von János Stefan Buchwardt, 17.04.2020
Klassifikation des Geländes
Eine fabelhafte Überraschung: Adolf Dietrich getaucht in die Welt Christoph Rütimanns und umgekehrt. Der abschliessende Artikel der Serie «Dietrich und wir» will dazu beitragen, die auferlegte Ausstellungsstille der Ittinger Museen in Corona-Zeiten zu durchbrechen. Aufschlüsselnde Gedankengänge dürfen das Live-Erlebnis ersetzen.
Bedachtsamkeit und ausgesucht Abgestimmtes sind beiden zu eigen, auch wenn der Schweizer Künstler Christoph Rütimann, wo Adolf Dietrich mit seinen Mitteln beschaulich und überschaubar aufbricht, seinerseits strategisch vielfältig, immer aber gefasst ausufert. Im Kunstmuseum Thurgau erfuhr ein Ausstellungsraum im Rahmen der Präsentation «Konstellation 11 - Dietrich & Co.» eine beeindruckende Dialogkomposition, bei der die Multimedialität eines modernen Standpunkts mit durchdringend scharfen Berlinger Sichtweisen straff verwuchs.
Die Rezepturen hiessen: Man nehme erstens eine Handvoll Dietrich-Bilder, solche mit dem Charakter des Publikumslieblingshaften besetzten, und hänge eine gemalte Linie nahtlos dazwischen. Man kombiniere zweitens eine eigenwillig raumgreifende Installation mit passendem Unterseekünstler-Material und lege noch mit einem i-Tüpfelchen-Werk nach, einem passionierten Panoramabild von Berlingen. Heraus kommen charmante Vibrationen, die sich auf intimen Einklang verständigen.
Konturierung über Leitlinien
Gezeichnetes, Gemaltes oder Skulpturales ist Rütimann ebenso nah wie das Performative, Klang- und Textliches, die Foto- oder Videoarbeit. Trotz immenser Ideen- und Materialvielfalt bleibt er erkennbar und seinen Grundprinzipien treu. In der Bandbreite diverser Ausdrucksformen schält sich Elementares heraus. Das Linienspiel wird zum Schlüsselbegriff. Das Geradeaus der Geraden scheint seinem Künstlerwesen tief eingeschrieben zu sein.
Über unermüdliche Geländeerforschungen anhand von stichhaltigen Verfilmungen spielt Rütimann diese Linienbesessenheit aus, ist doch seine spezielle Aufnahmestrategie nichts anderes als ein Schauen entlang einer Linie, wie der Museumsdirektor Markus Landert erläutert. Im letzten Jahr seien einige von den Handlauf-Videoarbeiten angekauft worden, und da mache es durchaus Sinn, wenn mindestens eine aus dem Thurgau stamme, hier konkret mit Bodensee-Motiven.
Interferenzen im Charakterbild
Rütimanns rasant rollende Perspektiven der statischen Multiperspektive von Adolf Dietrichs Bildern gegenüberzustellen, führt zu generellen Klassifikationen. In Bezug auf Dietrich: Aneignung von Schmuckausschnitten direkter Gegenwart, die sich, über eine Verfügbarmachung des nachbarschaftlich Geschauten, zu ausgefeilten Gemälden metamorphosiert. Auf Rütimann: ein zum Pokalspiel mutierendes konzeptuelles Trickspiel, das in einer gebändigten Zugkraft des Linearen mündet, angestossen von erfinderischem Erkundungsdrang respektive unermüdlicher Zugriffslust auf die Besonderheiten und Weite der Welt.
Beide (er)forschen auf ihre Art. Schon beim ersten Rundumblick führt das zu verblüffendem Einvernehmen. Gegenüberstellung wird zur Symbiose, da wo etwa eine gemeinsame Faszination für die vitalen Grautöne exemplarischer Winterlandschaftsszenerien aufbricht, sei es in der beschriebenen Gefildefahrt durch die Lebendigkeit erstarrter Eisschollen oder im einsamen Eisvogelflug über dem Untersee.
Indirektes Stimulans
Wollte man das Wesen des Künstlerpaars plakativ hochstilisieren, man würde ihm, neben fasslicher Agitationsfreude, die zephirischen Züge einer modernen Pan-Tau-Märchenfigur zusprechen. Wer und was von Rütimanns Strukturen durchfahren wird, mag sich, metaphorisch gesprochen, von einem warmen Alice-im-Wunderland-Stachel durchbohrt fühlen. Dinghafte Gaukelei versus sachliche Magie? Dem Eindruck provokanten Humbugs mag Rütimann näherstehen als sein Unterseekollege. Beide aber gebärden sich auf ihre Art ernsthaft und unaufdringlich, zwischen Faktum und Phantastik, Isolation und Kordialität.
Schillernde Spannungsebenen tun sich auf, in Ausformung wie Reduktion, wenn der zehnteilige Linienakt Rütimanns Dietrichs Motivfelder gleichermassen einfasst wie durchstösst, wenn die Üppigkeit des Pflanzlichen und Kreatürlichen und die Simplifizierung des Essenziellen gleicherweise Ebenmässigkeit versprühen wie sie intuitiv reiche Ausprägung begradigen.
Linie als Werkzeug
Rütimann spricht von der Linie als Bestandteil seines Instrumentariums. «Zuerst ist sie Zeichnung», erklärt er, «dann wird sie zum installativen Werkzeug, das stabilisiert und bewegt.» Indem sie (nicht nur) im Ittinger Arrangement einen Horizont setze, bezöge sie sich auf genau diesen dringenden Aspekt in Dietrichs Bildern. «Die gerahmten Linienteile», führt Rütimann weiter aus, «machen das Ausschnitt- und Fensterhafte bewusst und arbeiten den Schaukasten-Charakter bei Dietrichs breitgerahmten Bildern heraus.»
Die Linie sei Begegnung und Grundprinzip von Gestaltung. Das hätten sie gemeinsam. Sie gewichte das Oben und das Unten. In Dietrichs «naiven» Bildreduktionen erkenne er eine stark ins Lineare tendierende Malerei. Analytisch schlüsselt er auf: «In der Unterteilung der Bildelemente erfährt das Linienhafte hier starke Betonung. So entstehen (vorgezeichnete) Flächen, die mehr oder weniger mit Farbe angefüllt werden.» Ganz im Unterschied zu ihm selbst, der der Farbe volle Autonomie gäbe, sei Dietrich jemand, der nie direkt aus einem Farberlebnis heraus gestalte.
Geerdeter Grossgeist
Ob nun monochrome oder starkbunte Beschwörungen aus ländlicher Stube im Untersee-Dorf oder eine geradlinige, unter (müll)heimischen Scheunendächern erdachte Performance, die Stätten an See- und Kreuzlingerstrasse waren und sind auf ihre Art erd- und geistverbundene Handwerkskammern. Beider Künstler Werke, von vergangener und gegenwärtiger Agilität und Konzentration zeugend, bringen, wo sie ab frühem Alter freigegeben zu sein scheinen, doch gleichzeitig die unglaubliche Lebendigkeit greisenhafter Weisheitsschübe in Fahrt.
Beide setzen sich über das Zivilisatorische hinweg: Im persönlichen Rückzug aus Routinen und verhockten Formen gewinnen sie existenzielle Freiheiten, die sie, gemäss ihrer (einsamen) Berufung, für solistische Fokussierungen sensibilisiert. Als Künstler machen sie sich persönlich zum integralen Teil ihres Werkes, jonglieren mit abenteuerlichen Handlungen und unglaublichen Scharfstellungen. Beseelte Präzision bei Dietrich, schmucklos entfesselter Spieltrieb bei Rütimann.
Spielerische Belebung
Die geruhsam aufreibenden Interaktionen der Ausgabe 11 der Ittinger Konstellationen-Serie provozieren also verbindungsstiftende Prämissen. Seinerseits durchforschend erläutert Landert: «In dem Moment, wo ich eine Linie in einen Raum hänge, produziert sie einen Horizont. Wenn ich Bilder dazwischen hänge, werden sie eingespannt und gebrochen. Die Eingebundenheit in einen zeitgenössischen Horizont erzeugt so eine wechselseitige, vor allen Dingen aber unheimliche Kraft, die sich über die Wahrnehmungspsychologie und die Gestalttheorie aufschlüsseln liesse.» Es habe sehr viel Spass gemacht, die Dinge so zusammenzubauen.
Dieses thurgauische Kombinieren von Kunstschlaglichtern wird geradezu zur Fügung. Dass in der Kartause kuratorisch, hier vielleicht fassbarer als üblich, weniger die Potenz der Konfrontation als die Offenheit vorurteilsfreier Einbettung auf den Plan tritt, ist Verdienst des Museumsdirektors und Rütimanns selber. Konstellative Fühlungnahmen zeitigen Vergleiche, die den vorderhand so unterschiedlichen Urhebern eine künstlerische wie auch (mit)menschliche Verschmelzung auferlegen.
Fragen nach Bewegtheit
In seiner obsessiven Beteuerung des Linientreuen öffnet Rütimann uns die Augen für sinnsuchende Setzungen. Anglizistisch angereichert: Darüber, dass er sich auf Zu- und Ableitungen konzentriert, sich vom gerichteten Sog «thickheaded» erfüllen lässt, Führungslinien physikalisch, geometrisch und topographisch aufspürt, Grenzziehungen «extremely foolish» vornimmt und abfährt, das Vorwärtsstrebende und Ins-Gang/Gehen-Gebrachte verfolgt und selber mannigfaltig gerade, aber auch gebogene Richtschnüre zwei- und dreidimensional setzt, schafft er das für ihn typische Animations- und Produktionsfeld, gewissermassen seine «crackbrained idea».
Mit vorgelebtem Zwinkern und der gutgläubigen Wendigkeit eines konzentrierten Hochseilartisten lassen sich so mit Rütimann verschiedene Positionen modernen Kunstausdrucks instinktiv, aber auch analytisch nachvollziehen. Sie mittels sachbezogener Lust auf Funktion und Relevanz hin abzuklopfen, kann schlichtweg zu einem Genuss werden.
Linie als Festmassstab
Weit entfernt vom Stil landläufigen Magazin-Journalismus liesse sich von Rütimanns nackter Wucht weltenräumlicher Ausdehnungsliebe sprechen. Analog dazu von einer mikrokosmischen Durchforstung heimatlicher Gestade bei Dietrich. Es heisst, der Ursprung der Kultur läge im Spiel: handfest und erdbezogen, metaphorisch und mythologisch. Der Homo ludens würde dem Homo sapiens wie dem Homo faber in nichts nachstehen? Ja. Sinn, Denken, Tätigsein und Tatenfreude ist brennenderweise auch durch (das) Spiel belegt.
Dass der Bericht über einen Ausstellungsraum zur ausführlichen Festrednerei avanciert, die das Performende und die leise Oppulenz, die Bündelung und Intensität unserer frappanten Kunstgenossen mit sprachkreisenden Mitteln zu spiegeln versucht, mag aus der (unfreiwilligen) Musse der ausserordentlichen Weltlage resultieren. In Pandemiezeiten sei es gestattet, sinnenfreudig auszuholen und nicht zuletzt auch schleichender Dauererregtheit oder -abgestumpftheit etwas entgegenzusetzen.
Pulsierende Membranen
Zusammenfassend: Im beschriebenen Künstlerpaar ist Verwandtes am Werk, ob nun eingezäunt oder grenzüberschreitend, verschneit oder vereist, am Stubentisch oder hinterm Scheunentor. Mal sind die ausgeübten künstlerischen Handlungen und Materialisierungen sparsam, mal spektakulär. Mal tarnen sie ihre Orakelhaftigkeit, indem sie Gefälligkeit sprechen lassen, mal stellen sie gesellschaftliche Regelwerke narrenhaft auf den Kopf.
Ausser Frage steht: Durch gezielte Nadelstiche haben sich der verstorbene Berlinger und der lebensfrohe Müllheimer längst tief in Zeitlosigkeiten eingenistet. Mit (über)reichem Innenleben und einnehmenden Zügen ausgestattet zählen sie zu den ausgereiftesten Künstlerfiguren auf thurgauischem Boden und weit darüber hinaus. Als sich selbst aus ebenbürtigem Zeugungswillen heraus neu Aufstellende bieten sie sich und uns auf differierende Art existenzsichernden Nährstoff. Die Gravität, aber auch die Gravidität historischer Zellenwände zu pulsierenden und von wohltuender Symbiose kündenden Membranen gemacht zu haben, weiss Gott, da dürfen sich zwei heimische Dörfer ordentlich die Hände schütteln. (Oder sich während Pandemiezeiten in gebührendem Abstand herzlich zuwinken …)
Die Serie «Dietrich und wir»
Als die Serie startete war die Welt noch eine andere und das Coronavirus ein chinesisches Problem. Das hat sich längst geändert. Auch in der Schweiz liegt das öffentliche Leben darnieder, die Museen sind geschlossen, um der Epidemie irgendwie Herr zu werden. Unsere Serie zur Ausstellung «Konstellation 11 – Dietrich & Co.» im Kunstmuseum Thurgau wollen wir dennoch fortsetzen. Weil die darin erschienenen Texte wertvoll sind und wir so die Kunst in schwierigen Zeiten ein wenig lebendig halten können.
Christoph Rütimann zählt zu den beeindruckendsten Künstlern im Thurgau. Mit ihm findet unsere Dreierserie, quasi live aus dem Kunstmuseum Thurgau, ihr Ende. Zuvor war auf Judit Villiger und Richard Tisserand scharfgestellt worden. Zweifellos sind die Konstellationen zwischen Adolf Dietrich und Künstlerinnen und Künstlern unserer Zeit hochinteressant und anspruchsvoll.
Die Ausstellung: «Konstellation 11 – Dietrich & Co.» wäre noch bis zum 13. April 2020 im Kunstmuseum Thurgau zu sehen gewesen. Details zum Betrieb und die Möglichkeit eines kleinen virtuellen Einblicks in die Präsentation sind auf der Internetseite des Museums zu finden.
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