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von Bettina Schnerr, 27.05.2020

«Literatur kann uns Hoffnung geben»

«Literatur kann uns Hoffnung geben»
Eine Geschichte um Betrug und Verlust und die Arten, damit umzugehen: Für ihr aktuelles Manuskript, das am Bodensee spielt, erhält Autorin und Philosophin Julia Langkau einen Förderpreis des Kantons. | © zVg

Die Autorin und Philosophin Julia Langkau erhält in diesem Jahr als eine von sechs KünstlerInnen einen Förderpreis des Kantons Thurgau. Als Philosophin befasst sie sich mit der Wirkung von Literatur, als Autorin lotet sie die Herausforderungen im alltäglichen Leben aus. Der Beitrag ist der Auftakt zu einer neuen Porträtserie über alle GewinnerInnen der diesjährigen Förderbeiträge.

Julia Langkau, Sie erhalten den Förderpreis für Ihr zweites Buchmanuskript. Worum geht es in diesem Werk?

In einer grossen Klammer gesehen ist es eine Liebesgeschichte mit dem Arbeitstitel „Aline und die anderen“. Die Geschichte beginnt mit einer älteren Frau, die auf dem Dachboden eine Kiste mit Briefen findet, adressiert an ihren verstorbenen Mann und bis auf einen einzigen nicht geöffnet. Die Handlung erzähle ich weiter, indem in jedem folgenden Kapitel von einem anderen Charakter erzählt wird. Am Ende begegnen wir der Verfasserin jener Briefe.

Die Strukturierung über so viele handelnde Personen ist ungewöhnlich. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Es geht in der Geschichte um Betrug und Verlust sowie um verschiedene Arten, damit umzugehen – um eine Haltung, die sich ganz unterschiedlich zeigt. Das stelle ich durch meine Charaktere dar und wähle sie entsprechend aus. Ich arbeite mit zwei Ebenen, die ich über die Personen verknüpfe. Das eine ist die Handlungsebene, das andere die thematische.

Welches der beiden Elemente steht für Sie zuerst fest? War es die Idee, Verlust und Betrug literarisch umzusetzen?

Bei Arbeitsbeginn lag das Thema fest, dann folgten die Bilder. Damit meine ich Bilder, die ich als Metaphern einsetze. Da ich meine Kindheit und Jugend im Thurgau verbrachte, war der Bodensee für mich eine klare Wahl, und mit dem Bodensee liegt natürlich der Schauplatz fest, vor allem Kreuzlingen und die umgebenden Dörfer. Nicht nur über die Personen, auch über den See als Motiv verbinden sich bei mir Handlung und Thema.

Wie stark strukturieren Sie Ihre Texte vor, wenn Sie sich über solche grundlegenden Elemente im Klaren sind?

Meine Arbeit läuft nicht so ab, dass ich alles vorab plane und entsprechend umsetze. Ich weiss nicht, was alles passieren wird, aber ich kann mich darauf verlassen, dass ich beim Schreiben die richtigen Wege finden werde. Das entwickelt sich bei der eigentlichen Arbeit aus den Bildern und aus Stimmungen. Von der Handlung weiss ich zu Beginn wenig, und es kann auch sein, dass ich am Anfang noch nicht alle Charaktere beisammen habe.

«Ich weiss nicht, was alles passieren wird, aber ich kann mich darauf verlassen, dass ich beim Schreiben die richtigen Wege finden werde.»

Julia Langkau, Autorin, über den Schreibprozess (Bild: Bettina Schnerr)

Man könnte sagen, die Charaktere haben ein gewisses Eigenleben und Sie beobachten sie dabei. War das bei Ihrem ersten Buch ähnlich?

Dieses Buch hat eine ganz eigene Geschichte. Das hatte ich zum ersten Mal geschrieben, als ich zwanzig war. Mein damaliger Verlagskontakt war interessiert, lehnte aber schlussendlich unter anderem auf Grund meines jungen Alters ab. Ich legte das Manuskript beiseite und absolvierte erst einmal mein Philosophie-Studium. Während des Studiums habe ich immer auch literarisch geschrieben und mir war klar, dass ich das irgendwann wieder ernsthaft aufnehmen würde. Viele Jahre später dann holte ich das alte Manuskript hervor, kürzte radikal und habe die Geschichte nun fertig geschrieben.

Wie sah das ursprüngliche Manuskript denn aus?

Das Thema dieser Geschichte ist Selbstbestimmung und der ursprüngliche Text las sich wirklich wie der einer Zwanzigjährigen. Mit einem offenen Ende noch dazu. In der neuen Fassung konnte ich den Roman ganz anders abschliessen. Ich konnte gewissermassen eine Antwort auf die Schlüsselfrage finden, die ich mit Zwanzig noch nicht hatte: Wie kann man ein selbstbestimmtes Leben führen, unter den Umständen, von denen die Erzählerin berichtet? Mit dieser Neufassung bin ich jetzt wieder auf Verlagssuche.

Ihr erster Roman entstand, bevor Sie ihr Philosophiestudium angefangen hatten. Beeinflusst das Studium Ihr heutiges Schreiben auf eine neue Weise?

Was ich tatsächlich an mir beobachte, ist, dass ich früher recht wenig Kontrolle über mein Schreiben hatte. Ich hatte eine Art zurücklehnende Haltung und war manchmal selbst über meine Arbeiten überrascht. Mir war klar, dass ich mein Schreiben besser kontrollieren und strukturieren sollte. Philosophie hat mich natürlich inhaltlich interessiert, aber ich erwartete auch, dass mir die erlernte Methodik beim Schreiben helfen würde. Das ist tatsächlich so eingetroffen. Ich kann Probleme für mich sortieren, Fragen voneinander unterscheiden oder Dinge ausblenden, um mich zum Beispiel um Teilaspekte zu kümmern. Wenn ich jetzt schreibe, weiss ich sozusagen immer, wo ich bin. Vieles entwickelt sich aus der Arbeit heraus, aber ich kann es viel besser überschauen. Als ich meinen ersten Roman überarbeitete, habe ich den Unterschied ganz deutlich gemerkt. Vom damaligen Hauptteil blieben nur Ausschnitte übrig; das ist jetzt die Stimme der zwanzigjährigen Protagonistin.  

«Das literarische Schreiben ist pure Freude.»

Julia Langkau, Autorin (Bild: Bettina Schnerr)

Und inhaltlich?

Nicht sehr. Ich schreibe in beiden Bereichen, aber die Tätigkeit ist jeweils eine völlig andere. Schreibe ich philosophische Texte, kläre ich Probleme, löse Herausforderungen und muss jedes Wort sehr exakt wählen. Da gibt es keinen Spielraum für Doppeldeutigkeiten. Das literarische Schreiben ist dagegen pure Freude. Da passiert viel mehr, ich muss es einfach nur lenken. Ausserdem schreibe ich Fachtexte auf Englisch, Literatur auf Deutsch. Alleine das macht einen enormen Unterschied.

Wenn Sie beim philosophischen Schreiben Problemstellungen lösen, passiert Ihnen das in der Literatur ebenfalls?

Ja, durchaus, weil ich mein Schreiben nicht durchplane. Durch die freiere Entwicklung entdecke ich Neues. Vor allem sind das Zusammenhänge in meiner Geschichte, mit denen ich stärker arbeite, sobald ich sie erkenne.

In Ihrer philosophischen Arbeit befassen Sie sich intensiv mit der Frage, ob man aus der Literatur lernen kann, wie sich bestimmte Erfahrungen anfühlen. Davon geht man ja oft aus. Sieht die Philosophie das ebenso?

Da gibt es einen deutlichen Unterschied in der Beurteilung. Unsere emotionalen Reaktionen werden von einer ganz anderen Triebkraft gesteuert, je nachdem ob wir lesen oder etwas tatsächlich erleben. Wir werden in der Literatur durch sprachliche Mittel darüber in Kenntnis gesetzt, wie sich zum Beispiel jemand fühlt. Das ist etwas anderes als direkte, eigene Wahrnehmung.

Das heisst, ich müsste im realen Leben eine Erfahrung selbst gemacht haben, um sie bei einem fiktiven Charakter nachvollziehen zu können?

Das würde ich auf jeden Fall so sagen und ich arbeite gerade an einem philosophischen Buch, das sich genau mit diesen Aspekten befasst. Nehmen wir als Beispiel einen Flüchtling. Ich war nie in der Situation, dass ich aus einem Land fliehen musste; diese existenzielle Erfahrung musste ich nie machen. Kann ich nun durch einen Roman wie den von Usama al Shamani tatsächlich lernen, wie es ist, in der Schweiz als Flüchtling zu leben?

Das ist grundsätzlich eine philosophische Frage: Kann ich mir eine Erfahrung vorstellen, wenn ich sie selbst nicht gemacht habe? Bei Erfahrungen, die wir zumindest annähernd auch selbst schon gemacht haben, ist das sicher möglich. Aber viele PhilosophInnen und auch ich gehen davon aus, dass es bei ganz neuen Erfahrungen nicht geht. Und ich denke, dass uns auch Literatur nicht dabei helfen kann, obwohl sie uns ja oft einen sehr intimen Blick auf die Erfahrungen eines Charakters ermöglicht.

«Durch Literatur erfahren wir nicht, wie es ist, Flüchtling zu sein. Wir erfahren hingegen, was es bedeutet oder bedeuten kann.»

Julia Langkau, Autorin (Bild: Bettina Schnerr)

Was nehmen wir dann aus Literatur mit?

Wir erfahren nicht, wie es ist, Flüchtling zu sein. Wir erfahren hingegen, was es bedeutet oder bedeuten kann. Wir lernen über die Tragweite dieser Erfahrung im Leben eines Menschen. Dabei spielen die Sprache, die Wahl der Bilder, Fokussierungen oder Auslassungen im Text eine wichtige Rolle. Unsere Erfahrung beim aktiven Leseprozess, wenn wir also das Grundthema eines Romans und seine Handlung beim Lesen zusammenführen, gleicht eher einer Erfahrung des Sinngebens, Einordnens oder Verarbeitens einer Erfahrung. Das ist auch der Grund, warum wir bei traurigen Stellen weinen. Wir weinen nicht, weil wir es wirklich durchmachen, sondern weil wir etwa die Tragweite begreifen.

Das dürfte für die Mehrzahl literarischer Leser:innen ein ganz neuer Aspekt sein, warum Literatur als Medium funktioniert. Ein wenig ernüchternd, zu erfahren, dass man den Charakteren gar nicht so nahe kommt, wie man vielleicht dachte.

Was allerdings nicht bedeutet, dass wir vom Lesen nicht lernen können. Ganz im Gegenteil. Wir bekommen eine Idee von dem Erlebten, sowohl durch Fiktion als auch duch autobiografische oder dokumentarische Bücher. Wir gewinnen Wissen. In der Philosophie heisst das propositionales Wissen, also Aussagenwissen. Würden wir es selbst erfahren, sprechen wir von Erfahrungswissen oder experientellem Wissen. Fakten sind als Basis sehr wichtig. Wir sollten uns nur nicht einbilden, dass wir genau verstehen, wie es ist, eine bestimmte Erfahrung zu machen.

Heisst das, das Literatur gar nicht so sehr über Gefühle funktioniert, sondern im Wesentlichen über abstraktere Dinge wie das Begreifen?

Wir haben auf alle Fälle auch Empathie mit fiktionalen Charakteren. In meinen eigenen literarischen Texten ist es mir gerade deswegen sehr wichtig, verschiedene Perspektiven aufzuzeigen. So beschreibe ich nie von aussen aus einer scheinbar objektiven Perspektive. Ich arbeite immer mit der Sichtweise der Charaktere, die ich entwickle. Es geht mir um Gedanken, Gefühle und Sinneseindrücke und darum, die Subjektivität des Erlebens zu zeigen.

Ginge es nur um Wissen und Empathie, reichte uns eine Dokumentation. Aber Literatur kann über Wissen und Empathie hinaus noch mehr. Sie gibt uns einen viel breiteren Spielraum. Wir dürfen zum Beispiel hoffen, dass ein Charakter stirbt. Das darf man nirgends sonst. Das hat genau damit zu tun, dass wir nicht wirklich durchleben, was im Buch passiert, sondern dass wir ausserhalb dieser Perspektiven und Handlungen versuchen, den Sinn zu verstehen und einzuordnen, was auf der Handlungsebene passiert.

«Es geht mir um Gedanken, Gefühle und Sinneseindrücke und darum, die Subjektivität des Erlebens zu zeigen.»

Julia Langkau, Autorin, über ihre Arbeit

Man kann beim Lesen seine Gefühle ausprobieren und sie in Richtungen lenken, die im richtigen Leben nicht möglich wären?

Unbedingt. Man ordnet die Ereignisse ein in einen grösseren Zusammenhang. Das Hoffen auf den Tod eines fiktionalen Charakters ist ja im Grunde merkwürdig, weil da niemand existiert, dem wir den Tod wünschen. Wir hoffen dabei eben, dass sich die Handlung auf eine gewisse Weise entwickelt, damit wir eine bestimmte Erfahrung machen, zum Beispiel Erleichterung erfahren. Es ist typisch für Literatur, dass wir in ihrer Handlung einen Sinn sehen möchten, und wir können uns sogar über ein negatives Ereignis freuen.

So ein Lerneffekt beim Lesen läuft sehr unbewusst ab. Wir haben ihn, aber auf eine ganz andere Art als wir denken.

Ja, manchmal geschieht das sicher unbewusst, und es läuft auch nicht immer ab. Das hängt von unserer Stimmung oder dem jeweiligen Buch ab. Manchmal, und das gibt es bei uns allen, habe ich gar keine Lust, mich damit zu befassen. Dann lese ich schnell, habe einfach Freude am Plot und geniesse das. Worum es mir geht, ist, was Literatur grundsätzlich auszeichnet. Was kann sie für uns im Idealfall leisten? – Ich denke, sie kann uns helfen, die Ereignisse in unserem eigenen und im Leben anderer einzuordnen, ihnen Sinn zu geben und sie auch manchmal neu zu bewerten. Und manchmal kann Literatur uns Trost geben oder Hoffnung.

 

Das ist Julia Langkau

Julia Langkau ist Philosophin und Ambizione Fellow des Schweizerischen Nationalfonds an der Universität Fribourg. Sie hat ihren Doktortitel in Schottland gemacht und war Gastwissenschaftlerin in Miami. Als Post-Doc hat sie an den Universitäten Zürich und Konstanz gearbeitet. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Erkenntnistheorie, der Philosophie des Geistes und der Ästhetik. Derzeit arbeitet sie an einem Forschungsprojekt zur Frage, was wir aus Literatur und Fiktion lernen können.

 

«Es ist typisch für Literatur, dass wir in ihrer Handlung einen Sinn sehen möchten.»

Julia Langkau, Autorin (Bild: Bettina Schnerr)

Die Förderbeiträge und die Serie

Die Auszeichnung: Der Kanton vergibt einmal jährlich persönliche Förderbeiträge an Kulturschaffende aus dem Thurgau, die mit einem überzeugenden Vorhaben in ihrer Karriere einen Schritt weitergehen möchten. Die Förderbeiträge sind mit je 25 000 Franken dotiert. Die Förderbeiträge wurden von einer Jury vergeben, die sich aus den Fachreferentinnen und -referenten des Kulturamts und externen Fachpersonen zusammensetzt. Auch in diesem Jahr sei die Anzahl und Qualität der eingegangenen Bewerbungen hoch gewesen, teilt das kantonale Kulturamt mit. Die Ausgezeichneten wurden von der Fachjury aus 51 Bewerbungen ausgewählt.

 

Die Gewinner 2020 auf einen Blick: Ausgezeichnet werden in diesem Jahr: Rahel Zoë Buschor, Tänzerin (Sulgen), Markus und Reto Huber, bildende Künstler (Zürich), Julia Langkau, Autorin (Bern), Rhona Mühlebach, bildende Künstlerin (Dettighofen), Max Petersen, Musiker (Winterthur) sowie Andri Stadler, bildender Künstler (Luzern).

 

Die Serie: In einer Porträtserie stellen wir alle GewinnerInnen der diesjährigen Förderbeiträge vor. Die Folgen erscheinen in loser Reihenfolge.

 

Teil 1 der Serie: «Literatur kann uns Hoffnung geben»: Interview mit der Autorin Julia Langkau

Teil 2 der Serie: «Spagat zwischen zwei Welten»: Porträt der Tänzerin Rahel Zoë Buschor

Teil 3 der Serie: «Der Grenzgänger»: Porträt des Musikers Max Petersen

Teil 4 der Serie: «Expedition in die Dunkelheit»: Porträt des Fotografen Andri Stadler

Teil 5 der Serie: «Die Natur als politischer Ort»: Porträt des Künstler-Duos Huber.Huber

Teil 6 der Serie: «Auf der Suche nach Wildnis»: Porträt der Videokünstlerin Rhona Mühlebach

 

Das Dossier: In unserem Themendossier zu den kantonalen Förderbeiträgen werden alle Episoden der Serie gebündelt. Dort finden sich auch Porträts zu früheren PreisträgerInnen.

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