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von Tabea Steiner, 17.03.2025

Was wir von Ameisen lernen können

Was wir von Ameisen lernen können
Alle helfen mit: Ameisen sind Meister der kollektiven Arbeit. |

Die Autorin Tabea Steiner stellt am Samstag mit ihren Kolleg:innen des HOT Kollektivs ein neues Buch im Kunstraum Kreuzlingen vor. Zur Einstimmung – ein Text über das Zusammenhalten. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Geh hin zur Ameise und lerne von ihr – das ist ein Spruch, der mir immer gut gefallen hat. Die Vorstellung, dass sich der grosse Mensch zur kleinen Ameise hinabbeugen soll, um sich von ihr belehren zu lassen: wunderbar. Womöglich trägt die Ameise noch eine runde Brille und einen Zeigestock. 

Und wie das so ist, wenn man genauer hinschaut, ist oft alles ein bisschen anders. Luther hat diesen Spruch nämlich so übersetzt: «Gehe hin zur Ameise, du Fauler; siehe ihre Weise an und lerne!»

Und dann geht es weiter: «Ob sie wohl keinen Fürsten noch Hauptmann noch Herrn hat, bereitet sie doch ihr Brot im Sommer und sammelt ihre Speise in der Ernte.»

Dieser Faule, der da angesprochen wird, wird schliesslich gerügt, weil er viel zu lange schläft, Däumchen dreht und liegen bleibt, bis «wie ein Räuber die Armut über dich (kommt) und wie ein bewaffneter Mann der Mangel.»

Man kann diese Sätze also problemlos neoliberalistisch interpretieren und sie gegen Armutsbetroffene verwenden, und mir wurde klar, dass ich meine eigenen Recherchen zu den Ameisen betreiben musste. 

 

Das Kollektiv HOT im Kunstraum Kreuzlingen

Das Kollektiv HOT ist ein interdisziplinäres Kunstprojekt zum Thema Feuer. Mit Texten von Tabea Steiner und Simone Olivadoti, Illustrationen von Julia Trachsel und Adam Vogt sowie Fotografien und Ausstellungsprojekten von Johanna Gschwend. Am Samstag, 22. März, stellt das Kollektiv das Buchprojekt vor. 

«Die Flammen lodern, es knistert, Funken sprühen, Hitze legt sich auf die Wangen. Fast hypnotisch ist die Wirkung eines offenen Feuers – manchmal reicht schon das Flackern einer Kerze. Eine Feuerstelle, wo auch immer, ist ein Gemeinschaftsort. Wo Menschen zusammenkommen, wird erzählt, es wird fantasiert und fabuliert», heisst es zum Projekt auf der Internetseite von Tabea Steiner.

Die Buchpräsentation ist Teil der Eröffnungsveranstaltung zum Ausstellungsprojekt Das Gartenjahr im Kunstraum. «Mit artenreichen Ausstellungsbeiträgen, Foren, Exkursionen und Veranstaltungen wenden wir uns der Welt der Gärten eklektisch, vielschichtig und lustvoll zu. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist offen, der Kunstraum selbst soll sich als Biotop und wachsende Sammlung entwickeln dürfen», schreiben die Veranstalter auf ihrer Website. Mehr dazu gibt es auch in unserer Agenda.

Wie Ameisen leben

Ameisen leben in ihren Nestern mit bis zu zwei Millionen Artgenossinnen zusammen, und innerhalb ihrer Kolonie erkennen sie sich am Duft. 

Ihre Organisationsformen sind genauso ausgeklügelt wie ihre Fähigkeiten, und jede Ameise hat ihre eigene Aufgabe, jede Ameise weiss genau, was sie zu tun hat. 

Beispielsweise gibt es eine Ameisenart, die ihr Nest in Bäumen hat. Der Zugang zum Nest ist ein kleines Loch in der Rinde. An dieser Öffnung ist eine Ameise positioniert, die Türhüterin, die ganz anders ausschaut als alle anderen: ihr Kopf ist riesig und unförmig und sieht aus wie ein Korkzapfen. Damit versperrt sie den Eingang und lässt nur herein und hinaus, wer auch zu ihrem Volk gehört. 

Und das ist nur ein einziges Beispiel von diesem faszinierenden kleinen Tier. 

Die Brutalität der Ameisen

Ameisen können aber auch unfassbar brutal sein. Benachbarte Völker bekämpfen sich gegenseitig, etwa, indem sie zu sechst eine feindliche Ameise an je einem Bein festhalten, während die siebte dem Opfer eine Säure unter den Panzer spritzt, wodurch sich deren innere Organe auflösen.

Und es gibt Königinnen, die in fremde Nester eindringen, alle Bewohnerinnen töten, deren Brut stehlen und sie als ihre eigene aufziehen. 

Es gibt bei den Ameisen durchaus Herrscherinnen. 

 

Beeindruckendes Insekt - die Ameise. Bild: Canva

Ameisen kennen auch Zusammenhalt

Es gibt jedoch auch Ameisen, die sich mit den benachbarten Nestern angefreundet haben, die sich zu riesigen Superkolonien von mehreren hundert Ameisenhaufen verbunden haben. Sie arbeiten zusammen, teilen sich das Essen, und im Gegensatz zu den anderen Ameisenvölkern haben sie nicht eine einzige, sondern eine ganze Menge verschiedener Königinnen. 

Beide Verhaltensweisen haben sich in der Evolutionsgeschichte der Ameisen an vielen Orten der Welt unabhängig voneinander entwickelt. 

Die räuberische Feuerameise

Es gibt bis zu 30'000 verschiedene Ameisenarten, darunter die Feuerameise. Die Feuerameise lebt auf allen Kontinenten der Welt, und sie baut ihre Nester häufig so, dass sie Zugang hat zu den Nahrungsvorräten von anderen Ameisenarten. Man nennt sie auch Diebsameisen. 

Diese räuberische Ameisenart hat aber noch eine ganz andere Fähigkeit. Ausgerechnet die Feuerameise baut ihr Nest zuweilen in Flussnähe. Wenn eine Überschwemmung droht, tun die Ameisen alles, um ihre Larven in Sicherheit zu bringen, sie rennen durcheinander, eilen gehetzt herum, aber sie kommen gegen die Fluten nicht an, und schließlich trägt das Wasser sie alle zusammen davon: die Königin, die Larven, das gesamte Ameisenvolk. 

Im vermeintlichen Chaos aber hat jede Ameise ihren Platz gefunden. Sie haben ihre Beine ineinander verhakt und halten die Larven gut fest; die Königin selbst sitzt in der Mitte. Alle Ameisen haben zwischen ihre feinen Körperhärchen Luft eingeschlossen, und so treibt dieses Floss auf dem Wasser dahin, ohne zu sinken.

Video: Die Feuerameise auf dem Wasser

Warum jede:r einzelne zählt

Es gibt also durchaus Dinge, die der Mensch von der Ameise lernen kann. Man kann zusammenarbeiten, das Essen teilen, zueinander schauen, damit niemand ertrinkt.
Oder man kann das Gegenteil davon tun.
Möglich ist beides. 

Und falls man denkt, das Verhalten des Einzelnen falle ja doch nicht ins Gewicht: Alle Ameisen der Welt sind zusammen ziemlich genau gleich schwer wie alle Menschen der Welt. 

 

Mehr über Tabea Steiner

Tabea Steiner ist Literaturvermittlerin, organisiert Festivals, Veranstaltungen und war in der Jury der viersprachigen Schweizer Literaturpreise. Ihr Debüt Balg wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Im Frühjahr 2023 kam der zweite Roman Immer zwei und zwei heraus, und im Herbst 2024 erschien ihr erster Essayband Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat. Tabea Steiner hat in den vergangenen Jahren auch immer mal wieder für thurgaukultur.ch geschrieben. Unter anderem in der Kolumnenserie Mein Leben als Künstler:in. Alle ihre in dieser Reihe erschienen Texte findest du hier.

 

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