von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 28.06.2019
Von Mäusen und Menschen
Die Regisseurin und Videokünstlerin Rhona Mühlebach geht ab Juli mit einem Atelierstipendium für drei Monate nach New York. Sie will dort studieren, wie sich die Natur dem städtischen Lebensraum angepasst hat. Vor ihrem Abflug am 3. Juli haben wir mit ihr gesprochen. Über ihren Weg zur Videokunst, ihre Arbeitsweise und was Künstler und Wissenschaftler gemeinsam haben.
Von den Weissfussmäusen in New York ist Erstaunliches bekannt: Sie haben sich dem urbanen Leben so sehr angepasst, dass sie - untypisch für Mäuse - salzige und fettige Nahrung verdauen können. Es ist ein schlichter Überlebensmechanismus in Städten, in denen Menschen Unmengen von übrig gebliebenen Hamburgern und Pommes in den Müll werfen. Den Rest erledigt über Jahrzehnte die Evolution. Mit genau solchen Phänomenen will sich die in Dettighofen und Pfyn aufgewachsene Regisseurin und Videokünstlerin Rhona Mühlebach in den nächsten drei Monaten beschäftigen. Sie geht ab Juli mit dem Atelierstipendium von Kulturstiftung und Kulturamt in die Stadt, die niemals schläft und will vor Ort vor allem recherchieren: „In meinen bisherigen Arbeiten stand oft die Natur ausserhalb von Urbanität im Zentrum, jetzt will ich das umkehren und mir anschauen, wie die Pflanzen und Tiere sich dem Lebensraum Stadt anpassen“, sagt die Künstlerin im Gespräch mit thurgaukultur.ch
Die heute 29-Jährige hat ihre Matura an der PMS Kreuzlingen abgelegt. Danach landete sie erst über Umwege in den Ausstattungsabteilungen der Theater Konstanz und Luzern, beim Film. Sie studierte an der Ecole Cantonale d’Art in Lausanne (ECAL), drehte erste Filme, ihr Diplomfilm „Abseits der Autobahn“, ein wunderbares Porträt eines Paares, das sich aneinander abgekämpft hat, erhielt mehrere Preise, unter anderem den Suisseimage/SSA-Nachwuchspreis an den Solothurner Filmtagen 2015.
Ihr gelingt es ziemlich gut, neue Blickwinkel zu eröffnen
Trotz der Auszeichnungen hatte Mühlebach nicht das Gefühl, jetzt fertig zu sein: „Ich habe den Austausch mit anderen Leuten gesucht. Nach der Filmschule wollte ich mehr über Inhalte, weniger über Technik lernen und übliche Erzählformen im Film auf den Kopf stellen“, sagt sie im Skype-Gespräch zwischen Bottighofen und Glasgow. Dort lebt Rhona Mühlebach seitdem sie sich an der Glasgow School of Art eingeschrieben hatte, um ihren Master of Fine Arts zu machen. Den Abschluss hat sie inzwischen in der Tasche. Die Zeit bereut sie nicht: „Das Studium hat mir sehr geholfen, weil ich gesehen habe, wie andere Leute an Themen herangehen und dass es immer zig Möglichkeiten gibt, ein Thema zu betrachten. Diese Offenheit in der Gestaltung habe ich als sehr befreiend empfunden“, erklärt sie.
«Ich will übliche Erzählformen im Film auf den Kopf stellen.»
Rhona Mühlebach, Videokünstlerin
Und so sind ihre Arbeiten heute eher in der Videokunst zu verorten als im klassischen Film. Sie gibt Dingen und Wesen eine Stimme, die diese sonst nicht hätten: Wie einer Krähe in „To get in touch with crows“ oder Hügeln, die wie Brüste aussehen in „The Five Sisters“. Das führt zu Momenten, die sehr berührend, aber auch sehr komisch sein können. Mühlebach gelingt es ziemlich gut, neue wie überraschende Blickwinkel zu eröffnen.
Ausgangspunkt für ihre Arbeiten sind oft Dinge, die sie gelesen oder erlebt hat. Bei «Loch Long», ihrem jüngsten Werk, war es zum Beispiel so, dass sie angefangen hatte zu tauchen in diesem schottischen See. „Wenn man da auftaucht, schwebt man in einer grünen Suppe, in der man maximal sechs Meter weit sieht. Das hat mich überrascht und dazu inspiriert, einen Film darüber zu machen“, beschreibt die 29-Jährige ihre Arbeitsweise. Gezeigt hat sie den Film im Mai im Centre for Contemporary Arts in Glasgow. Oft sei ihre Herangehensweise sehr intuitiv. Trotzdem gebe es so etwas wie ein Muster oder einen Rahmen ihrer Arbeiten: „Ich interessiere mich für Tiere, Wissenschaft, Geologie und Zwischenmenschliches. In meinen Filmen versuche ich das zu verbinden“, sagt Mühlebach.
Was klingt wie Trump, ist ganz anders gemeint
Sie sieht sich da ein Stück weit auch als Forscherin. „Wissenschaftler entwickeln Theorien, um forschen zu können. Gewissermassen ist das auch erstmal eine Fiktion, an die man glauben muss. Bei mir ist das im Prinzip nicht anders. Ich habe auch eine These, die ich dann in meinen Videos untersuche. Mit den Mitteln der Kunst“, sagt die 29-Jährige. Ohnehin ist die Beziehung zwischen Fiktion und Realität ein Thema, das sie beschäftigt: „In der allgemeinen Wahrnehmung steht Realität über der Fiktion. Als wäre sie mehr wert. Dabei ist das eine nicht besser als das andere. Beides existiert nebeneinander“, findet die Videokünstlerin.
In ihrer Arbeit interessiert sie faktische Wahrheit nicht. Sie mache ja Videokunst und keinen Dokumentarfilm, antwortet Mühlebach auf solche Fragen. Ihr Ziel sei es vielmehr Zweifel beim Zuschauer am Gesehenen aufkeimen zu lassen. Fiktion ist für sie in diesem Sinne eine Möglichkeit, Realität zu betrachten. Was im ersten unbedachten Moment nach Donald Trumps alternativen Fakten klingt, meint sie eigentlich ganz anders: „Fiktion ist eine Möglichkeit, wie sich etwas entwickeln könnte. Fiktion kann Szenarien, Optionen aufzeigen.“ Das könne bei der Problemlösung in der Realität helfen, ist Mühlebach überzeugt. Sei es nun im Zusammenhang mit Weissfussmäusen, Krähen oder zwischenmenschlichen Beziehungen.
«Ich mache Videokunst, keine Dokumentarfilme.»
Rhona Mühlebach, Künstlerin, über den Wahrheitsbegriff in ihren Arbeiten
Video: Trailer zu „Abseits der Autobahn“
Weitere Videos von anderen Arbeiten gibt es auf der Internetseite von Rhona Mühlebach: https://rhonamuehlebach.com
Weitere Beiträge von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter
- Alte Mauern, neue Gedanken (11.11.2024)
- Auf Kinderaugenhöhe (21.10.2024)
- Was hält uns zusammen? (16.10.2024)
- «Falsch gespart»: Kritik am Sanierungs-Stopp (15.10.2024)
- Die Entdeckung des Raums (11.10.2024)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Kunst
Kommt vor in diesen Interessen
- Porträt
- Bildende Kunst
- Kurzfilme
Ist Teil dieser Dossiers
Ähnliche Beiträge
Zwischen Zugehörigkeit und Fremdsein
Die im Thurgau aufgewachsene Künstlerin Thi My Lien Nguyen richtet ihr Augenmerk im Kunstmuseum St. Gallen auf die Ambivalenz postmigrantischer Realitäten. mehr
Warum Räume für Kultur so wichtig sind
Schwerpunkt Räume: «Kultur braucht Raum, um zu entstehen, aber vor allem auch um ein Ort des Austauschs zu sein», findet die Malerin Ute Klein. mehr
Alte Mauern, neue Gedanken
Beim grenzüberschreitenden Festival „Heimspiel“ wird ab 15. Dezember die Arboner Webmaschinenhalle erstmals als Kunstort bespielt. Wie gut kann das funktionieren? Ein Baustellenbesuch. mehr