von Judith Schuck, 26.02.2025
Wie ein Unfall ihr Leben veränderte
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Das alte Haus verkraftet die moderne Technik nicht, doch der ausverkaufte Saal ist dennoch bis ins hinterste Eck gut unterhalten: Wie die Lesung der Schweizer Buchpreisträgerin Zora del Buono im Literaturhaus Thurgau zu einem Erlebnis wurde. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Sprunghaft beginnt der Abend im Literaturhaus in Gottlieben, wo die Schweizer Buchpreisträgerin Zora del Buono liest. Zum einen, weil die Mikrophone immer wieder ausfallen, was die Autorin und den Moderator kurzentschlossen dazu bringt, sich auf das Pult statt dahinter zu setzen und frei zu sprechen.
Zum anderen, weil die Hündin der Autorin sichtlich nervös ist und nicht richtig weiss, wo ihr Platz ist. Die Unruhe über die technischen Probleme und das noch bei ausverkauftem Saal! Doch manch ein:e Besucher:in freut sich, wenn das Hündchen zum Beruhigungskuscheln kommt, schliesslich ist „die Rote“ leibhaftige Protagonistin in dem Buch, wegen dem sie alle den Weg ins Literaturhaus auf sich genommen haben.
„Der Roman ist wie ich.“
Zora del Buono, Schweizer Buchpreisträgerin
Das Sprunghafte passt denn auch, weil Zora del Buonos „Roman einer Recherche“, wie der eigentliche Titel „Seinetwegen“ zur besseren Einordnung im Buchhandel bezeichnet wird, ist „wie ich“, sagt sie. Assoziativ, von einem Thema zum nächsten springend, wieder zurückkehrend zu etwas, was vorher schon besprochen wurde. Und doch entsteht eine mitreissende Geschichte im Fluss.
Die Methodik eines autofiktionalen, lexikalischen Romans, der neben sehr bildhaften Passagen auch immer wieder Sachbucheinträge, Statistiken, Erinnerungsfetzen oder Zeitungsinterviews enthält, dient auch dazu, die Schwere des Themas, nämlich den Verlust des Vaters, der mit 33 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam, immer wieder von einer emotionalen auf eine sachliche Ebene zu heben.
Die Erfindung der Kopfstütze
Wir erfahren Wissenswertes über Verkehrsunfallstatistiken, wonach wir überlegen, ob es wirklich sinnvoll ist, sich noch einmal in ein Auto zu setzen. Wir tauchen ein in die Geschichte des VW-Käfers und erfahren, warum unsere Autositze heute alle mit einer Kopfstütze ausgestattet sind. Genickbruch war die Todesursache für den Arzt mit süditalienischen Wurzeln, der seinen Kolleg:innen als der humorvolle Radiologe mit der Gitarre in Erinnerung blieb. Er kam 1963 auf einer Strasse im Kanton Glarus ums Leben. Ursache: Ein Überholmanöver auf der Gegenfahrbahn. So schnell ist ein hoffnungsvolles Leben ausgelöscht.
Erst 60 Jahre nach dem tragischen Unfall macht sich Zora del Buono daran, den „Töter“, wie sie den Unfallverursacher stets nannte, ausfindig zu machen, um zu erfahren, wer dieser Mensch ist oder ob er überhaupt noch lebt. Seine Initialen E.T. stehen über eine lange Strecke des Buches für den Töter.
Während in einem Krimi komplex konstruiert versucht wird, das möglichst Unwahrscheinliche zum Schluss wahr werden zu lassen, und die Spur vom eigentlichen Täter immer wieder abgelenkt wird, um Spannung aufzubauen, passiert dies in „Seinetwegen“ auf ganz zufällige Weise. Wie Zora del Buono bei ihrer Lesung erklärt, entstand ihr Buch prozesshaft, parallel zu ihrer Recherche über ihren Vater, den sie nie kennenlernte, da sie zum Zeitpunkt des Unfalls erst acht Monate alt war.
Aus Schutz vor der Trauer
Mit der Mutter konnte sie nie über ihn reden. Sie begründet das darin, dass sie als Kind die Trauer im Gesicht ihrer Mutter nicht ertragen konnte, wenn es auf den Vater, die Liebe ihres Lebens, zu sprechen kam. „Als Kind spielten sich in mir immer innere melodramatische Filmchen ab, um meine Mutter zu rächen“, erzählt Zora del Buono.
Ihr Vater, Manfredi del Buono, war Radiologe am Kantonsspital Zürich, die Mutter Röntgenassistentin und später Kunsthistorikerin. Manfredi stammte aus einer grossbürgerlichen apulischen Familie. Seine Mutter, die ebenfalls Zora hiess, stammte aus Slowenien. Ihre Geschichte verarbeitet die Schriftstellerin in „Die Marschallin“. Die Grossmutter prägte die vaterlose Enkeltochter, auch indem sie später Architektur studierte.
Mit wenigen Mitteln kreiert sie viel Plastizität
Im Bodmanhaus verrät sie dem Publikum, dass sie die Architektur das Sehen lehrte. Diese Fähigkeit macht das Buch so reich, denn es ist nah am Leben dran und die Autorin schafft es, mit wenigen Mitteln viel Plastizität zu kreieren. Um nicht zu spoilern, darf an dieser Stelle nicht zu viel vorweggenommen werden, aber wir begleiten del Buono bei ihrer Suche nach der Persönlichkeit, die für den Tod ihres ihr zwar unbekannten Vaters, aber auch für das Schicksal ihrer Mutter und damit ihr auch eigenes verantwortlich war.
Als „hochattraktive Witwe“, wie del Buono ihre Mutter beschreibt, war sie in einer Schweiz der 1960er Jahre isoliert. Zu Feiern im Freundeskreis wurde sie nicht mehr eingeladen, mit dem Argument, dass mit ihr die Tischordnung nicht mehr aufgehen würde.
Das Verschwinden der Mutter macht Suche möglich
Diese Erfahrungen prägten die Autorin, die sich mit ihrer Mutter solidarisierte. Dass sie sich heute erst auf die Suche nach dem Täter macht, hängt damit zusammen, dass ihre Mutter an Demenz erkrankt ist. Diese entstehende Lücke, die durch das allmähliche Verschwinden dieser ihr so nahen Person dabei ist zu entstehen, machte es für Zora del Buono erst möglich, sich an dieses Thema, über das sie ihr bisheriges Leben geschwiegen hatte, heranzuwagen.
Ihre Mutter selbst hat all die Jahre nicht geschwiegen, eine Erkenntnis, die sie aber erst durch die vielen Zuschriften, die sie seit der Buchveröffentlichung bekommt und durch Gespräche bei Lesungen, gewinnt. Sie selbst habe nicht mit ihrer Mutter über den Tod des Vaters gesprochen, aus Angst, sie unglücklich zu machen. Mit anderen sprach die Mutter sehr wohl über den Schicksalsschlag.
„War das Buch für Sie ein Wagnis?“ fragt Karsten Redmann, Programmleiter im Literaturhaus. „Ich habe erst jetzt gemerkt, dass ich damit überfordert bin“, räumt Zora del Buono ein. Den Umstand, dass sie auf der Longlist für den deutschen Buchpreis stand, bezeichnet sie in Gottlieben als „Horror“. „Ich sagte zu meiner Verlegerin, die Shortlist sei ein Haifischbecken. Das musst du erstmal vertragen.“
Das stete schlechte Gewissen
Bei ihrem achten Buch sei alles anders als vorher: Die Aufmerksamkeit, die mediale Präsenz und vor allem, die vielen Briefe, die sie von Menschen bekomme, die ähnliches erlebt hätten. „Ich bekomme sehr viel Post“, sagt sie, die zeitlebens ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie immer als die Vaterlose bemitleidet wurde, obwohl sie selbst gar nie wirklich getrauert hat, um einen Vater, den sie gar nicht kannte. Sie war beim Unfall acht Monate alt.
„Heute habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mehr über den Mörder weiss, als über meinen eigenen Vater.“ Die Spurensuche nach dem Täter kann vielmehr als eine Suche nach ihrer Mutter gelesen werden – wer und wie war sie als junge Frau?
Del Buono studierte neben Architektur an der ETH Zürich und der HDK Berlin auch Szenografie, also filmische Architektur. Diese gestalterischen Fähigkeiten werden beim Lesen des Textes sehr spürbar. Dem Publikum verrät sie mehrmals am Abend, dass Max Frisch ihr literarisches Vorbild ist, der ebenfalls die Textgenres vermischte und fragmentarisch schrieb. Das Mäandernde zwischen unterschiedlichen Textformen ist in „Seinetwegen“ nie störend, es macht das Gelesene sehr lebendig und es entsteht eine grosse Nähe zur Autorin, die uns an ihrer Persönlichkeit und ihrem Leben und alles, was es prägte und prägt, teilhaben lässt.
Wie der Roman seine Leser:innen verschlingt
Wir bekommen Lust, auf die steilen Felswände im Kanton Glarus und auch darauf, die Geschichte dieses kleinen Kantons zu entdecken, weil wir von der Begeisterung von Zora del Buono angesteckt sind, die auf ihrer Recherchefahrt immer wieder auf Kurioses und Überraschendes stösst. Wir bekommen Lust, uns selbst in eine Recherche zu stürzen, weil sie das versteckte Potenzial von Staatsarchiven mit glaubhaftem Enthusiasmus feiert. Und wir wollen auch mit den Leuten auf dem Dorf ins Gespräch kommen, die den Mörder ihres Vaters kannten, weil er ihr Nachbar war oder mit ihnen arbeitete.
So viel sei verraten. Die Initialen von E.T. bleiben nicht kryptisch, sie nehmen im Laufe der Recherche immer mehr Form an. Eine ganz andere, als erwartet – „aber das habe ich als ich das Buch anfing ja nicht gewusst“, sagt del Buono. Für die Dramaturgie des Rechercheroman hätten sich die Ergebnisse ihrer Suche kaum besser fügen können. Dabei sagt die Autorin, die als Mitbegründerin und Redaktorin beim Magazin mare auch journalistisch und der Wahrheit verpflichtet arbeitet: „Ich habe so wenig erfunden wie möglich, und sie viel wie nötig. Aus Anstand, um die Leute zu schützen.“
Zora del Buono: Seinetwegen, C.H. Beck Verlag, 2024
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