von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 25.11.2024
Wo sind die Wege aus der Raum-Krise?
Schwerpunkt Räume: Woran liegt der Mangel im Kanton? Und wie könnte man ihn bekämpfen? Eine Recherchereise zu Betroffenen und Ermöglichern. (Lesedauer: ca. 11 Minuten)
Manchmal zeigen sich die grossen gesellschaftlichen Fragen sehr konkret in den kleinen Dingen. Zum Beispiel in Frauenfeld. Dort ging es in den vergangenen Jahren immer mal wieder um diese Frage: Sind Plätze für Autos wichtiger als Orte für Menschen? Gino Rusch weiss, wie sich diese Debatte anfühlt.
Seit Jahren engagiert sich Gino für das KAFF in Frauenfeld, einer der wenigen Orte in der Kantonshauptstadt, in denen junge Kultur einen festen Platz hat. Immer wieder musste das KAFF seinen Standort verlegen. Als sich vor einigen Jahren die Lösung abzeichnete auf dem Unteren Mätteli, ganz in Bahnhofsnähe, eine neue Heimat für das KAFF zu schaffen, gab es harte Debatten über das Für und Wider. Denn: Das Untere Mätteli war bis dahin vor allem ein Parkplatz.
Und wenn es eine Regel in der Frauenfelder Politik gibt, dann die: Sobald Parkplätze wegfallen könnten, gehen vornehmlich die bürgerlichen Parteien auf die Barrikaden. Nach langem Hin und Her setzte sich das KAFF zwar durch, aber die Kontroverse hat Spuren hinterlassen bei Gino Rusch. „Mein Eindruck ist, dass die Interessen junger Menschen im Gemeinderat nicht so gehört werden. Wenn du als junger Mensch hier etwas erreichen willst, musst du hart dafür kämpfen“, sagt Rusch.
So schnell wird aus einem Kampf um die Nutzung von öffentlichen Räumen auch eine Debatte um gesellschaftliche Teilhabe.
„Mieten für Proberäume sind oft nicht finanzierbar, Veranstalter:innen können sich unbekannte Bands immer weniger leisten, Förderstellen vermitteln viel zu selten, wie man sich um Gelder bewerben kann. Oft ist man auf sich selbst zurück geworfen.“
Gino Rusch, kulturschaffend
Den Kampf um Räume kennt Gino aber auch aus anderen Kontexten. Gino hat eine eigene Band, ist kunstschaffend tätig und sucht immer wieder nach Proberäumen und Auftrittsmöglichkeiten. „Das verfolgt mich in allen Projekten“, sagt Rusch. Gerade für junge Menschen sei die Lage schwierig: „Mieten für Proberäume sind oft nicht finanzierbar, Veranstalter:innen können sich unbekannte Bands immer weniger leisten, Förderstellen vermitteln viel zu selten, wie man sich um Gelder bewerben kann. Oft ist man auf sich selbst zurück geworfen“, schildert Gino die Lage aus seiner Perspektive.
Mit diesem Gefühl ist Gino Rusch nicht alleine. Die Klagen über fehlende Räume, seien es Proberäume, Ateliers oder Bühnen-Gigs, machen schweizweit die Runde. Der Mangel ist bekannt, aber seit Jahren ändert sich kaum etwas. Manche Städte richten Raumbörsen ein, versuchen zu vermitteln. Aber in der Ostschweiz, vor allem in der Peripherie jenseits grosser Städte, bleibt es kompliziert. Wer da nicht jemanden kennt, der jemanden kennt, der vielleicht einen Raum zur Verfügung stellt, ist aufgeschmissen.
Dabei sind Räume für Kulturschaffende existenziell. In Ateliers und Proberäumen kann wachsen, was irgendwann mal auf die Bühne oder in eine Ausstellung kommen kann. Wenn es aber weder Ateliers, Proberäume noch Auftrittsmöglichkeiten gibt, dann findet Kultur unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Ein Teufelskreis. Wer Kultur fördert, kann genau das eigentlich nicht wollen.
In den kommenden Wochen beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema Räume. In mehreren Beiträgen beleuchten wir im Magazin verschiedene Aspekte des Themas. Alle Texte werden wir in einem Dossier bündeln. Aber dabei bleibt es nicht. Wir wollen darüber auch diskutieren. Dazu haben wir ein neues Veranstaltungsformat entwickelt. Es heisst „Kultur trifft Politik!. Wir sind überzeugt: Probleme kann man nur lösen, wenn man miteinander im Gespräch bleibt.
Deshalb nutzen wir das Thema „Räume“ um Kulturschaffende und Politiker:innen in den Dialog zu bringen. Was sind die Herausforderungen auf Seiten der Künstler:innen? Woran mangelt es aus ihrer Sicht? Welche Möglichkeiten haben Politiker:innen überhaupt auf diesen Mangel zu reagieren? Wo genau könnten sie ansetzen, um die Situation zu verändern? Und wo sind vielleicht auch Politiker:innen die Hände gebunden?
Darüber wollen wir reden. Am Mittwoch, 27. November, ab 18:30 Uhr, im Apollo Kreuzlingen. Wir diskutieren darüber mit Isabelle Krieg (bildende Künstlerin), Christoph Luchsinger (Musiker), Gino Rusch (KAFF Frauenfeld), Samuel Svec (IG Probelokal Amriswil), Stephan Tobler (SVP-Kantonsrat), Petra Stoios (Stadträtin für Kultur Amriswil), Andreas Netzle (Ex-Stadtpräsident Kreuzlingen und heute Präsident der Jugendmusik Kreuzlingen sowie Peter Surber (IG Kultur Ost).
„Kultur trifft Politik!“ ist aber keine klassische Podiumsdiskussion. Du kannst dich aktiv einbringen. In Workshops arbeiten Kulturschaffende, Politiker:innen und Publikum gemeinsam an Lösungen für die drängenden Raumprobleme. Ziel des Abends ist es, konstruktive Ideen zu entwickeln, die zu einer Verbesserung der Raumnot beitragen. Hast du auch Lust mitzudenken? Dann melde dich jetzt an. Die Veranstaltung ist kostenlos, aber deine Anmeldung hilft uns dabei, den Abend besser planen zu können.
Auch Musikvereine sind vom Mangel betroffen
Betroffen davon sind Kulturschaffende aus allen Disziplinen, jeden Alters und jeder Ausprägung. Samuel Svec hat darüber auch schon viel nachgedacht. Er ist engagiert in verschiedenen Musikvereinen rund in Amriswil und vor zwei Jahren schien sich dort eine grosse Möglichkeit aufzutun. Die evangelische Kirchengemeinde verkaufte ihr Gemeindehaus, fünf musiktreibende Vereine aus der Stadt schlossen sich in einer Interessengemeinschaft (IG) zusammen und die Stadt bereitete ein Angebot vor das Haus zu kaufen. Das Ziel: Ein Kulturhaus zu errichten, in dem die Amriswiler Vereine proben und aufführen können.
„Das war wirklich eine Chance für die ganze Stadt. Die Situation für viele Musikvereine ist mässig, viele leben mit Provisorien, in denen sie geduldet sind. Das wollten wir ändern“, sagt Svec im Gespräch mit thurgaukultur.ch. Die IG Probelokal Amriswil erstellte einen Bedürfniskatalog, was die Vereine bräuchten. Fünf Vereine und insgesamt 150 Musikerinnen und Musiker hätten davon profitiert, es wäre auch ein Zeichen der Wertschätzung an die engagierten Musikvereine gewesen, ihnen eine neue Heimat zu geben. Die Stadt zeigte ihrerseits guten Willen, unterstützte die Ambitionen der Vereine. In dem Mitteilungsblatt der Stadt schwärmte man im Dezember 2022 von den Möglichkeiten: Das „K-Huus“, so der Name, könne „ein Haus mit Raum für Dringendes, für Neues, für Begegnung, Innovation und Kreation“ werden.
Das Projekt scheiterte an der Kirche
Am Ende kam es anders: Die evangelische Kirche verkaufte das Gemeindehaus an die Heilsarmee. Die Musikvereine sind weiter auf der Suche nach einem geeigneten Probelokal. Nach der ersten Enttäuschung richten sie nun aber wieder den Blick nah vorne. „Die Frage nach einem Probelokal muss in dieser Legislatur geklärt werden“, findet Samuel Svec.
Er ist inzwischen auch in einer anderen Rolle aktiv. Nicht mehr nur Gründer einer Interessengemeinschaft, sondern auch Stadtrat für Verkehr und Sicherheit in Amriswil. Es sei nicht immer leicht, die verschiedenen Hüte auseinanderzuhalten, aber er wolle dazu beitragen, „dass es eine Lösung für die Raumprobleme der Amriswiler Musikvereine gibt“, sagt Samuel Svec.
Das ist dann der Punkt, an dem man sich die Frage stellen muss, was Politik eigentlich dazu beitragen kann, dieses Dauerproblem „Raummangel“ zu lösen. Christof Stillhard ist da eher ernüchtert. Er ist Kulturbeauftragter der Stadt Frauenfeld und sagt: „Wenn man kaum eigene Liegenschaften und Räume hat, dann kann man da eigentlich nicht viel machen.“
„Wenn das Casino zugeht, braucht die Kantonshauptstadt einen anderen Saal mit bis zu 600 Sitzplätzen. Ein Neubau an prominenter Stelle, das wäre ein deutliches Zeichen, das der Stadt gut zu Gesicht stehen würde.“
Christof Stillhard, Kulturbeauftragter der Stadt Frauenfeld
In Frauenfeld gibt es in einem Zivilschutzkeller eines Schulhauses vier Proberäume für Musiker:innen. Die waren früher bei der Jugendarbeit der Stadt angesiedelt und es gab eine Altersbegrenzung. Irgendwann mussten die Bands wieder ausziehen. Diese Altersgrenze gibt es nun nicht mehr. Mit der Folge, dass die die drin sind, nicht freiwillig wieder ausziehen. „Da gibt es kaum Bewegung“, sagt Stillhard.
Versucht habe er selbst einiges, um aus der Misere herauszukommen. Vor einigen Jahren habe er alle Unternehmen und Immobilieneigentümer angeschrieben mit der Frage, ob sie nicht Räume für Kultur, auch als Zwischennutzung, zur Verfügung stellen können. Geantwortet habe genau einer. Und selbst der sei dann irgendwann abgesprungen. „Eine Punkband im Keller, das hat halt nicht jeder so gerne“, kommentiert Stillhard lakonisch.
Eine grössere Dringlichkeit als bei Proberäume sieht der Kulturbeauftragte in seiner Stadt ohnehin eher bei der Frage der Auftrittsmöglichkeiten: „Wenn das Casino zugeht, braucht die Kantonshauptstadt einen anderen Saal mit bis zu 600 Sitzplätzen. Ein Neubau an prominenter Stelle, das wäre ein deutliches Zeichen, das der Stadt gut zu Gesicht stehen würde“, sagt Stillhard. Um gleich danach zu sagen, dass er nicht allzu grosse Hoffnungen hat, dass dies eine Mehrheit im Frauenfelder Gemeinderat finde. Die Stadt steht unter Spardruck, der zu Teilen selbst gemacht ist, weil die Steuern stetig gesenkt wurden. Das wieder zurückzunehmen ist nicht sonderlich populär in einer bürgerlich geprägten Gemeinde.
Die Konsequenzen des Spardrucks
Christof Stillhard hält das für falsch. Er sagt: „Bei dieser ganzen Sparerei denkt man nicht an die Zukunft. Wenn wir uns nichts mehr leisten, sinkt die Attraktivität der Stadt. Diese Knauserigkeit überall wird der Stadt langfristig nicht gut tun“, prophezeit der Kulturbeauftragte.
Im Rahmen der Recherche haben wir auch das kantonale Kulturamt um eine Stellungnahme gebeten. Philipp Kuhn, Leiter des Kulturamts, antwortete folgendermassen: „Räume und deren Bereitstellung und Förderung sind ein grosses und ständiges Thema im Kulturbereich. So wohl auch im Kanton Thurgau. Allerdings sind uns bisher keine belastbaren Zahlen und Fakten zum tatsächlichen Bedürfnis bekannt. Das Thema Raum ist aber auf unserer Agenda und wir werden uns diesem sicherlich vertiefter widmen im Rahmen der Erarbeitung des künftigen Kulturkonzepts. Spezifische Fördermassnahmen gibt es bereits. Z.B können wir mittels Beiträge an Infrastrukturvorhaben die Kulturtauglichkeit von Räumen ermöglichen oder verbessern.
Zur Frage einer möglichen Raumbörse für den Thurgau: „Räume sind zwar eines der wichtigen Themen der Kulturförderung, aber eben nur eines unter mehreren.
Eine weitergehende Förderung von Räumen erfordert zuerst einmal einen ausgewiesenen Bedarf. Vielleicht macht ein solches Portal Sinn. Vielleicht auch nicht. Es braucht meines Erachtens nicht immer gleich ein neues Förderinstrument. Vieles ist gut dokumentiert auf unserer Website. Darüber hinaus kann man auch immer mit uns reden.“
„Raum ist ein zentrales Thema in meiner Arbeit. Die Frage, wo kann ich zeigen, was ich mache, stellt sich in jedem Projekt. In Städten wie St. Gallen oder Zürich fällt die Antwort meistens leichter als im Thurgau.“
Simone Keller, Pianistin (Bild: Lisa Jenny)
Simone Keller würde das, was Christof Stillhard sagt, vermutlich unterschreiben. Die renommierte und vielfach ausgezeichnete Pianistin (unter anderem Schweizer Musikpreis und Thurgauer Kulturpreis) verzweifelt auch manchmal, wenn sie im Thurgau ein Konzert spielen will. Besonders in ihrer Sparte, der Neuen Musik, sei es oft schwierig Veranstalter:innen zu finden, die den Mut haben auch Experimentelles zu buchen.
Die ökonomischen Zwänge der Veranstalter:innen verunmöglichten dann innovative Projekte, weil die Angst zu gross sei, dass keine Zuschauer:innen kommen. „Raum ist ein zentrales Thema in meiner Arbeit. Die Frage, wo kann ich zeigen, was ich mache, stellt sich in jedem Projekt. In Städten wie St. Gallen oder Zürich fällt die Antwort meistens leichter als im Thurgau“, sagt Keller.
Sind Veranstalter:innen mutlos?
Wenn Veranstalter:innen zu mutlos sind, dann greift Simone Keller manchmal auch zu einer ungewöhnlichen Methode - sie wird selbst Veranstalterin, mietet einen Raum und zeigt dann, was sie zeigen will. Aber das sei extrem aufwändig. Beispielhaft erklärt sie es an einem Musiktheater, das sie kürzlich im Frauenfelder Eisenwerk gezeigt hat: „Ich musste für die Vorstellung am Freitag das Theater im Eisenwerk mieten und war unter anderem damit beschäftigt, die Barkarten zu laminieren und den Vorverkauf über Eventfrog zu betreuen. Es wäre eine enorme Hilfe, Veranstalter zu haben, die solche Arbeiten übernehmen. Ich zahle einerseits Miete für den Theater-Raum, bezahle alle Gagen der auftretenden Künstler:innen und Techniker und trage zusätzlich das Risiko, dass ich keine Tickets verkaufe. Damit das halbwegs funktioniert, muss ich mich monatelang darum bemühen, das Fundraising aufzubauen. Das kostet alles extrem viel Zeit und Kraft und die Angst ist ständig da, dass man das gar nicht hinkriegen kann.“
Bei Projekten, die ihr wichtig sind, macht sie es trotzdem. Warum tut sie sich das an? Simone Keller überlegt kurz und sagt dann: „Ich finde es wichtig, mich dem immer wieder auszusetzen, gerade weil ich ja das Glück habe, auch zu wissen, wie es anders sein kann, wenn man irgendwo eingeladen wird und sich in einer gefestigten Struktur auf die künstlerische Arbeit konzentrieren kann.“
Die grosse Hoffnung heisst „Stadtkaserne“
Eine mögliche Lösung für das Raumproblem liegt nur einen guten Kilometer vom Eisenwerk entfernt. Seit fast zehn Jahren plant die Stadt Frauenfeld an der Stadtkaserne herum. Die ersten Entwürfe entstanden 2016. Seit diesem Jahr ist die Stadt Eigentümerin dieser grossen Immobilie zwischen Bahnhof und Altstadt. Für Städteplaner ist dies eigentlich ein Traumprojekt. Wo kann man heute noch mitten in einer Stadt ein ganz neues Quartier planen? Auch Räume für Kulturschaffende sollten auf dem 14'000 Quadratmeter grossen Gelände entstehen.
An einem Dienstag im Oktober steht Marco Wehrli im grossen Kasernenhof und schaut in den Himmel. Über dem Hauptgebäude der Kaserne hat sich eine dunkelgraue Wolke festgesetzt. Ob das ein Omen für die Zukunft des Projektes ist? Wehrli lacht und sagt: „Nein, das glaube ich nicht. Es läuft vielleicht nicht alles so schnell, wie wir das erhofft hätten, aber wir sind auf einem guten Weg“, sagt der Mann, der bei der Stadt verantwortlich ist für die Umnutzung der Stadtkaserne. Eigentlich sollten schon längst die ersten Mieter:innen eingezogen sein, aber immer wieder musste der Termin verschoben werden. In einigen Gebäudeteilen gab es Asbest, die Feuerwehr machte klare Vorgaben beim Brandschutz und die Spardebatte in der Lokalpolitik hat auch nicht gerade geholfen, das Vorhaben zu beflügeln.
Die Debatte um die Mietpreise
Trotzdem soll es jetzt bald wirklich losgehen. Im Januar 2025 zieht Leben in die Stadtkaserne ein. Zu den ersten Mieter:innen zählen unter anderem die Bar einer Brauerei, eine Kaffeerösterei mit Kaffeebar, ein Tanz- und Bewegungsraum sowie ein Unternehmen für Videokommunikation. „Ein vielfältiger Mix ist also garantiert“, sagt Marco Wehrli. Sieht man von dem Tanz- und Bewegungsraum ab und zwei frisch an zwei Künstler:innen vermietete Räume im Obergeschoss , dann finden sich noch nicht allzu viele Kulturschaffende unter den Mieter:innen.
Woran das liegt, kann Marco Wehrli nicht richtig sagen, bislang habe es einfach noch zu selten gepasst. Grundsätzlich sei die Stadtkaserne aber weiter offen auch für Kulturschaffende. „Wir können hier in der Stadtkaserne ein Teil der Lösung des Raumproblems für Künstlerinnen und Künstler sein“, sagt Wehrli. Er verteidigt auch die von manchen Kulturschaffenden kritisierten Mietpreise: „Bei uns bekommt man einen beheizten Raum mit Fenster im Obergeschoss bereits zwischen 200 und 400 Franken, für einen Tiefgaragenstellplatz zahlt man in Frauenfeld über 100 Franken“, sagt der Stadtkasernen-Planer. Die Nutzung der Stadtkaserne unterliege eben auch gewissen wirtschaftlichen Zwängen. Die Stadt will hier nicht nur investieren, sondern auch Geld einnehmen.
Dazu muss man zudem wissen: Alles, was jetzt passiert, ist erstmal eine Zwischennutzung. Die langfristige Nutzung der Stadtkaserne wird in den nächsten Jahren erprobt. Es kann also gut sein, dass sich die Mix der Mieter:innen immer wieder verändert. Je nach Finanzlage der Stadt könnte es auch weiter Richtung kommerzielle Nutzung kippen.
Die Kulturstiftung will Ateliers in der Stadtkaserne schaffen
Damit das nicht passiert und die Kultur ihren Platz in der Stadtkaserne behält, hat die Kulturstiftung des Kantons Thurgau einen kühnen Plan ersonnen. Die Kulturstiftung möchte Teile der Stadtkaserne bespielen. „Wir arbeiten an einem Konzept für Ateliers, wie genau das aussehen könnte, wird sich noch zeigen müssen. Es gibt verschiedene Faktoren, welche die Kulturstiftung berücksichtigen muss.“, sagt Stefan Wagner, Kulturbeauftragter der Stiftung im Gespräch mit thurgaukultur.ch
Insgesamt neun Räume, jeweils mit einer Grösse von rund 50 Quadratmetern sind im Gespräch. Entstehen sollen sie im Hauptgebäude der Stadtkaserne. „Auf jeden Fall ist das eine grosse Chance für die Kultur im Thurgau. Ateliers könnten neue Impulse setzen und Künstler:innen, die aus dem Thurgau stammen, aktuell aber nicht hier leben, eine Rückkehroption bieten. Das Kulturleben hier würde davon sicherlich profitieren“, ist Stefan Wagner überzeugt.
Der grosse Knackpunkt im Moment ist aber das Geld. „Es ist klar, dass wir es als Stiftung nicht aus unserem regulären Budget stemmen können. Dazu braucht es zusätzliche Mittel“, erklärt Wagner. Woher die kommen soll, ist noch offen. Viel konkreter könne er aber im Moment noch nicht werden. Nur noch so viel: Bis zum Sommer 2025 sollte klar sein, ob das Projekt für die Kulturstiftung realistisch umsetzbar ist, oder nicht.
Mehr Klarheit ab Frühjahr 2025
Selbst wenn sich die Stiftung dann entschliesst das Vorhaben weiter zu verfolgen, bleibt offen, wann dann die ersten Kulturschaffenden wirklich einziehen könnten. Denn: Zu welchem Zeitpunkt die Sanierung des Hauptgebäudes abgeschlossen sein könnte, darüber könne auch er im Moment nur spekulieren, sagt Marco Wehrli. „Aktuell arbeiten die drei Gewinnerteams des städtebaulichen Ideenwettbewerbs von 2016 an Vertiefungsstudien für das ganze Areal. Die Studien werden bis zum Frühjahr 2025 zeigen, wie die Stadtkaserne und deren Gebäude in Zukunft aussehen könnten“, erklärt Marco Wehrli.
Was schneller geht: Der Kasernenhof (zugelassen für bis zu 1500 Besucher:innen) und die Doppelreithalle (bis zu 300 Besucher:innen) können ab Januar 2025 für Events gemietet werden. Erste Anfragen gibt es laut Wehrli bereits. So soll das Winzerfest auf dem Kasernenhof stattfinden, das Festival „Fete de la musique“ sei interessiert und weitere Anfragen seien eingetroffen. Auch die Veranstalter des Street Art Festivals hatten überlegt, das Areal für die zweite Auflage im Juni 2025 zu nutzen, sie haben sich aber mittlerweile dagegen entschieden.
Trotzdem werde nach und nach Leben einziehen auf das frühere Militärgelände, ist Wehrl überzeugt. Er macht aber auch klar, dass das Projekt einen langen Atem brauchen wird. „Wir haben die Schlüssel für das Areal jetzt seit zehn Monaten, der Zustand des Gebäudes war für uns lange unklar, deshalb kann ich alle nur um etwas Geduld bei der Umsetzung bitten. Wir geben alles dafür, dass es ein lebendiger Ort wird“, sagt Marco Wehrli noch ehe er wieder über den Kasernenhof verschwindet.
Ein Atelierbesuch bei Isabelle Krieg
Dass Isabelle Krieg mal in die Stadtkaserne einzieht, ist im Moment eher schwer vorstellbar. Die bildende Künstlerin lebt in Kreuzlingen und leistet sich gerade den Luxus zwei Ateliers zu mieten. Eines liegt in der zweiten Etage eines früheren Industriebaus im Osten von Kreuzlingen. Im Atelier steht ein grosser Tisch, an den Wänden stehen oder hängen Regale von der Decke baumeln Werke der Künstlerin. „So aufgeräumt ist es eigentlich selten“, sagt die Künstlerin zur Begrüssung und lacht.
Der Grund für die Ordnung hat dann aber auch wieder mit Raumnot zu tun: Es ist deswegen so aufgeräumt, weil das Atelier klein ist, die Künstlerin aus Raumnot seit September noch ein zweites Atelier angemietet hat und die Hälfte der Ateliersachen dort ist. „Mehr als doppelt so viel Raum zu haben, ist super, mehr als doppelt so viel Miete zu bezahlen, geht aber auf Dauer nicht“, sagt Isabelle Krieg.
Ihr Atelier ist für sie „ein Möglichkeitsraum“. Eigentlich, so sagt es Krieg, sollte jeder Mensch ein Atelier haben. „Hier entwickeln sich Ideen, hier entsteht Neues. Ich liebe mein Atelier, und ich habe wirklich alle meine bisherigen Ateliers geliebt“, erklärt sie.
„Alles ist besser als Leerstand, deshalb gebt Kulturschaffenden eure Räume. Es werden gute Dinge passieren!“
Isabelle Krieg, Künstlerin (Bild:Michael Lünstroth)
Einen eigenen Raum zu haben, in dem man fokussiert an etwas arbeiten kann, das sei extrem wichtig für sie. Manchmal wundert sie sich auch ein bisschen über die Debatte über Räume für Kunstschaffende. „Es scheint immer etwas „Anrüchiges“ zu haben, wenn Künstler:innen Ateliers suchen. Ich glaube, dass das zwei Gründe hat. Erstens: der Hauptgrund ist der, dass Künstler:innen einerseits viel Platz brauchen, andererseits das nötige Geld nicht haben, den vielen Raum standardmässig zu bezahlen. Das ist „anrüchig“. Zweitens: Kunst lässt sich schlecht einordnen, sie hat überraschende, anarchistische oder beunruhigende Momente, und das ist vermutlich vielen Immobilienbesitzer:innen zu aufregend, zu unsicher. Das sagt auch ein bisschen was über den Stellenwert von Kunst und Kultur in unserer Gesellschaft“, findet Isabelle Krieg.
Ihr Traum wäre es, einen Ort zu haben, in dem mehrere Künstler:innen in eigenen Ateliers arbeiten und sich bei Bedarf aber auch jederzeit austauschen können. So etwas fehle dem Thurgau, sagt Krieg. Und sie schliesst mit einem Appell an alle Immobilieneigentümer:innen: „Alles ist besser als Leerstand, deshalb gebt Kulturschaffenden eure Räume. Es werden gute Dinge passieren!“
Und jetzt? Das sind mögliche Lösungen für die Raumkrise
Was bleibt nun von diesem Text? Zeichnen sich mögliche Lösungen ab? Was können Politiker:innen tun, um den Mangel zu bekämpfen? Die Recherche hat zumindest einige Ansätze offen gelegt. Eine Raumbörse oder ein Leerstandsmelder zu ungenutzten Räumen wäre eine Idee. Portale wie das aus einer Kreuzlinger Maturaarbeit entstandene findmyband.ch oder music.ch zeigen, wie das aussehen könnte. Über den Lotteriefonds liesse sich die Einrichtung und der Betrieb einer solchen Website finanzieren. Nachdenken könnte man auch über Sharing-Modelle wie es im Winterthurer bandherd.ch gibt. Gemeinden könnten zudem verstärkt Kellerräume oder Zivilschutzkeller in öffentlichen Gebäuden für kulturelle Nutzungen frei geben.
Der Kanton könnte sich auch dazu entschliessen, die reichlich vorhandenen Mittel aus dem Lotteriefonds zur Einführung neuer Förderprogramme speziell für die Schaffung und Erhaltung von Kultur- und Proberäumen zu nutzen. Oder noch gezielter die Bandkultur im Kanton zu fördern und Räume in diesem Sinne mitzudenken. Und hilfreich wäre es allemal, das Netzwerk mit der Immobilienbranche zu stärken, um den Unternehmer:innen aufzuzeigen, welche Chancen für sie in einer Kooperation mit Kulturschaffenden liegen. All das zeigt: Wenn Politik will, kann sie zu Lösungen beitragen.
Was einem Mut machen kann
Zum Abschluss dieser Recherchereise kehren wir noch einmal zurück zu Gino Rusch nach Frauenfeld. Die Situation einfach so zu akzeptieren wie sie ist, kommt für Gino nicht in Frage. Gemeinsam mit der Kollegin Jana Kohler hat Rusch deshalb im vergangenen Jahr ein in der Reihe „Sparks“ von Migrosprozent gefördertes Projekt gestartet. Es heisst „Grüsse aus der Provinz“ und will junger, autonomer Kultur in der Provinz Räume geben. „Wir planen diverse Projekte, die ganz im Zeichen des Ausprobierens stehen soll und den Fokus auf intersektionale Künstler:innen legt“, beschreibt Rusch das Projekt.
Vielleicht ist das die ermutigendste Botschaft dieser Recherche: Selbst wenn es scheinbar keine Räume für Kultur gibt, so gibt es doch immer noch Menschen, die dafür kämpfen, neue Räume zu erobern. Auch in der Peripherie. Letzte Frage an Gino Rusch: Warum bist du überhaupt hier geblieben? Du hättest dein Glück doch auch anderswo suchen können. „Ich bin geblieben, weil ich die Dringlichkeit gesehen habe, ich etwas tun wollte und es mir wichtig war, im Thurgau wo ich aufgewachsen bin etwas aufzubauen, von dem auch spätere Generationen profitieren.“
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