von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 22.04.2021
Rütimanns Reise
Fast ein Märchen: Seit 2016 zieht die sperrige Installation „Eine Einigelung“ von Christoph Rütimann durch die Schweiz. Die nächsten Stationen sind Steckborn und die Abtei Bellelay im Kanton Bern. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Auf diese Idee muss man auch erst mal kommen: Eine riesenhafte Kugel aus alten Holzbrettern zu bauen, die Nägel von innen nach aussen zu schlagen, so dass aus der Kugel quasi ein gefährlicher Igelball wird und dann mit dieser knapp 500 Kilogramm schweren Stachelkugel auf eine Reise durch die Schweiz zu gehen. Über Land und über Wasser. Letzteres mit einem abenteuerlichen Floss.
Manchmal muss Christoph Rütimann selbst fast ein bisschen grinsen, wenn er an seine Installation „Eine Einigelung“ denkt: „Das Schöne an der Arbeit ist: Man bekommt durch das Unterwegssein sehr spezifische Einsichten in sehr verschiedene Leben“, sagt der gebürtige Zürcher, der 1993 die Schweiz bei der Biennale in Venedig vertrat und heute seit 22 Jahren im Thurgau lebt.
Ein Igelball als Reaktion auf den Abbruch eines Nagelhauses
Entstanden ist die Arbeit 2016 in Zürich als Reaktion auf den Abbruch eines Wohnhauses im Westen von Zürich. Über Jahre wurde es zunehmend umzingelt von Bürotürmen und Geschäftsimmobilien. Am Ende musste es einer Zufahrtsstrasse weichen. Analog zu jenen Häusern in China, die Umsiedlungs- und Neubauprojekten zum Opfer fallen, wurde es in weltweiten Schlagzeilen schnell zum „Nagelhaus Zürich“, weil sich ein Bewohner jahrelang gegen den Abbruch wehrte. Letztlich ohne Erfolg. Das Bundesgericht entschied 2014, dass die geplante Strasse gebaut werden darf.
Christoph Rütimann nahm mit seinem Projekt darauf Bezug. Es sollte ein klares Statement sein, entsprechend stachelig, sperrig und widerborstig wurde die Arbeit. Der Igel in dieser Einigelung sollte schon einer der wehrhafteren Sorte sein.
Es geht immer um Orte im Wandel
Wenn Rütimann bei seinen Perfomances in der Kugel hockt und sich durch die Gegend rollen lässt, dann wird die Skulptur zu einer nur schwer einnehmbaren Festung, ja, fast zu einer Waffe, wenn man nicht aufpasst und sie beispielsweise unbeobachtet rollen lässt. Das Motiv des Sich-Hineinversetzens ist durch Rütimanns Abenteuerlust dem Werk jedenfalls immanent.
Die Umnutzung von Räumen wurde über diese Arbeit ein zentrales Thema für den Künstler, es begleitet ihn bis heute. „Es sind immer Orte im Wandel, Orte an denen ein Umbruch passiert, die mich interessieren und die ich mit der Skulptur aufsuche“, erklärt der Künstler.
Nach Zürich folgten Stationen in Zug und Luzern. Für das Bone-Festival in Bern fertigte Rütimann 2018 eine zweite Kugel, weil die erste in Luzern für eine Ausstellung im dortigen Kunsthaus in vier Teile zerlegt worden war.
Öffentlicher Abtransport und Performance in Steckborn
Von Bern ging es weiter nach Frauenfeld, Arbon und schliesslich im vergangenen September nach Berlingen ans Adolf-Dietrich-Haus der Thurgauischen Kunstgesellschaft. Dort überwinterte die Holzskulptur. Aber nun ist der Winterschlaf vorbei: Am Samstag geht die Reise weiter. Um 15 Uhr wird die Stachelkugel abtransportiert (jeder kann zuschauen) und für ein paar Tage (bis zum 8. Mai) an den Turmhof in Steckborn verlagert. Judit Villiger bindet das Werk in ihre aktuelle Ausstellung „Den Atlas öffnen“ im Haus zur Glocke ein. Christoph Rütimann selbst zeigt ab 17 Uhr die Performance „Einigelung“ zu seiner Skulptur.
„Die Miniarchitektur bietet einen Zufluchtsort und ist gleichzeitig Skulptur auf öffentlichem Grund. An der Schnittstelle von individuellem und sozialem Raum kann Rütimanns Einigelung als konzentrierter Rückzug verstanden werden“, schreibt Judit Villiger in ihrer Einladung zur Performance.
Video: arttv.ch-Beitrag zum Kulturpreis 2016
Am 8. Mai geht es weiter ins Kloster Bellelay
Ein Rückzug, der noch nicht endet: Von Steckborn aus führt die Reise weiter in den Kanton Bern. Genauer gesagt ins Kloster Bellelay im Berner Jura. Neben der „Einigelung“ werden dann auch weitere Arbeiten von Christoph Rütimann im Kirchenraum der Abtei zu sehen sein. Hier will der Künstler an seine Biennale-Arbeit „Schiefe Ebene“ anknüpfen.
Auf den Sakralraum der barocken Kirche San Stae reagierte Rütimann damals (1993) mit einer schiefen Ebene, die vom Boden schräg gegen den Altarbereich ansteigt. „In ihrer schlichten Klarheit setzt sie einen Kontrast zur Barockarchitektur, wobei der Künstler den Kirchenraum neu definiert im Aufeinanderprallen unterschiedlicher Epochen“, schreibt Konrad Bitterli im Künstlerlexikon Sikart.
Grosse Rütimann-Ausstellung ab Juni in der Abtei
Etwas Ähnliches will Christoph Rütimann nun in Bellelay erneut installieren. „Es ist zwar ein Rückgriff auf eine alte Arbeit, aber es entsteht trotzdem etwas Neues. Das Konzept ist für jeden Ort anders“, erklärt der 66-Jährige. Diese schiefe Ebene, die Holzskulptur „Eine Einigelung“ und in der Schweiz bislang noch nicht gezeigte Hinterglasmalereien von Rütimann sollen dann ab 19. Juni in der Abtei Bellelay zu sehen sein.
Weitere Texte über Christoph Rütimann aus unserem Archiv
Klassifikation des Geländes: Was hat ein zeitgenössischer Multimediakünstler wie Christoph Rütimann mit dem Bodensee-Maler Adolf Dietrich gemein?
Der talentierte Herr Rütimann: Porträt über und Atelierbesuch bei Christoph Rütimann anlässlich der Kulturpreisverleihung 2016.
Auf Sisyphos`Spuren: Christoph Rütimanns Performance bei der Werkschau Thurgau 2019 in der Kunsthalle Arbon.
Lob eines Linientreuen: Bericht von der Kulturpreisverleihung 2016.
Video: Christoph Rütimann beim Bone Performance Festival Bern (2018)
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