von Inka Grabowsky, 10.07.2023
Von starken Frauen und toxischen Männerbildern
Das See-Burgtheater rückt auf der Freilichtbühne im Seeburgpark Gewalt in Beziehungen ins Scheinwerferlicht. «Liliom – Eine Vorstadtlegende» von Ferenc Molnár erzählt davon. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
‹Ich mache Liliom oder nichts›, habe die Regisseurin Astrid Keller gesagt, erzählt Leopold Huber, der Produktionsleiter vom See-Burgtheaters. Sie selbst ergänzt: «Ich liebe starke Stücke, die auch ein bisschen wehtun dürfen.» Wehtun wird der Theaterabend, weil der Protagonist Liliom alles falsch macht, was man falsch machen kann.
Grob zusammengefasst: Er verlässt eine Frau für eine Jüngere. Die schlägt er. Er lässt sich zu einem Raub anstiften. Er versagt dabei. Er bringt sich um. Und dann bekommt er im Jenseits eine zweite Chance und darf seine Tochter einen Tag auf der Erde besuchen. Auch diese Chance versiebt er.
«Wir werden für Gesprächsstoff sorgen.»
Leopold Huber, See-Burgtheater
Nein, für Zuschauer, die sich mit den Figuren identifizieren, wird es nicht lustig. «Es wird aber auch ganz bestimmt nicht langweilig», sagt Astrid Keller. «Und wir werden für Gesprächsstoff sorgen», ergänzt Leopold Huber. «Im Idealfall sitzen die Zuschauer nach dem Stück noch im Bistrozelt zusammen und denken gemeinsam über die Welt nach.»
Sie könnten diskutieren, wie glückliche Beziehung aussehen, nachdem sie Varianten von unglücklichen Beziehungen gesehen haben.
Facettenreiche Figuren
Die Rolle des Liliom wird André Rohde übernehmen. Es sei lange ein Traum von ihm gewesen, erzählt er. «Liliom ist eben nicht eindimensional. Vieles von dem, was er tut, tut er aus Liebe. Er verliert seinem Job, weil er sich in eine andere Frau verliebt. Er setzt also Liebe vor den wirtschaftlichen Erfolg. Und beim Überfall will er Geld für sein ungeborenes Kind erbeuten.»
Es fühle sich aber nicht angenehm an, in die Abgründe zu blicken, die sich in der Figur auftäten. «Man muss sich auch fragen, warum die Frau den Mann nicht verlässt, wenn er sie schlägt», so Leopold Huber. «Und wo fängt die Gewalt in Beziehungen an?» Ein zweites Paar, das bürgerliche Gegenstück zu Liliom und Julie, übt eher psychischen Druck aufeinander aus. Tomasz Robak, der als «Wolf» den männlichen Part dieses Paares spielt, erklärt: «Wir bilden einen komödiantischen Rahmen, weil wir glauben besser zu sein, es aber nicht sind.»
Das Lachen darüber dürfte den Zuschauern aber mitunter im Hals stecken bleiben. «Wenn unsere Beziehung sich verschlechtert, kommt es komödiantisch daher, ist aber eigentlich tragisch. In den Nebensätzen lauert eine Katastrophe.»
Starke Frauen
Sarah Kattih spielt Frau Muskat, die ältere Karussell-Besitzerin, die von Liliom verlassen wird. «Sie hat etwas Kämpferisches, was mir sehr gelegen kommt. Aber am berührensten - und am schwierigsten umzusetzen– ist die Szene , in der sie sich mit ihrer Nebenbuhlerin Julie am Grab von Liliom versöhnt.»
Julie wird von Ann Mayer verkörpert. Sie hat sich lange überlegt, wie man ihre Geschichte - geschrieben 1909 - als Frau des 21. Jahrhunderts erzählen kann. «Meine Julie ist nicht auf die Rolle des Opfers festgelegt, sondern auch eine Heldin, wohingegen Liliom eine tragische Figur ist, weil er an seiner toxischen Männlichkeit scheitert.»
Es ist die Beziehung der Frauen untereinander, die in der Version des See-Burgtheaters Hoffnung geben soll.
Reduziertes Bühnenbild
Im Seeburgpark wurden die Zuschauer über die Jahre immer wieder mit einem opulenten Bühnenbild verwöhnt. Für «Lysistrata» im vergangenen Jahr wurde die Akropolis nachgebildet. Für die Schweizermacher gab es ein ganzes Mehrfamilienhaus.
«Arsen und Spitzenhäubchen» spielte auf einem Mississippi-Dampfer. Und «Ein Käfig voller Narren» lief sogar in einem extra angemieteten Spiegelzelt.
Dieses Jahr hat sich Bühnenbildner Damian Hitz auf eine einfache Drehscheibe beschränkt, die von einem Rahmen eingefasst wird. «Es braucht nicht mehr, um die Geschichte zu erzählen», sagt er. «Und tatsächlich ist der Ort hier am Ufer so schön, dass wir ihn gerne in Szene setzen.»
Die Symbolik der Drehbühne soll zur Entwicklung der Figuren passen: Liliom befindet sich quasi in einer Abwärtsspirale. Andere Figuren scheitern, weil sie sich im Kreis um ihre Sehnsüchte drehen.
Stoff & Sprache wurden aktualisiert
Das See-Burgtheater hat das Stück ins Hier und Heute versetzt. Nach der Übertragung aus dem Ungarischen durch Alfred Polgar wurden jetzt auch die österreichischen Ausdrücke angepasst. Aus dem Dienstmädchen im Original ist ein «Mädchen für alles» geworden, damit nichts antiquiert wirkt.
Die Kostüme würden meist im Strassenbild nicht weiter auffallen, unterstützen aber die Charakterisierung der Figuren, wie die Designerin Klara Steiger erklärt. «Irgendwann begehrt Lilioms Tochter Marie auf. Also haben wir ihr die Uniform der Rebellion verpasst: zerrissene Hosen.»
Nicht ganz ohne Musik
Traditionell gibt es beim See-Burgtheater Musik. Dieses Jahr jedoch steht sie im Hintergrund. «Wir bringen drei Lieder, genau an den Stellen, an denen es passt», so Astrid Keller. Es werde auch durchaus unterhaltsam sein. «Wir machen kein belangloses Theater», ergänzt ihr Mann Leopold Huber und zeigt sich zuversichtlich, dass das Stammpublikum dem See-Burgtheater die Treue halten wird. «Bisher kamen immer so viele, dass ich mich nie vor meinen Schauspielern schämen musste.»
Aufführungen und Tickets
«Liliom. Eine Vorstadtlegende» von Ferenc Molnár
19 Aufführungen vom 13. Juli bis 9. August 2023, jeweils um 20.30 Uhr. Das Publikum im Seeburgpark sitzt auf einer überdachten Tribüne. Preise 48 – 54 Franken, ermässigt 20 Franken. Tickets gibt es hier.
Mit dem Rad ins Theater: Das Publikum soll möglichst umweltschonend in den Seeburgpark kommen, deshalb kooperiert das See-Burgtheater dieses Jahr mit Regivelo. Wer eine Karte für eine der Aufführungen reserviert, bekommt automatisch einen Code zugesandt. Damit kann man in der App für zwei Tage gratis ein Regivelo mieten. In unmittelbarer Nähe, gegenüber des Seemuseums, wird für die Dauer der Freilichtsaison eine temporäre Velo-Station eingerichtet.
Von Inka Grabowsky
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