von Inka Grabowsky, 09.11.2023
Welterbe des Mittelalters
1300 Jahre ist es her, dass die Reichenau zu einer Klosterinsel wurde. Baden-Württemberg begeht das Jubiläum 2024 mit einer Grossen Landesausstellung. Die ersten spektakulären Ausstellungsstücke, die als Leihgaben nach Konstanz ins Archäologische Landesmuseum kommen, wurden jetzt vorgestellt. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Rund vier Jahre wird die Grosse Landesausstellung schon vorbereitet, da ist es nicht zu früh, ein paar Monate vor der Eröffnung im April 2024 auf die schönsten Ausstellungsstücke aus der Region hinzuweisen. Leihgaben aus ganz Europa werden zeigen, wie wichtig die Rolle der Reichenau im Mittelalter als kulturelles und politisches Zentrum war.
Einige der am Bodensee entstandenen Zeitzeugnisse haben es im Laufe der vergangenen 1300 Jahre nach Paris, Venedig, Trier oder Brescia verschlagen, andere in das nur rund fünfzig Kilometer entfernte St. Gallen. Professor Eckart Köhne, Direktor des Badischen Landesmuseums und Leiter des Ausstellungsprojekts, freut sich, dass die St. Galler Stiftsbibliothek bibliophile Schätze bewahrt hat: «Wir wissen, dass Werke aus dem Skriptorium der Reichenau schon im Mittelalter nach St. Gallen gelangten. Und das ist deshalb gut, weil es hier eine ungebrochene Tradition gibt. Die Bibliothek auf der Reichenau wurde aufgelöst, jene in St. Gallen hat bis heute Bestand. Schon beim Konstanzer Konzil hatten sich viele Geistliche bei den Reichenauer Büchern bedient. Bei Krisen und Kriegen wurden Bücher von der Insel gebracht. Und die Reste gingen vor 200 Jahren an Universitätsbibliotheken.»
Reginberts unverwechselbare Handschrift
Zwei Bücher, die seit über tausend Jahren in der Stiftsbibliothek aufbewahrt werden, erzählen spezielle Geschichten von der Bedeutung der Reichenau für die abendländische Kultur. Das Wolfcoz-Evangelistar ist um 830 auf der Bodensee-Insel geschrieben worden. Das vermutet man jedenfalls seit ein paar Jahren. Zuvor ging man von St. Gallen als Fertigungsort aus. «Die Wissenschaftler hatten misstrauisch gemacht, dass die Reichenauer Lokalheiligen Georg, Markus und Pankraz in einem Anhang aus dem zehnten und elften Jahrhundert aufgeführt wurden», so Professor Köhne. Die drei werden auf der Reichenau gemeinsam verehrt. Eine genaue Schriftanalyse erlaubt es inzwischen sogar, auf den Menschen zu schliessen, der die Feder geführt hat. «Reginbert, der gelehrte Bibliothekar der Reichenau, hat die Eigenart, die P’s und die T’s mit einem Schlenker zu verzieren. Und genau das sehen wir im Evangelistar», erklärt der Historiker Marvin Gedigk vom Landesmuseum in Karlsruhe.
Der Urenkel von Benedikts Ordensregeln
Eine Abschrift der Benedikts-Regel, die um das Jahr 900 entstand, gehört wegen ihres direkten Bezugs zur Reichenau zu den wichtigen Exponaten. «Sie ist ziemlich sicher in St. Gallen geschrieben worden», so der stellvertretenden Stiftsbibliothekar Philipp Lenz, «aber im Buch enthalten sind quasi die Quellenangaben, und sie verweisen auf die Reichenau.»
Die Geschichte ist verzwickt: Die Regeln für Mönche waren den Klöstern wichtig. Seit 816 galten sie in allen Reichsklöstern der Karolinger – also nicht nur bei den Benediktinern. Sie wurden regelmässig beim Stundengebet verlesen. Deshalb war es auch wichtig zu betonen, dass man wirklich den Originalideen von Benedikt folgte. Und darum berichtete jeder Mönch, der ein Buch kopierte, was seine Vorlage war. Ein St. Galler Mönch schrieb eine Regel ab, die ihrerseits von Grimalt und Tatto, zwei Mönchen von der Reichenau, kopiert worden war. Abt Haito hatte sie an den Hof Karls des Grossen geschickt, um dessen Exemplar abzuschreiben. Dieses wiederum war mutmasslich eine Kopie des Originals, das Benedikt um 540 geschrieben hat. Grimalt und Tatto berichten in einem Brief aus dem Jahr 817 an den Abt von ihrer Arbeit. Als Echtheitszeugnis hat der St. Galler Kopist ihn mitabgeschrieben. Da das Reichenauer Exemplar verschollen ist, ist seine Abschrift umso wertvoller.
Menschliche Spuren
Es sind die Ergänzungen der Schreiber, die heutige Betrachter:innen besonders berühren. Die gebildeten St. Galler Mönche beispielsweise hatten in ihrer Vorlage Rechtschreibfehler im lateinischen Text entdeckt. Als brave Philologen übertrugen sie diesen Buchstabe für Buchstabe, aber sie ergänzten sie mit höflichen Anmerkungen im Sinne von «heute würde man das anders formulieren». Ihr Werk ist allerdings nicht immer durch so gewissenhafte Hände gegangen. An die Ränder des Pergaments sind Skizzen und Karikaturen gekritzelt – offenkundig war es Leser:innen der vergangenen Jahrhunderte langweilig geworden. Sie fingen an zu zeichnen.
Vertrauensvolle Zusammenarbeit
Die St. Galler Stiftsbibliothek verzichtet nicht leichten Herzens auf zwei ihrer Schätze. «Wir tragen aber gerne zum Wissenszuwachs bei», sagt Philipp Lenz. «Und wir sind wie jedes Museum auch Wissenschaftskommunikatoren.» Die Bücher werden in anderem Zusammenhang gezeigt als üblich, das lässt Verbindungen erkennen, auf die man sonst nicht ohne Weiteres käme. «Es hilft ungemein, dass wir uns schon seit einigen Jahren kennen und der wissenschaftliche Beirat der Ausstellung so hochkarätig ist», so der Bibliothekar. Eine wissenschaftliche Tagung im vergangenen März vertiefte die Kontakte.
Informations-Infrastruktur bleibt
Um zum Jubiläum auf die Bedeutung der Reichenau hinzuweisen, werden im kommenden Jahr auf der Reichenau wie auch im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz viele Geschichten erzählt: durch die kostbaren Originale, über einen Audioguide oder digitale Informationsvermittlung. «Die zeitgemässe Museumsinfrastruktur ist etwas, das auch nach dem Ende der Ausstellung bleibt», verspricht der Gesamtleiter Eckart Köhne. «Wir geben uns wirklich Mühe, die komplexe Geschichte verständlich zu erklären.»
Grosse Landesausstellung «Klosterinsel Reichenau – Welterbe des Mittelalters»
Das Archäologische Landesmuseum in Konstanz und die Insel Reichenau sind vom 20. April bis 20. Oktober 2024 Schauplätze der Grossen Landesausstellung «Klosterinsel Reichenau – Welterbe des Mittelalters». Die Hauptwerke der Reichenauer Handschriften wurden 2003 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe ernannt. Anlässlich des Jubiläums «1300 Jahre Klosterinsel Reichenau» führt das Badische Landesmuseum diese Kunstwerke erstmals seit Jahrzehnten in diesem Umfang wieder zusammen.
Von Inka Grabowsky
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