von Anabel Roque Rodríguez, 26.06.2020
Auf der Suche nach Wildnis
Das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, von Mensch und Natur ist zentral für das Werk der Videokünstlerin Rhona Mühlebach. In diesem Jahr erhält sie den Adolf-Dietrich-Förderpreis.
Im vergangenen Jahr war die Künstlerin mit einem Atelierstipendium für drei Monate in New York und hat vor Ort einige Recherchen gemacht. Dort begann auch das Interesse an dem Konzept der Wildnis und dem romantisch verklärten Bild von Natur, in dem Menschen als Abenteurer in die Natur gehen.
Dieser Recherche geht sie im Augenblick weiter nach. So erzählt sie im Gespräch von dem aktuellen Europäischen Projekt «Rewilding Europe – Make Europe a wilder place» in dem in bestimmten europäischen Regionen Tiere wieder ausgewildert werden. «Mich fasziniert diese Art des Naturmanagement, dass man die Idee hat die Natur zu ‘verwildern’ und die nostalgische Idee von Wildnis und der Figur des Entdeckers.»
Was heisst das überhaupt - Wildnis?
Wildnis ist kaum noch ein Begriff, den wir im Deutschen häufig verwenden, aber der im englischsprachigen Raum viel häufiger genutzt wird. Gerade in den USA, ist die Idee der Wildnis stark mit dem amerikanischen Pioniergedanken und dem amerikanischen Traum verbunden. Die Wildnis zu zähmen wird zu einem Grundmotiv von Entdeckern und Abenteuern und hat die Zeit des 19. Jahrhunderts und des «Wilden Westens» mythologisiert.
Die Wildnis ist häufig mit der Entwicklung eines Männlichkeitsbildes, einer romantischen Idee von Freiheit und einer Art von Legendenbildung verbunden. Frauen kommen dabei häufig trivialere Bereiche zu. In ihrem Film «The five sisters» geht die Filmemacherin fünf Berghügeln nach, die durch Schieferaufschüttung entstanden sind und die aussehen wir Brüste. «Häufig werden Landschaften nach ihrer Ähnlichkeit zu Körperteilen benannt. Gender spreche ich nie explizit an, aber es ist schon ein Teil der Arbeit.»
Die heute 30-Jährige hat ihre Matura an der PMS Kreuzlingen abgelegt. Danach landete sie erst über Umwege in den Ausstattungsabteilungen der Theater Konstanz und Luzern, beim Film. Sie studierte an der Ecole Cantonale d’Art in Lausanne (ECAL), drehte erste Filme, ihr Diplomfilm „Abseits der Autobahn“, ein wunderbares Porträt eines Paares, das sich aneinander abgekämpft hat, erhielt mehrere Preise, unter anderem den Suisseimage/SSA-Nachwuchspreis an den Solothurner Filmtagen 2015.
Das Verschwinden des Ursprünglichen
Oft sind es überraschende Anekdoten in Texten, die sie liest oder eigene Erfahrungen, die sie zu neuen Arbeiten inspirieren. So auch bei «Loch Long» einer Meeresbucht an der Westküste Schottlands, die zwischen 1912 bis 1986 als Torpedotestgelände diente. Aus dieser Zeit gibt es noch zahlreiche Wracks und Überreste.
Es ist auch die Bucht, an der die Künstlerin tauchen lernte. In dem Film über die Bucht verwebt sie verschiedene Erzählstränge, von der Überwindung von Ängsten und der Konfrontation mit dem Unheimlichen unter Wasser, über die morbide Ästhetik des Ortes.
Man könnte den roten Faden in den Arbeiten von Rhona Mühlebach als eine Untersuchung von Orten bezeichnen, die was in der Künstlerin auslösen, oft poetisch, manchmal morbid, aber es ist eine Beziehung von Mensch und Natur, eine Art von Suche nach dem Ursprünglichen. «In allen Projekten interessieren mich Figuren, die was zu erzählen haben. Ich bin auf der Suche danach, wie das vom Menschen initiierte Verschwinden des ‘Ursprünglichen’ die Beziehung zwischen Menschen und Landschaft verändert.»
Emotionen in der Wissenschaft
Ein weiteres wiederkehrendes Thema in ihren Arbeiten ist der Stellenwert von Emotionen: wie wir uns zu Themen verhalten und wie diese Emotionen selbst schon den Diskurs zu dem Thema beeinflussen. «Mir ist es wichtig, dass alle meine Figuren in den Filmen Emotionen zeigen und sich auch Beziehungen entwickeln: das kann zwischen den Figuren sein, zu einem selbst, aber auch die Beziehung zu einem Ort.»
Im Augenblick beschäftigt sie sich mit Kriminalfilmen und dem Zwischenraum zwischen Theorie und Fiktion. «Mich interessieren wie wissenschaftliche Texte geschrieben sind, welche Sprache sie entwickeln. Wie Emotionen in diesen Texten auftauchen. Ich habe angefangen das Buch ‘History of Emotions’ von Rob Boddice zu lesen. Wissenschaftliche Texte sind ja eigentlich emotionslos, aber sie behandeln natürlich Emotionen. Wir erwarten Objektivität von wissenschaftlichen Texten, erwarten, dass sie emotionslos sind, aber faktische Texte arbeiten ja eigentlich viel mit Emotionen. So haben sich zum Beispiel unsere Emotionen zu Krankheiten im Laufe der Geschichte verändert. Ich finde das Verhältnis zwischen Fiktion und Science-Fiction und wie Theorien aufgestellt werden interessant. Der Zwischenraum an dem sich Wissenschaft und Fiktion treffen, ist ein Ort an dem ich mich gerne aufhalte.»
«Der Zwischenraum an dem sich Wissenschaft und Fiktion treffen, ist ein Ort an dem ich mich gerne aufhalte.»
Rhona Mühlebach, Künstlerin
Diese Fragen sind im Augenblick hochaktuell, da wir unser Verhältnis mit Krankheit und das Leben mit dem Unbekannten im Augenblick tagtäglich neu verhandeln müssen. Anfang März hat die Künstlerin ihre jüngste künstlerische Arbeit fertiggestellt, die den prophetischen Titel «Sudden Death» trägt. In dem Projekt geht es um eine Krankheit, die Eichen befällt. Mit Blick auf die gegenwärtige Situation bekommt diese Arbeit eine wie die Künstlerin selbst sagt «unheimliche Verschränkung» mit den jetzigen globalen Themen.
Trailer zu «Sudden Death»
Sudden Death, Trailer from Rhona Mühlebach on Vimeo.
Mit dem Förderbeitrag wird die Künstlerin ihre technische Ausstattung für ihr nächstes Projekt verbessern und an einer Idee für ein neues Drehbuch arbeiten. In der Schweiz kann man die Künstlerin und ihre Arbeit «Loch Long» im Juni in einer Ausstellung im sic! Kunstraum in Luzern sehen und Ende des Jahres in der Gruppenausstellung «Labor Natur» im Haus zur Glocke.
Weitere Videos von anderen Arbeiten gibt es auf der Internetseite von Rhona Mühlebach: https://rhonamuehlebach.com
Die Förderbeiträge und die Serie
Die Auszeichnung: Der Kanton vergibt einmal jährlich persönliche Förderbeiträge an Kulturschaffende aus dem Thurgau, die mit einem überzeugenden Vorhaben in ihrer Karriere einen Schritt weitergehen möchten. Die Förderbeiträge sind mit je 25 000 Franken dotiert. Die Förderbeiträge wurden von einer Jury vergeben, die sich aus den Fachreferentinnen und -referenten des Kulturamts und externen Fachpersonen zusammensetzt. Auch in diesem Jahr sei die Anzahl und Qualität der eingegangenen Bewerbungen hoch gewesen, teilt das kantonale Kulturamt mit. Die Ausgezeichneten wurden von der Fachjury aus 51 Bewerbungen ausgewählt.
Die Gewinner 2020 auf einen Blick: Ausgezeichnet werden in diesem Jahr: Rahel Zoë Buschor, Tänzerin (Sulgen), Markus und Reto Huber, bildende Künstler (Zürich), Julia Langkau, Autorin (Bern), Rhona Mühlebach, bildende Künstlerin (Dettighofen), Max Petersen, Musiker (Winterthur) sowie Andri Stadler, bildender Künstler (Luzern).
Die Serie: In einer Porträtserie stellen wir alle GewinnerInnen der diesjährigen Förderbeiträge vor. Die Folgen erscheinen in loser Reihenfolge.
Teil 1 der Serie: «Literatur kann uns Hoffnung geben»: Interview mit der Autorin Julia Langkau
Teil 2 der Serie: «Spagat zwischen zwei Welten»: Porträt der Tänzerin Rahel Zoë Buschor
Teil 3 der Serie: «Der Grenzgänger»: Porträt des Musikers Max Petersen
Teil 4 der Serie: «Expedition in die Dunkelheit»: Porträt des Fotografen Andri Stadler
Teil 5 der Serie: «Die Natur als politischer Ort»: Porträt des Künstler-Duos Huber.Huber
Teil 6 der Serie: «Auf der Suche nach Wildnis»: Porträt der Videokünstlerin Rhona Mühlebach
Das Dossier: In unserem Themendossier zu den kantonalen Förderbeiträgen werden alle Episoden der Serie gebündelt. Dort finden sich auch Porträts zu früheren PreisträgerInnen.
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Kommt vor in diesen Ressorts
- Kunst
Kommt vor in diesen Interessen
- Porträt
- Bildende Kunst
Ist Teil dieser Dossiers
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