von Inka Grabowsky, 07.02.2024
Der lange Arm der Reichenau
«Frau & Bau. Geburt einer Hauptstadt» hat das Historische Museum Thurgau sein Jahresthema überschrieben. Im Zentrum steht dabei das Schloss Frauenfeld. Was das mit der deutschen Insel zu tun hat, erklärte jetzt ein Historiker. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
«Wir wollten schon lange einmal die Frühzeit von Frauenfeld thematisieren», erklärt Gabriele Keck, noch bis Mai Direktorin des Museums. «Wir stellen immer wieder fest, dass das Schloss Frauenfeld eigentlich unser wertvollstes Objekt ist. Die Besucher kommen von weit her, um das Gebäude zu besichtigen. Für manche treten die Exponate in den Vitrinen in den Hintergrund.»
Hier kann man seit 2015 die Dauerausstellung «Zankapfel Thurgau» bewundern, die sich auf die Zeit zwischen dem Konzil (1414) bis zur Reformation (1517) konzentriert. Nun also wird der Blick 200 Jahre weiter zurück gerichtet, als um 1230 die Burg gebaut wurde und die Abtei Reichenau in vierzig Kilometern Entfernung Herrin über weite Teile der Region war.
Geschichte mit vielen Kapiteln
Um zu erklären, warum und wie die Stadt Frauenfeld entstanden ist, hat das Museum ein umfangreiches Rahmenprogramm auf die Beine gestellt.
Eine neue Audiotour vermittelt Fakten und Anekdoten rund um das Schloss. Eine 3-D-Animation in der Ausstellung erzählt die Geschichte des Schlossbaus im Zeitraffer. Und bei speziellen Führungen kann man das Gebäude etwa mit den Augen des Bauforschers Heinz Pantli betrachten (9. März), sich im Abendvortrag Fräuli und Leuli auf dem Wappen vom Heraldiker Hans Rüegg analysieren lassen oder im Museumshäppli bei Archäologin Iris Hutter über Wohntrends im 13. Jahrhundert informieren (29. August).
Verbindung zum Jubiläum
Das Jahresthema steht in Zusammenhang mit der grossen Landesausstellung im Konstanzer Archäologischen Landesmuseum zum 1300. Jahrestag der Gründung des Klosters Reichenau. Die Thurgauer stellen dafür eine Glasscheibe mit der Abbildung der Gründungslegende Frauenfelds aus dem Jahr 1543 als Leihgabe zur Verfügung.
Der Abt der Reichenau hat der Überlieferung nach als «Heiratsvermittler» dabei eine entscheidende Rolle. «Das Jubiläum ist für uns ein zusätzlicher Anlass für das Jahresthema», so Gabriele Keck. «Die Reichenau hatte für den Thurgau eben einen gewaltigen Stellenwert.»
Wie sich diese Bedeutung äusserte, erklärte Harald Derschka, Mittelalter-Experte und ausserplanmässiger Professor an der Universität Konstanz, bei einem Vortrag zur Rolle der Abtei als Grund-, Gerichts- und Lehnsherrin im Thurgau. Rund 250 Menschen hatten sich zu seiner Freude im Bürgersaal im Rathaus Frauenfelds eingefunden. «Ich halte meine Vorträge auch mal vor vier Zuhörern bei der Volkshochschule, aber natürlich ist es schön, dass sich so viele Menschen für das Thema interessieren.»
Raststätten und Seelenheil
Der Historiker räumt ein, dass vieles aus der Frühzeit der Klostergründung nicht wissenschaftlich belegt ist. «Wir können aber als gegeben annehmen, dass um das Jahr 724 herum der Gründungsabt Pirmin, der alemannische Adel und der fränkische König zusammengearbeitet haben. Und dabei machten Kirche und Staat ein Geschäft auf Gegenseitigkeit.»
Im frühen Mittelalter zogen die Könige von Pfalz zu Pfalz. Sie hatten keine feste Hauptstadt. «Die Klöster boten sichere Stationen. Sie kannte sich aus mit Logistik und der Güterverwaltung. Also waren sie Dienstleister für den Hof.»
Dazu kamen selbstverständlich religiöse Dienste. Das erklärt auch, warum die Adeligen aus der weiten Umgebung der Abtei Ländereien schenkten. «Die Antwort liegt im Glauben an die Macht des Gebets. Der Adel hatte die Pflicht, Recht zu sprechen und gegebenenfalls auch Todesurteile zu verhängen, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Damit verstiess er aber gegen die göttliche Ordnung, das fünfte Gebot. Er musste Busse tun. Und das übernahmen stellvertretend Profis. Die Erträge aus den geschenkten Ländereien sorgten dafür, dass die Mönche genug Zeit zum Beten hatten.» In gut 200 Orten hatte die Reichenau letztendlich Grundbesitz. «Der Name ‹reiche Au› klebt bis heute an der Insel.»
Wie gewonnen so zerronnen
Aber: Kein Reichtum hält ewig. Das Kloster war verpflichtet, Ritter für Feldzüge zur Verfügung zu stellen. Im Jahr 981 zum Beispiel musste der Abt Kaiser Otto II. sechzig Ritter schicken. «Um die Ausrüstung eines einzigen Panzerreiters zu finanzieren, brauchte man den Ertrag eines Dutzend Bauernhöfe», erläutert Harald Derschka. «Das Kloster rekrutierte Krieger, indem es entsprechend viel Agrarland als Lehen vergab. Damit war das Land dem Kloster faktisch entzogen. Die Abtei hatte nur noch informellen Einfluss.»
«Gotteshausleute» und Patronatspfarreien
Im Laufe der Jahrhunderte konsolidieren die Äbte den Besitz und den Herrschaftsbereich wieder. Als im 13. Jahrhundert die Frauenfelder Burg errichtet wurde, hatte das Kloster im Thurgau die niedere Gerichtsbarkeit inne. Die Reichenau konnte also ins Leben der Thurgauer eingreifen.
«Die Gemeinden waren allerdings durchaus selbstbewusste Verhandlungspartner», so Derschka. Ganz anders erging es den «Gotteshausleuten», die als Freie und Leibeigene von der Abtei abhängig waren. Als Unfreie waren sie gemeinsam mit einem Stück Land übernommen worden. «Das brachte allerdings nicht nur Belastungen, sondern auch Privilegien mit sich. Sie bekamen eher ein Lehngut zum Bewirtschaften oder ein öffentliches Amt.»
Als besonders «wirkmächtige Institution» bezeichnet der Experte die Patronatskirchen, über die das Kloster direkten Einfluss auf die Gemeinden hatte. 44 davon sind bekannt, mehr als ein Dutzend lag im Thurgau, jeweils dort, wo die Abtei auch Grundbesitz hatte. Der Abt bestimmte hier den Pfarrer. Er wurde von der Reichenau ausgebildet und entlöhnt. «Damit gab es loyales Personal an einer Schlüsselstelle», so Derschka.
Wissen zum Nachlesen
Passend zum Reichenau-Jubiläum hat Harald Derschka ein Buch zur Geschichte des Klosters Reichenau geschrieben, das für 24 Euro zu haben ist. Viele Institutionen haben das Projekt mit Druckkostenzuschüssen unterstützt, unter anderem der Kanton über den Lotteriefonds und die Thurgauer Gemeinden Steckborn, Ermatingen und Salenstein.
«Das Buch ist zwar wissenschaftlich exakt, aber mit etwas gutem Willen ist es für jeden lesbar», sagt der Autor mit einem Schmunzeln. 130 Abbildungen auf 456 Seiten helfen nachzuvollziehen, wann was wo und warum passiert ist.
Von Inka Grabowsky
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