von Anabel Roque Rodríguez, 07.02.2023
Der mit dem Zufall tanzt
Noch bis Mitte März stellt Christoph Rütimann im Kunst Museum Winterthur aus. Im Dialog mit der Sammlung des Hauses ergeben sich ganz neue Sichtweisen auf sein Werk. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Das künstlerische Schaffen von Christoph Rütimanns umfasst ein ganzes Repertoire von künstlerischen Formaten: Performances, Klang-, Text-, Foto- und Videoarbeiten über Zeichnung, Malerei und Skulptur. In all den unterschiedlichen Ausdrucksformen gibt es aber so etwas wie einen gemeinsamen Nenner: das Interesse am Ausweiten von Grenzen, ein performativer Ansatz und Linien als Perspektivgeber.
Die Irritation im ersten Moment
«Der spezielle Blick irritiert im ersten Moment und schärft zugleich die Wahrnehmung. Der Blick ist zudem von Erinnerungsmomenten geprägt wie beispielsweise von einer Autofahrt, also einem Roadmovie. Die oft tief liegende, vor allem von der Augenhöhe losgelöste Sicht weckt die Frage, wie es zu dieser Sicht kommt. Hängt es mit dem Blick eines Kindes oder eines Hundes zusammen?
Schon der Begriff ‘Handlauf’, den ich für diese Arbeiten geprägt habe, verweist auf die Verschiebung weg vom Auge in die Hand, was wir auch von der Handycam kennen. Jeder kennt die neuen Blicke, die das Handy eröffnet hat. Dabei ist es wichtig, dass sich der Blick aus dem gewohnten Gesichtsfeld wegbewegt. Mein auch von diesen Leitplanken geprägter Blick führt mich jeweils an bestimmte Orte», erklärt Christoph Rütimann seine Arbeitsweise.
Es sind diese Orte, die zu direkten Protagonisten werden, denn der Künstler bedient sich bei seinen Aufnahmen einer kleinen Handkamera, die er über Fenstersimse, Kanten und Geländer fahren lässt. Die oft etwas ruckelig und manchmal leicht wegkippenden Kamerafahrten zelebrieren ihre Low-Budget-Ästhetik und sind in dieser Echtheit gerade in der heutigen Zeit von Social Media Perfektion überraschend und humorvoll.
Die oft ratternden und stotternden Geräusche, die diese Fahrten begleiten, sind als Tonspur Bestandteil der Videos. «Ich brauche die Unterlage für die Blickwinkel meiner Filme. Ursprünglich war es der Handlauf, später waren es eine Kante, eine Bank, ein Fenstersims. Es ist schön, dass es so neben dem Bezug von meiner Kamera und mir auch immer einen direkten Bezug der Kamera zum Objekt gibt, beides ist immer in Kontakt miteinander, was beim TV und im Kino selten der Fall ist.»
Grenzlinien können auch verrutschen
Seit über zwanzig Jahren beschäftigt sich Christoph Rütimann mit den «Handläufen». Die Ausstellung in Winterthur zeigt nun eine Auswahl von 39 verteilt auf die beiden Ausstellungsorte im Kunst Museum Winterthur am Stadtgarten und beim Stadthaus.
Präsentiert werden die Videoarbeiten auf kleinen Monitoren innerhalb von Gerüsten, die über zwei Stockwerke reichen. Die Installation im Foyer wird so vom imposanten Treppenaufgang der Gebäude eingesäumt und erfährt im Besuch eine Art Verwandtschaft zur Machart. «Bei der Auswahl der Arbeit ergibt sich ein mäanderndes Ostband von Aqaba über die Türkei, Bulgarien, Ungarn, Slowakei, Tschechien bis Tallinn in Estland, von Süden nach Norden. Diese Länder sind in der Sammlung des Museums kaum mit Werken vertreten. Sobald man sich mit Grenzlinien beschäftigt, beginnen sie im Laufe der Zeit zu verrutschen. Sie zeichnen somit Geschichte auf.»
Museen erfahrbar machen
Die neue Arbeit «Handlauf Kunst Museum Winterthur» ist eine Auftragsarbeit im Zusammenhang mit der Wiedereröffnung der Villa Flora, ursprünglich geplant auf 2023, wegen Bauverzögerung aktuell für Frühling 2024 angesetzt, und dem Zusammenschluss der drei Ausstellungsorte Beim Stadthaus, Reinhart am Stadtgarten und Villa Flora zu einer Institution.
Gezeigt werden die drei Video-Arbeiten monumental nebeneinander. Rasant geht die Fahrt durch die Räume der drei Winterthurer Museumsbauten entlang von Fenstersimsen und Kanten. Als Besucher «er-fährt» man Ausstellungssäle, die klassisch beim Museumsbesuch dazugehören, aber auch Depots, Treppenhäuser und Abstellräume. Für Christoph Rütimann beinahe optimale Bedingungen:
Video: arttv.ch über die Rütimann-Ausstellung
«Die drei Häuser sind aus einer ähnlichen Zeit, was man an den Brüstungen und Simsen bemerkt, die natürlich ideal für meine Kamerafahrten sind. Es gibt Verwandtschaften in der Architektursprache. Die Linien der Gebäude verbinden die drei Projektionen im Raum als bewegtes kubistisches Bild miteinander, so dass es eine Art hindurchstechen gibt. Auch das Verhältnis von Innen- und Aussenseite ist interessant, gerade auch im Hinblick zum Stadtraum und im Rahmen der Umbauarbeiten. Man hat immer wieder den rechten Winkel und wenn ich diesen kippe, kippe ich gleich alles. Sehr schön gelingt das im Zusammenhang mit einem Frühwerk von Lawrence Weiner. Das Bild eine abstrakte Komposition schräg gehängt - die Hängung ist wohl das Aussergewöhnliche daran – hebt eigentlich das ganz Museum aus den Angeln. Dies wiederum mit der gekippten Kamera aufgenommen zeigt, dass man mit wenig viel bewirken kann.»
Ungeplantes bringt oft Innovation hervor
Der Moment des Zufalls spielt immer wieder eine Rolle in den Arbeiten von Rütimann und ist vermutlich für viele künstlerische Arbeiten notwendig, denn die Reaktion auf Ungeplantes bringt oft Innovatives hervor.
Auch in der Ausstellung gibt es diesen Moment, der nur eine kleine Fussnote ist, aber doch gut in den Kontext seiner Arbeiten passt. Die drei Videos über die Institutionen sind unterschiedlich lang und werden am Morgen gemeinsam eingeschalten. Über den Tagesverlauf geschieht eine Verschiebung, denn die drei Werke werden in stets wechselnden Konstellationen gesehen, so dass letztendlich viele Besucher:innen unterschiedliche Sequenzen miteinander sehen und so andere Ansichten mitnehmen.
«Da sieht man wieder mal, dass, wenn die Grundkonstellation stimmig ist, der Zufall wunderbar mitspielt. Man kann geschickt oder ungeschickt mit dem Zufall umgehen. Das Schlimmste ist wohl, mit dem Zufall zu arbeiten und sich zu verkrampfen. Dann scheitert es. Ich würde sagen, ich bin mit dem Zufall gut befreundet», so Rütimann.
«Das Schlimmste ist wohl, mit dem Zufall zu arbeiten und sich zu verkrampfen. Dann scheitert es. Ich würde sagen, ich bin mit dem Zufall gut befreundet.»
Christoph Rütimann, Künstler (Bild: arttv.ch)
Die Kameraführung in den Handläufen hat etwas herrlich Erfrischendes, was einen zugleich neugierig macht und anregt zu fragen, wie die Welt aussehen könnte, wenn wir einen anderen Standpunkt hätten.
Mal ist das Augenzwinkern subtiler, mal etwas stärker wie bei der Arbeit «Handlauf Kürbis» von 2004–2005, bei der man auf einem orangefarbenen PVC-Rohr in Froschperspektive durch ein Kürbisfelds fährt, vorbei an überdimensional erscheinenden Kürbissen bis das Abenteuer schliesslich am Hofladen des Kürbisbauern endet.
Es ist so, als ob Christoph Rütimann die Komplexität der Welt einladen würde, um sie ein bisschen schräger zu machen und ihr auf diese Weise etwas von ihrem Schrecken nehmen könnte. Dass die Arbeiten nicht zu Parodien werden hat viel mit dem Respekt für die Orte zu tun und mit einem intelligenten Einsatz von Humor.
Der Zauber seiner Arbeiten liegt im Spiel
«Es gibt Begegnungen wie zum Beispiel auf der Galatabrücke, da würde es ohne Humor nicht funktionieren, wenn ich direkt auf die Leute zufahre, sie auch mal erschrecke. Da braucht es quasi Humor beim Filmen. Als ich in Jordanien unterwegs war, ohne arabische Sprachkenntnisse, hat man nur die Augen und das Lachen, um zu kommunizieren und in eine Beziehung zu kommen. Erstaunlicherweise haben viele sofort das Gefühl zu verstehen, was ich mache, wenn ich mit dieser Kamera mit dem Wägelchen unterwegs bin.»
Vielleicht liegt gerade in der spielerischen Komponente der Zauber seiner Arbeiten, denn so ist man als Betrachter:in ohne Umschweife mitten in der Weltanschauung des Künstlers und kann den direkten Dialog mit den Arbeiten beginnen – ohne lange Einführung mit mehr Zeit für das Wesentliche.
Die Ausstellung
Christoph Rütimann stellt noch bis zum 19. März 2023 in Winterthur aus. Öffentliche Führungen gibt es am Sonntag, 19. Februar, sowie am Sonntag, 19. März, jeweils um 13 Uhr. Details zur Ausstellung gibt es auch auf der Museums-Website.
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Kommt vor in diesen Interessen
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