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von Judith Schuck, 16.11.2020

Schreiben hält die Seele beisammen

Schreiben hält die Seele beisammen
Stellte seinen neuen Roman in Kreuzlingen vor: Der in Ermatingen lebende Schriftsteller Adolf Jens Koemeda. | © Judith Schuck

Ist unser Gewissen von der Kultur geprägt, in der wir aufwachsen? Welche Arten von Gewissen gibt es und warum handeln die Menschen so unterschiedlich danach? Der Ermatinger Schriftsteller Adolf Jens Koemeda sucht in einem neuen Roman Antworten.

Den Menschen hungert nach Kultur, das wird bei einer Buchpremiere von Adolf Jens Koemeda im November im Kreuzlinger Begegnungszentrum «Das Trösch» offensichtlich. Bei der gut besuchten Lesung tauschen sich die Anwesenden über unterschiedliche Modelle und Möglichkeiten eines Mund-Nasenschutzes und die wenigen noch stattfindenden Kulturveranstaltungen aus – ein wertvolles Gut in diesen oft nebelverhangenen Tagen im «Soft-Lockdown».

«Solange ein Mensch ein Buch liest, ist die Welt nicht verloren», zitiert Leopold Huber, Intendant des See-Burgtheater, in seiner Einführung den kürzlich verstorbenen Sean Connery. Die zahlreich erschienenen Literaturinteressierten stimmen in diesem Kontext zuversichtlich.

Sprache als wichtigstes Werkzeug

Um «Sandul» zu verstehen, muss man nicht zwingend den ersten Band gelesen haben. «Die Absicht», handelt vom jungen Bosnier Simmi, der sein Glück in Deutschland sucht. Er flieht nicht direkt aus Krieg und Not, sondern er sucht nach einem besseren Leben. Als Simmi in Deutschland ankommt, hat er wenig mit anderen Flüchtlingen zu tun. Durch das österreichische Fernsehen lernte er noch in seiner Heimat Deutsch und ist auch später bemüht, dieses stets zu verbessern. Er möchte sich nicht nur verständigen können, er möchte die Sprache beherrschen mit all ihren Nuancen.

Der Autor verarbeitet in beiden Geschichten teilweise autobiografisches Material: «Ich sah es als meine Aufgabe dem Leser einen Blick hinter die Kulissen der Flüchtlingsproblematik zu gewähren.» Koemeda stammt aus Prag. Während seines Medizinstudiums arbeitete er als Journalist. Die Unruhen um den Prager Frühling zwangen ihn zur Flucht und brachten ihn über Österreich in die Schweiz.

In seinen einleitenden Worten zum Leseabend liess der Theaterregisseur Leopold Huber die Zuhörenden wissen, dass Deutsch die Geheimsprache der Eltern im Hause Koemeda gewesen sei. Sein Vater war Sudetendeutscher, die Mutter kam aus Riga. Zuhause sprachen sie Tschechisch, vom Kindermädchen lernte er Slowakisch.

See-Burgtheater-Intendant Leopold Huber (links im Bild) übernahm die Einführung vor der Lesung von Adolf Jens Koemeda. Bild: Judith Schuck

Koemeda musste sich die deutsche Sprache erst erarbeiten

Die deutsche Sprache musste sich Adolf Jens Koemeda nach seiner Flucht erst erarbeiten, um als Psychoanalytiker praktizieren zu können. Bald schon schrieb er seine Bücher auf Deutsch.

Huber zitierte auch Ernest Hemingway, indem er sagte, dass ein Schriftsteller immer mal als Journalist gearbeitet haben sollte, um in einer klaren, verständlichen Sprache zu schreiben. Und er verwies auf Samuel Beckett, den irischen Schriftsteller, der später auf Französisch statt in seiner Muttersprache schrieb, mit dem Anliegen, über das Naheliegende, Verfügbare hinauszukommen.

Hier treffen sich der Autor und sein Protagonist Simmi. Beide sind bemüht, die Feinheiten der neuen Lokalsprache zu entdecken, was im Stil des Autors, der seine Wortwahl sehr genau trifft und Ausdrücke präzisiert, immer wieder durchschimmert.

Autobiografische Erfahrungen prägen den Roman

Koemeda verarbeitet in «Die Absicht» und «Sandul» nicht nur die Flüchtlingsthematik aus seinen eigenen Erlebnissen heraus, sondern auch mit dem Hintergrund seiner Berufserfahrungen als Psychoanalytiker. In seiner Zürcher Praxis behandelte er auf Grund seiner Sprachkenntnisse viele russische oder tschetschenische Patienten.

Ausserdem sei er als Gutachter vor Gericht und im Gefängnis auf viele Lebensgeschichten gestossen, die ihm einen intimen Einblick in das Thema ermöglichten. Neben der Frage, inwiefern die Gesellschaft einen Einfluss auf unser Gewissen haben kann, gesellt sich die Frage, inwieweit unsere Kindheitserlebnisse den Lebensweg prägen.

«Ein reines Gewissen ist das beste Ruhekissen»

Simmi stammt aus keiner armen Familie, er verfügt über eine gute Bildung und nimmt nach seiner Ankunft in Deutschland alles selbst in die Hand: Wohnungssuche, Jobsuche, Sprache lernen – kein Umweg über eine Flüchtlingsunterkunft. Bereits «Die Absicht» ist in Form eines Berichts an eine Frau Hunkeler geschrieben. Sie betreute den Bosnier in der Untersuchungshaft, nachdem er in einen tödlichen Unfall verwickelt wurde.

In «Sandul» wird dieser Stil fortgesetzt, dieses Mal an Simmis Sozialarbeiterin Frau Bosshart, der er nach seiner Entlassung und auf eigenen Wunsch seine Berichte zukommen lässt. Zum einen übt er mit dem Schreiben die Fremdsprache: «Ihr Kompliment, dass Sie mein Deutsch gut finden, schmeichelt mir natürlich, ich selbst bin allerdings noch lange nicht zufrieden», antwortet er ihr. Zum anderen nutzt er die Technik des Schreibens und sich Äusserns als Therapie – er thematisiert sein Seelenleben, seine Empfindungen, seine Fragen, die das neue Leben im fremden Land bei ihm aufwirft.

Welchen Einfluss hat die Säkularisierung auf unser Gewissen?

Simmi wird auf der Suche nach einer neuen Bleibe – er hatte sich gerade aus Eifersucht von seiner Freundin getrennt – von einer kriminellen Bande entführt und als Geisel genommen. Die Gangster hatten erfahren, dass bei seinem Vater Geld zu erpressen ist. Sein «Versorger» und Wärter ist ein desillusionierter Ungar mit ausgeprägtem Alkoholproblem. Er heisst Sandul.

Als die beiden feststellen, dass Slowakisch ihr gemeinsamer Nenner ist und sie miteinander kommunizieren können, entspinnt sich zwischen den beiden eine Beziehung. «Ich brauchte dringend diesen Protagonisten, um meine Grundidee zu transportieren: Was ist mit unserem Gewissen? Hat es sich verändert, seit die Kirche in unserer westlichen Welt keine wichtige Rolle mehr spielt?», sagt Koemeda über seinen Fortsetzungsroman. Denn Sandul hat im Gegensatz zu Simmi eine düstere, von Gewalt und Armut geprägte Kindheit durchlaufen.

Leichte Sprache, schwere Fragen

«Sanduls Vater war ein brutaler Mensch.» Diese «falschen Väter» könnten kein humanes Wissen vermitteln, keine Zuwendung oder Bestätigung geben, nur Geld sei hier wichtig, so der Autor über seine Figuren. «Ein reines Gewissen ist das beste Ruhekissen … Möglicherweise hat unser Gewissen ein paar böse Schrammen», sagt Simmi in einer schlaflosen Nacht zu Sandul.

«Sandul» liest sich leicht. Die Berichtsform gibt eine klare, verständliche Sprache vor. Doch auf der Leichtigkeit der Sprache ruht das Gewicht vieler Fragen unserer Zeit, die sich den Lesenden bei der Lektüre stellen.

Der dritte Teil, «Die Helferin», ist momentan in Arbeit und wird voraussichtlich im Frühjahr 2021 erscheinen. Hierin soll das Gewissen noch aus weiblicher Perspektive beleuchtet werden. Damit – so der Autor – sollte das Thema für ihn zunächst einmal abgeschlossen sein.

Das Buch: Adolf Jens Koemeda: Sandul, Warten auf das Glück. Münster Verlag Basel 2020.

 

Adolf Jens Koemeda

Der Autor lebt mit seiner Frau Margit Koemeda-Lutz im Schlösschen «Breitenstein» ob Ermatingen. Im dort angesiedelten «Kellertheater» veranstalten sie seit den 80er Jahren ein Programm aus Lesungen, Theater, Referaten oder Musikabenden. Ausserdem starteten sie 1997 die Reihe «Literatur am Untersee». Bis zu seiner Pensionierung praktizierte Adolf Jens Koemeda als Psychoanalytiker in Zürich. Literatur, Sprache und Schreiben nahmen für ihn Zeit seines Lebens eine wichtige Stellung ein.

 

 

 

 

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