von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 10.03.2025
Lektionen in Mut

Der St. Galler Künstler Hans Thomann hat eine Bronzeskulptur in Erinnerung an den NS-Widerstandskämpfer Georg Elser gestaltet. Damit wird jetzt die deutsche Journalistin Dunja Hayali ausgezeichnet. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Manchmal findet sich das Drama eines Lebens auch in einer schnöden Aktennotiz. Zum Beispiel damals am 8. November 1939. Der deutsche Schreiner und NS-Widerstandskämpfer Georg Elser hatte gerade eine massive Bombe im Münchner Bürgerbräukeller deponiert, um den deutschen Diktator Adolf Hitler zu töten. Seine Sprengladung ist noch nicht explodiert, da ist er bereits auf der Flucht. Von München reist er Richtung Konstanz (seine alte Heimatstadt). Dort will er über die Grenze in die nahe Schweiz flüchten.
Nicht viel hat gefehlt, und sein Plan wäre aufgegangen. Aber dann kommt alles anders. Zwei Grenzbeamte werden auf Elser aufmerksam. Xaver Rieger ist einer von ihnen. In seiner Meldung über die Festnahme von Georg Elser schreibt er am 15. Dezember 1939: „Zwischen 20:40 und 20:45 Uhr trat plötzlich hinter dem Gebäude eine Gestalt hervor, die nach kurzem Beobachten des Geländes schleichend und äußerst eilig der Grenze zustrebte. Der Abstand von mir zu der Gestalt betrug ungefähr 15 bis 20 Meter.“
Der Rest ist Geschichte. Elser wird festgenommen, verhört, gefoltert und schliesslich, kurz vor Kriegsende, am 9. April 1945, im Konzentrationslager Dachau ermordet.

Der Moment der Erschütterung
Und doch gibt es in der Notiz des Zollbeamten Xaver Rieger diesen einen Moment, in dem man spürt, wie Elsers Welt schon 1939 zusammenbricht. Rieger schreibt: „Vor der Einlieferung in die GASt (Grenzaufsichtsstelle) blieb Elser noch einmal vor der Tür stehen und warf noch einen Blick nach der Schweiz. Es erweckte den Eindruck, als ob Elser noch im letzten Moment in die Schweiz flüchten wollte. Als Elser jedoch meinen schußbereiten Karabiner sah und ich ihm energisch zurief: „Da ist die Tür“, folgte er willig in den Durchsuchungsraum.“
Dieser letzte Blick zurück - jeder, der das liest, kann sich diesen lebenserschütternden Moment vorstellen. Georg Elser ahnte vermutlich, dass dies sein letzter Moment in Freiheit gewesen sein dürfte.
Als die Meldung vom Attentat Konstanz erreicht (um 21:20 Uhr war die Bombe in München detoniert), erregen einzelne Gegenstände in Elsers Taschen Verdacht. Nochmal Xaver Rieger dazu: „Er hatte Teile eines Zünders bei sich und eine unbeschriebene Ansichtskarte, die in bunten Farben die Innenansicht des Bürgerbräukellers darstellte.“ Die Gestapo bringt ihn nach München. Elser wird nie wieder frei kommen.


Ein Preis für Zivilcourage und Demokratie
Am 9. April jährt sich sein Todestag zum 80.Mal. Auch das ein Grund, weshalb die Crescere Stiftung Bodensee eine neue Auszeichnung im Namen von Georg Elser vergibt. Es soll eine „Auszeichnung für Zivilcourage und den Einsatz für unsere demokratischen Werte“ sein, schreibt die Stiftung.
Erste Preisträgerin wird die deutsche Journalistin Dunja Hayali, die Verleihung findet am Freitag, 14. März, in Konstanz statt. Hayali habe sich „wiederholt und unerschrocken für unsere demokratischen Werte stark gemacht, Zivilcourage gezeigt und ist gerade in unserer jetzigen Zeit, wo Demokratie keine Selbstverständlichkeit mehr zu sein scheint, ein Vorbild“, begründet die Stiftung die Wahl ihrer Premieren-Preisträgerin.
Hans Thomann (*1957) nickt zu all dem sehr zustimmend. „Ich finde es toll, dass die Stiftung an diesen mutigen Mann in diesen schwierigen Zeiten erinnert“, sagt der St. Galler Künstler in seinem Atelier unweit des Doms. Er trägt eine schwarze Hose, eine schwarze Jacke, Geschichtslehrer-Brille, ein bordeauxrotes Hemd und die Zuversicht eines Mannes im Gesicht, der schon viel Kunst gemacht hat in seinem Leben. Thomann hat eine spezielle Verbindung zum Preis - er hat die Skulptur gestaltet, die als Zeichen der Anerkennung an die Preisträgerin verliehen wird.

Die Gretchenfrage zu Georg Elser
Ein Dienstag in St. Gallen, nach vielen kalten Tagen steht die Sonne glitzernd am Himmel. Die Domuhr schlägt 10 Uhr und der Künstler winkt aus seinem Fenster: „Hier bin ich. Kommen Sie doch rauf zu mir“, ruft er mir zu. Drinnen sieht es geschäftig nach Arbeit aus. Auf Tischen und Werkbänken stehen Arbeiten von Thomann, Holzdielen knarzen unter den Füßen, ein Ofen heizt den lichtdurchfluteten Raum. Alles wirkt wohl geordnet und gut sortiert. Ein Hinweis auf die klaren Haltungen von Hans Thomann? Dazu später. Erstmal die wichtigste Frage: Herr Thomann, wie halten Sie es mit Georg Elser?
„Mich beeindruckt sein Mut. Und dass er unabhängig von seinem persönlichen Schicksal entschieden hat, jetzt handeln zu müssen.“
Hans Thomann, Künstler, über Georg Elser
Der Künstler überlegt kurz und sagt dann: „Mich beeindruckt sein Mut. Und dass er unabhängig von seinem persönlichen Schicksal entschieden hat, jetzt handeln zu müssen. Weil er gesehen hat, wohin der Hass der Nazis führen wird. Ich weiss nicht, ob ich seinen Mut gehabt hätte in der damaligen Situation.“ Als klar war, dass er die Skulptur für den Preis gestalten würde, hat er sich nochmal intensiv mit der historischen Figur Georg Elser befasst.
Natürlich auch mit der Debatte darum, ob die Tat angemessen war. Oder konkreter gefragt: Muss man Opfer in Kauf nehmen für einen übergeordneten Plan? Zwar überlebte Adolf Hitler das Attentat, aber es starben auch acht Menschen, mehr als sechzig wurden verletzt. Thomann will darüber nicht urteilen. Das sei auch nicht der Kern seiner Arbeit für den Elser-Preis.
Hans Thomann (*1957 in Niederuzwil, Schweiz) ist ein Schweizer Künstler, der als Maler, Bildhauer und Installationskünstler tätig ist. Er lebt und arbeitet in St. Gallen. Seine Ausbildung erhielt er an der Schule für Gestaltung in St. Gallen. Seit den 1980er-Jahren ist er als freischaffender Künstler aktiv. Seine Werke umfassen Skulpturen, Installationen und Malerei, wobei er oft gesellschaftskritische Themen aufgreift. Thomann erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter den Förderpreis der Stadt St. Gallen (1987) und den Kunstpreis der Stadt Konstanz (1990). Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Ausstellungen in der Schweiz und international präsentiert, unter anderem in Deutschland. Mehr über den Künstler auf seiner Internetseite.
Thomann hat in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen Disziplinen gearbeitet. Als Maler, Grafiker, Bildhauer und Installationskünstler. Auch viele Kunst-am-Bau-Projekte hat er realisiert. Und jetzt diese vergleichsweise kleine Skulptur. Thomann wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, darunter der Förderpreis der Stadt St. Gallen (1987) und der Kunstpreis der Stadt Konstanz (1990). Das wichtigste in der Elser-Recherche für ihn: Thomann wollte herausfinden, was den Menschen Georg Elser ausmachte, damit er diese Essenz in seine Skulptur giessen kann. Das Ergebnis?
„Standfestigkeit, Klarheit, Mut, Gegen-den-Strom-schwinden, Widerstände aushalten, auch wenn die Welt Kopf steht“, fasst Thomann seine Elser-Analyse zusammen. Und so wurde die Skulptur zu dem was sie nun ist: Schwergewichtig (rund zwei Kilogramm), massiv, und doch immer bereit sich gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegen zu stellen (die Figur ist drehbar, mal steht sie gegen den Strom, mal Kopf). Die Frage des Materials war schnell geklärt. Es sollte hochwertig, zeitüberdauernd und massiv wirken. Bronze passte da ziemlich gut. Dass es eine Skulptur in der Form eines menschlichen Körper werden würde, lag ebenfalls nahe.
Eine Gesellschaft unter Hochspannung
Die Oberfläche der Skulptur hat Thomann eigens bearbeitet, um den Eindruck einer Wasseroberfläche in Aufruhr einzubringen. Als Bild für eine Gesellschaft unter Spannung. Seine Arbeit für den Elser-Preis hat viele dieser kleinen klugen Elemente. Die hervorstechendste vielleicht: Sie ist sehr leicht verständlich. Die Botschaft drängt sich auch ohne Kunststudium auf. „Das war mir wichtig, um möglichst viele Menschen zu erreichen“, sagt Thomann dazu.
Obwohl es die Skulptur als Idee und Modell in Thomanns Kopf schon gab, bevor die Crescere-Stiftung ihn für den Preis angefragt hatte, wurde sie im Prozess doch immer mehr zur Elser-Figur, wie der Künstler erklärt. „Mit dem Preis wurde alles plötzlich viel klarer, die Richtung, die ich lange gesucht hatte, war nun offensichtlich“, gibt der 67-Jährige Einblicke in seinen Arbeitsprozess.

Alle wollen Wandel. Aber alle wollen ihren eigenen Wandel
Das Grundthema findet er trotz der historischen Bezüge immer noch sehr heutig. „Es geht um die Frage des Wandels, wie bekommen wir denn heute in einer polarisierten Gesellschaft hin, ohne uns gegenseitig anzubrüllen?“, fragt Thomann. Dabei sei ja im Grunde allen klar, dass es einen Wandel brauche, „nur die Richtung ist ziemlich strittig“, diagnostiziert der Künstler.
Viele Menschen seien zerrieben von der Gleichzeitigkeit von Hoffnung und Enttäuschung, in der Politik dominierten oft nur Lippenbekenntnisse. „Vielleicht müssen wir alle einsehen, dass es mehr Mut zur Tat braucht“, stellt Hans Thomann halb als Frage, halb als Appell in den Raum seines Ateliers. Überhaupt gehe es ja darum aus dieser gefühlten Ohnmacht auch ein Stück weit rauszukommen. Der Einzelne könne vielleicht nicht viel bewirken, aber wenn keiner etwas macht, dann bewegt sich eben auch nichts.
Raus aus der Betroffenheits-Demokratie
Genau diesen Gedanken hat er auch seiner Elser-Skulptur mitgegeben. Die Skulptur bewegt sich nicht von alleine. Es braucht schon einen Impuls von aussen „und ich finde, da sind wir alle gefordert“, sagt Thomann. Und was, wenn das nicht passiert? Tja, dann verharren wir eben in der „Betroffenheits-Demokratie, in der jeder nur darauf achtet, was ihm nützt und die Gemeinschaft verloren geht“, findet der 67-Jährige.
Eine erstaunlich aktivistische Haltung für einen Künstler, der sich lange als humanistisch und dem gesellschaftlichen Ausgleich verpflichtet betrachtete. Thomann widerspricht da nur halb. Humanist sei er nach wie vor, politisch sei er weiterhin in der Mitte der Gesellschaft verortet, „aber ich muss zugeben, dass der Pazifist in mir kleiner geworden ist. Es reicht heute nicht mehr aus, demonstrieren zu gehen. Den notwendigen Wandel erreichen wir nur mit Taten“, gibt er sich überzeugt.
Ein Ausdruck seines Zweifels kann man auch seinem künstlerischen Werk ablesen: In einer Ausstellung hat er mal die gerupfte Feder der Friedenstaube gezeigt. Es wäre vermutlich nicht falsch zu sagen, dass die Frustration über das Weltgeschehen, ihn zunehmend politisiert hat.
15 Bronze-Skulpturen stehen bereit
Die Arbeit an der Elser-Skulptur passte da gut in seine Stimmungslage. 15 Exemplare hat er für die Crescere Stiftung nun erstmal hergestellt, das heisst mindestens bis zum Jahr 2040 können die Elser-Skulpturen verliehen werden. Sie werde fortan „an weitere im Sinne unserer Demokratie engagierte Persönlichkeiten verliehen“, schreibt die Stiftung dazu. Die erste Preisträgerin Dunja Hayali stiftet das Preisgeld von 15’000 Euro übrigens an den Berliner Verein „Gesicht zeigen! - Für ein weltoffenes Deutschland!“
Aber kurz noch einmal zurück ins Atelier von Hans Thomann. Nach einer Stunde intensiven Gesprächs sagt er irgendwann: Kunst sei für ihn auch eine Möglichkeit den Dialog in der Gesellschaft neu zu eröffnen. „Kunst kann Horizonte erweitern und Perspektiven verschieben. Zum Beispiel in dem wir in unseren Arbeiten fragen: Wie sind wir in diese gesellschaftliche Lage gekommen? Und wie kommen wir da wieder raus?“ Das sei der Beitrag, den Kunst zur Debatte leisten könne. Ob das auch für die Elser-Skulptur gelte?
Gibt es am Ende doch so etwas wie Hoffnung auf Heilung?
Thomann lächelt auf diese Frage. „Bisher hat mich das niemand so gefragt, aber jetzt kann ich es ja sagen: Die Figur zur Skulptur basiert auf einem biologischen Genesungsprofil des menschlichen Körpers und das fand ich ziemlich passend. Viele der Dinge, für die Elser steht, würden auch unserer Gesellschaft heute gut tun. Ich habe die Hoffnung auf Heilung also noch nicht aufgegeben“, sagt Hans Thomann.
Das ist bei all der Welt-Unordnung da draussen nicht die schlechteste Botschaft, die von einem Kunstwerk ausgehen kann.
Die Gründerin des Preises: Crescere Stiftung Bodensee
Aus dem Wunsch des Konstanzer Stifters Thomas Seger heraus entstand 2021 die Crescere Stiftung Bodensee; zusammen und initiativ mit seinem langjährigen Freund und engem Vertrauten Wolfgang Münst. Seither können gemeinwohlorientierte Projekte in Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, Soziales und Sport gefördert werden. Dabei kann der Vorstand dank der vielfältigen Stiftungsziele sehr offen und breitgefächert agieren, immer mit dem Fokus auf dem nachhaltigen Stiften von Begeisterung.
Der Stifter Thomas Seger (1947–2022) war Diplom-Ingenieur und Stifter, der 2021 die Crescere Stiftung Bodensee gründete. Geboren am 21. April 1947 in Friedrichshafen, lebte er seit 1952 in Konstanz. Kurz vor seinem überraschenden Tod am 7. Februar 2022 überließ er der Stiftung sein beträchtliches Vermögen.Die Crescere Stiftung Bodensee fördert Projekte in den Bereichen Wissenschaft, Forschung, Bildung, soziale Projekte sowie Kunst und Kultur, wobei ein Schwerpunkt auf der Technikbegeisterung des Stifters liegt. Thomas Seger war der Öffentlichkeit eher unbekannt und lebte sehr bescheiden. Im Thurgau gibt es einen Ableger - die Crescere Stiftung Thurgau

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