollständig der Natur zu. Meine Palette bewegt sich ausschliesslich im organischen Spektrum. Die Kompositionen zeigt keine menschlichen Einflüsse (keine Linien, keine menschgemachten Farben, Formen etc.). Thema ist mein eigenartiges Ankommen in der Natur: Es geht um die Erforschung der Sehnsucht der Städterin wenn sie endlich mit beiden Beinen in einem Feld steht und immer noch Sehnsucht nach Natur hat. Der weniger stark präsente Kunstkontext auf dem Land öffnet mir als Künstlerin den Horizont. Ich kann mir einen eigenen subjektiven Kontext schaffen und diesen – aber nur bei Bedarf – sorgfältig verifizieren.»
Esther Huser äussert am Rande der Unterhaltung noch einen interessanten persönlichen Eindruck: Sie glaubt, dass in der Peripherie häufig bevorzugt partizipative Projekte mit den Einwohnern stattfinden. Ein interessanter Eindruck dem die in Zürich lebende Autorin und Kunstkritikerin Brita Polzer das Buch «Kunst und Dorf» gewidmet hat. Partizipative Projekte versuchen im besten Fall eine Mikro-Gemeinschaft für eine gewisse Zeit zu erzeugen, ermöglichen es dem Künstler ein Phänomen mit einem kleinen «Versuchspublikum» zu führen und sorgen natürlich für eine stärkere Involvierung aller Beteiligter. Manchmal ermöglicht diese Form der Kunst Vorurteile abzubauen und Kunst über die eigene Erfahrung zugänglich zu machen, andere Male sorgt eben diese Art der Kunst mehr für Irritation als für vermehrte Teilnahme.
«Wer hat Kunst verdient’? Ich meine: Die Dörfler wie die Städter, die Alten wie die Jungen, die Mädchen wie die Buben.»
Judit Villiger, Gründerin und Leiterin Haus zur Glocke in Steckborn
Es bleibt abzuwarten, ob die Konferenz interessante neue Perspektiven bringt und vor allem, wie sie die Unterscheidung von «non-urban territories», Peripherie und Zentrum definiert. Wie schon eingangs erwähnt hat die Unterscheidung zwischen Kulturarbeit in Peripherie und Zentrum einen schalen Beigeschmack, da man sich unweigerlich die Frage nach Relevanz stellt. Was sind denn Vor(ur)teile von Kulturarbeit in der Peripherie?
Judith Villiger greift die Frage so auf «Sie meinen, es sei hier weniger Leistungsdruck? Höre ich das nur heraus oder implizieren sie dies mit ihrer Frage?! - Es gibt weder das urbane Zentrum noch die Peripherie. Ich glaube, mein Glück mit dem Haus zur Glocke hängt mit dem Vertrauen und der Unterstützung zusammen, welche ich von Beginn weg von der Kulturstiftung des Kanton Thurgau sowie von der Gemeinde Steckborn erhalten habe. Ich bekam von der ersten (Kulturstiftung) die nötigen Mittel um das Wagnis einzugehen und von der zweiten (Stadt Steckborn) die ideelle Unterstützung und dazu ein gutes Dutzend Menschen, die mich unterstützten. Und es hat ‘gefunkt’, vieles ist gelungen – und ganz wichtig: es wurde gesehen – vielleicht ist es einfach Glück, am richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen zu sein. Wer hat Kunst ‘verdient’? Ich meine: Die Dörfler wie die Städter, die Alten wie die Jungen, die Mädchen wie die Buben.»
Kultur lebt von Verschiebungen und schafft es damit immer wieder neue Debatten auszulösen. Vielleicht schafft es diese Konferenz Zentren und Urbanität von den Rändern her anders zu beschreiben. Thurgaukultur.ch ist vor Ort und wir werden berichten.
Weiterlesen: In Städten pulsiert das Kulturleben, hier sitzt die Avantgarde. Und auf dem Land? Auch im so genannten ländlichen Raum gibt es Perlen zu entdecken. Man muss nur etwas länger suchen. Michael Lünstroth schreibt in seiner Kolumne «Die Dinge der Woche» über die Vorzüge des ländlichen Raumes.
Die Konferenz
Die internationale Jahreskonferenz von Culture Action Europe (CAE) findet vom 23. bis 25. Oktober 2019 unter anderem auch im Sport- und Kulturzentrum Dreispitz und im Kunstraum Kreuzlingen statt. Vorträge, Podiumsdiskussionen und zahlreiche andere Veranstaltungen stehen auf dem Programm. Die Konferenz ist öffentlich. Interessierte können sich ab sofort unter https://www.cae-bto.org/ anmelden. Culture Action Europe ist ein europäisches Netzwerk, das die Interessen des Kultursektors in Brüssel vertritt.
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Kommt vor in diesen Ressorts
- Kulturpolitik
Kommt vor in diesen Interessen
- Debatte
- Kulturförderung
- Kulturvermittlung
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