von Judith Schuck, 02.12.2024
Neun mögliche Wege aus der Raum-Krise
Wie könnte man den Mangel an Räumen für Kultur im Thurgau beheben? Darüber diskutierten die Gäste des neuen Dialogformats „Kultur trifft Politik!“ in Kreuzlingen. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Das Apollo in Kreuzlingen ist so ein Objekt, das vielleicht beispielhaft für die Debatte um Räume steht: das ehemalige Kino wurde schon zur Sporthalle umgebaut und nach einer Zeit des Leerstands schliesslich wieder zum Kulturraum transformiert. Im „Kulturhaus“ Apollo findet seit zweieinhalb Jahren Kultur im konkreteren Sinne statt, verstanden als kreatives Produzieren und dem Zeigen von kreativ Produziertem. Die Räumlichkeiten werden genutzt als Ateliers, für Konzerte, Ausstellungen, Filmvorführungen, Tanz- und Performanceaufführungen oder Feiern.
Für den Abend des 27. Novembers, an dem thurgaukultur.ch zum Gespräch mit Kulturschaffenden und Politiker:innen ins Apollo einlud, um sich mit dem Thema Räume für Kultur zu befassen, weist der Kino-Saal eine ungewohnte Sitzordnung auf: einen inneren Kreis, in dem Moderatorin Samantha Zaugg mit Vertreter:innen zunächst aus Kultur und später aus der Politik spricht, und einen äusseren Kreis, den die interessierten Anwesenden bilden, die sich jederzeit ins Gespräch einbringen können sollen, eine so genannte Fishbowl-Runde.
Diese Mitsprachegelegenheit nutzten die Besucher:innen vor allem nach den Workshops, in denen das Thema Raum nach unterschiedlichen Aspekten (Auftrittsmöglichkeiten, Proberäume, Ateliers) vertieft wurde. Insgesamt diskutierten mehr als 50 Menschen an diesem Abend miteinander.
Grosse Vielfalt bringt zahlreiche Bedürfnisse
Die Erfahrungen der Kulturschaffenden am Runden Tisch ist, dass es zwar Räume für Kultur gebe, diese aber oft nicht erschwinglich seien. Vermieter:innen seien ausserdem häufig skeptisch gegenüber Künstler:innen. Gerade bei Zwischennutzung besteht wenig Planungssicherheit und bezahlbarer Raum liegt oft dezentral.
Worauf sich im Laufe des dreistündigen Abends aber auch immer wieder zurückbesonnen werden muss, ist, dass Kultur ein weiter Begriff ist. Hinzu kommt, dass Kulturschaffende unterschiedlicher Sparten, oder auch innerhalb ihrer Sparten, völlig unterschiedliche Bedürfnisse für Raum mitbringen.
Die Ansprüche und Voraussetzungen für Proberäume, Kunstateliers, Schreibzimmer, Konzertsaal oder Aufführungs- und Ausstellungsräume driften weit auseinander. Während der Musiker Christoph Luchsinger für seine experimentelle Musik mit dem Projekt Noeise auf der Suche nach aussergewöhnlichen Orten für seine Konzerte ist, was auch mal eine Autogarage oder ein Weinkeller sein kann, erzählt Samuel Svec von der IG Probelokal Amriswil von seinem Erlebnis einer Guggenmusik-Probe in einer Autogarage: „Es war sehr laut, ohne Hörschutz eigentlich nicht möglich.“
Bildergalerie 1 zur Veranstaltung
Alle Texte rund um das Thema haben wir in einem Dossier gebündelt. Du findest es hier. Kultur braucht Räume, um sich entfalten zu können. Ateliers, in denen man neue Ideen entwickeln kann. Proberäume, in denen man jeden Ton und jede Zeile so oft wiederholen kann, bis das neue Werk reif ist, aufgeführt zu werden. Und natürlich Bühnen auf denen man all das, was man mit Herzblut einstudiert hat letztlich auch einem Publikum zeigen kann. Das Problem: An all diesen Räumen mangelt es. Im Thurgau. In der Ostschweiz. Eigentlich überall. Seit Jahrzehnten beklagen Kulturschaffende diesen Zustand, aber mindestens genauso lange hat sich nichts daran geändert. Woran liegt das? Das wollen wir in diesem Dossier behandeln.
Es braucht mehr Vertrauen
Nicht nur bei der Suche nach Proberäumen für Musik stossen die Suchenden oft auf Misstrauen oder Ablehnung der Immobilienbesitzer:innen. Die bildende Künstlerin Isabelle Krieg beobachtet, dass es den Vermieter:innen meist um Profit geht und versteht nicht, wenn diese ihre Räume lieber über einen längeren Zeitraum leer stehen lassen, anstatt sie für einen fairen Preis zu vermieten. SVP-Kantonsrat Stephan Tobler gibt darauf die Antwort: Es ist die Angst, wenn sie einmal drin sind, die Mieter:innen nicht mehr rauszubringen.
Ob es im Thurgau einen tatsächlichen Mangel an Raum für Kultur gibt oder die Räume schlicht nicht zugänglich gemacht werden, darüber herrscht keine Einigkeit oder ist teilweise auch von der jeweilige Gemeinde abhängig. Was helfen kann, verfügbare Räume sichtbar zu machen und Kulturschaffenden zur Verfügung zu stellen, fassen wir in neun Punkten zusammen.
1. Vertrauen aufbauen und ehrenamtliches Engagement nutzen
Gino Rusch, als Vertreter des Kaff in Frauenfeld, weiss, dass es einen Anstoss und Vertrauen braucht. Als „Zügelverein“ musste der Verein für Konzerte und alternative Kultur immer wieder den Standort wechseln. Seit einem Jahr steht das „Kaff auf Dauer“ in Form eines Holzcontainers auf dem Parkplatz Unteres Mätteli, wo er die nächsten zehn Jahre auf jeden Fall bleiben soll. Ohne Unterstützung aus Politik, respektive dem Kulturbeauftragten der Stadt Frauenfeld Christof Stillhard sowie immens viel ehrenamtlichem Engagement, wäre dieser Lupf allerdings nicht zu stemmen gewesen. Das ehrenamtliche Engagement ist allerdings für Einzelkämpfer:innen oder ältere Kulturschaffende mit einem anderen wirtschaftlichen oder oft auch Care-Hintergrund kaum mit ihrer Lebensrealität zu vereinbaren.
2. Gemeinsam statt einsam: Zusammenschluss stärken
Darum kann es hilfreich sein, sich untereinander besser zu vernetzen und zusammenzuschliessen. Hans Jörg Höhener ist als Präsident der Kulturkommission des Kantons Thurgau überzeugt, das Kulturschaffende eine Lobby brauchen und sich organisieren müssen. Grössere Projekte und Zusammenschlüsse in Vereinen oder Organisationen kommen zudem leichter an Gelder und erreichen eine grössere Wirksamkeit, als Einzelpersonen.
3. Das Thema „Raum“ in Förderprogrammen mitdenken
Der Kanton könnte sich dazu entschliessen, die reichlich vorhandenen Mittel aus dem Lotteriefonds zur Einführung neuer Förderprogramme speziell für die Schaffung und Erhaltung von Kultur- und Proberäumen zu nutzen. Oder noch gezielter die Bandkultur im Kanton zu fördern und Räume in diesem Sinne mitzudenken. Insgesamt wäre es sinnvoll, so Ladina Thöny, Geschäftsführerin der IG Kultur Ost, wenn das Thema Raum eine grössere Rolle im Förderprozess spielte. „Denn ohne Raum kann Kultur gar nicht erst entstehen und sich entfalten.“
4. Raumbörse gründen & Brücken bauen
Eine Raumbörse oder ein Leerstandsmelder zu ungenutzten Räumen wäre eine Idee. Portale wie das aus einer Kreuzlinger Maturaarbeit entstandene findmyband.ch oder music.ch zeigen, wie das aussehen könnte. Über den Lotteriefonds liesse sich die Einrichtung und der Betrieb einer solchen Website finanzieren. Eine weitere Idee ist die, einer Vermittlungsperson oder -instanz zwischen Kultur und Raumbesitzenden wie Städten, Gemeinden oder Immobilienleuten. Hierzu können auch Plattformen wie das Projekt Interim gezählt werden, das dabei hilft, temporär freistehende Räume zu vermitteln. Hilfreich findet die in Amriswil wirkende Künstlerin Ute Klein ausserdem eine Ansprechperson im Stadtrat oder in der Gemeinde, die offen ist, für die Anliegen Kulturschaffender.
SP-Kantonsrat Felix Meier rät, dass die Sprachlosigkeit zwischen Kulturschaffenden und Politikern aufgebrochen werden muss und dass Kulturschaffende ihre Bedürfnisse konkret, emotional und haptisch anschaulich machen sollen, damit nicht aneinander vorbeigeredet wird. Peter Surber verweist auf die Chance, die in Interessengemeinschaften liegt, wie die durch ihn vertretene IG Kultur Ost. Best Practice Bespiele, wo die Zusammenarbeit zwischen Politik und Kultur letztendlich funktioniert, sind das „Städtli“ Lichtensteig im Kanton St. Gallen, das Neuwerk in Konstanz das Kult-X in Kreuzlingen oder das Kaff in Frauenfeld.
Bildergalerie 2 zur Veranstaltung
5. Konkrete Bedürfnisse formulieren
Was von Seiten der anwesenden Politikvertreter:innen am Gesprächsabend immer wieder rückgemeldet wird, ist, dass es klare und konkrete Ansagen braucht, damit etwas bewegt werden kann. Wer mit konkreten Wünsche und Ansprüchen Gesuche oder Anträge stellt, hat höhere Erfolgschancen. Umgekehrt helfen klare Rahmen von Seiten der Politik und Besitzer:innen für die Nutzung von Räumen, dass diese unter besseren Bedingungen für Kultur genutzt werden können. „Wir haben Raumkapital im Thurgau. Die Räume, die wir haben, müssen besser gepflegt werden“, ist Andrin Uetz, Musiker, Kulturjournalist und Veranstalter unter anderem im Tankkeller Egnach, überzeugt.
6. Gesellschaftlichen Mehrwert von Kultur sichtbar machen
„Kunst ist Arbeit, aber nicht ein Beruf wie jeder andere“. Das ist ein Statement der Künstlerin Stefanie Scheurell. Als Kunstschaffende werde sie am Ende des Tages nicht für zehn Stunden Arbeit entlöhnt. Auf das prekäre Einkommen Kulturschaffender verweist auch Isabelle Krieg, die heute in Kreuzlingen lebt und schafft, aber auch neben Schweizer Städten in Rom oder Dresden arbeitete.
Ihr Eindruck ist, dass Kulturschaffen in Kreuzlingen als „nice to have“ wahrgenommen wird, aber nicht als etwas Essentielles. In Sachen Angebot habe sich viel getan, aber bei den Produktionsorten für Kultur, ohne die sie unmöglich wird, mangele es ihrer Meinung nach. Der Mehrwert künstlerischer Produktionen, die sich meist mit aktuellen soziokulturellen und politischen Sachverhalten auseinandersetzen und helfen, die Welt anders zu begreifen, Dinge zu hinterfragen, neue Lösungsansätze zu finden, müsse in der Gesellschaft erkannt werden, um die Wertschätzung von Kultur zu steigern. Peter Surber von der IG Kultur Ost findet: „Es braucht Sensibilisierungsarbeit.“ Der Gedanke von Kultur als gesellschaftlicher Grundstruktur müsse sich mehr verbreiten.
7. Netzwerke aktivieren und breit mobilisieren
Auf der Suche nach Raum das gesamte Umfeld möglichst konkret informieren, sämtlich Netzwerke aktivieren, auf andere Kulturschaffende zugehen und fragen, wie sie an ihren Raum gekommen sind. Hier auch das Gespräch mit der Gemeinde suchen, da viele für Kultur geeignete Räume in kommunalem Besitz sind. Philipp Glatz, Künstler in Kreuzlingen, fordert an dieser Stelle die Politik auf, etwas zu tun: „Die Mieten für die Räume sind jenseits von erschwinglich, ohne Support von Stadt geht es nicht.“
8. Mehr Flexibilität bei Zwischennutzungen
Auch wenn viele Kulturschaffende gerne mal etwas anderes hören wollen, als „seid flexibel und lasst euch aufs Ungewisse ein!“, kann diese Offenheit einen positiven Ausgang nehmen. In St. Gallen zeigt das Projekt POOL gerade, wie das aussehen kann. Raum sei generell teuer, betont SVP-Kantosrat Stephan Tobler, billiger werde es durch Zwischennutzung. Als positives Beispiel kann hier der Host Klub in Kreuzlingen gelten, ein Konzertlokal, das mit einer dreimonatigen Kündigungsfrist kürzlich immerhin das zehnjährige Bestehen begiessen konnte.
9. Die Stadtkaserne als Chance: Entstehende Potenziale nutzen!
Im Thurgau gibt es spätestens mit der Stadtkaserne in Frauenfeld neue Räume, die auch für Kultur interessant sind. Bislang finden sich noch wenige Kulturschaffende unter den Mieter:innen. Das soll sich perspektivisch ändern: Die Kulturstiftung möchte Teile der Stadtkaserne bespielen. Insgesamt neun Räume, jeweils mit einer Grösse von rund 50 Quadratmetern sind im Gespräch. Entstehen sollen sie im Hauptgebäude der Stadtkaserne. Offen ist aber derzeit noch, wie dieses Projekt finanziert werden könnte. Bis Sommer 2025 erhofft sich die Kulturstiftung hier Klarheit. Denkbar wäre es auch hierfür den gefüllten Lotteriefonds zu nutzen. Das wurde jedenfalls bei „Kultur trifft Politik!“ diskutiert.
In Amriswil soll es ebenfalls eine Lösung für die Musikvereine geben. „Wir sind dran und wollen eine Lösung erarbeiten“, sagte Petra Stoios, SP-Stadträtin für Kultur in Amriswil in der Diskussionsrunde. Eine vor zwei Jahren angedachte Lösung in einem ehemaligen Kirchengemeindehaus Proberäume zu etablieren, war gescheitert, weil die Kirchengemeinde das Gebäude nicht an die Stadt, sondern an die Heilsarmee verkauft hatte.
Für Kulturschaffende sonst noch wichtig: Die Kulturstiftung Thurgau mit ihrer Wegeleitung eine Übersicht, welche Förderungsmöglichkeiten es für Kulturschaffende aller Sparten gibt. Kulturschaffende können sich auch an Kulturföderinstitutionen wenden, um unter anderem beim Thema Raum informiert zu bleiben. Und: Ann Katrin Cooper und Michael Lünstroth haben in ihrem Beitrag „In acht Schritten zum eigenen Raum“ Tipps gegeben, wie man als Künstler:in leichter an ein eigenes Atelier oder einen Proberaum gelangen kann.
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Die Reihe „Kultur trifft Politik!“ geht weiter
Die Reihe „Kultur trifft Politik!“ wird 2025 mit zwei weiteren Ausgaben fortgeführt. Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau hat die Finanzierung hierfür bereits zugesagt. Aktuell konzipieren wir die weiteren Veranstaltungen und denken über mögliche Themen nach. Wir sind dabei auch offen für Ideen und Vorschläge. Einfach per Mail an redaktion@thurgaukultur.ch Über die konkreten Termine und Themen werden wir rechtzeitig informieren.
Von Judith Schuck
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Kommt vor in diesen Ressorts
- Kulturpolitik
Kommt vor in diesen Interessen
- Kulturförderung
- Kulturvermittlung
Ist Teil dieser Dossiers
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