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von Anabel Roque Rodríguez, 06.10.2025

Die Kraft der Zerbrechlichkeit

Die Kraft der Zerbrechlichkeit
Isabelle Krieg bei ihrer Performance «bachauf» in der Kartause Ittingen. | © Anabel Roque Rodriguez

Seit über drei Jahrzehnten entfaltet Isabelle Krieg ein Werk, das existenzielle Fragen aufwirft und poetisch berührt. Das Kunstmuseum Thurgau widmet der in Kreuzlingen lebenden Künstlerin jetzt eine Einzelausstellung. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

«bachauf» lautet der Titel der Performance, die die Künstlerin Isabelle Krieg am Tag der Eröffnung ihrer Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau vollführte. Entlang des kleinen Bachbetts läuft die Künstlerin in einem auffällig roten Neoprenanzug mit Eierschalen an den Fingern heiter summend mit blanken Füssen durch das kalte Wasser eines Bachs. Eigentlich verlangt es das Sprichwort, auf Eierschalen zu laufen, um auszudrücken, dass man sich übervorsichtig oder ängstlich verhält, um eine angespannte Situation nicht zu verschlimmern oder niemandem auf die Füsse zu treten.

Die Künstlerin kehrt das Sprichwort um, ist nicht ängstlich, sondern völlig im Moment. Sie muss sich stark konzentrieren, um auf dem Naturuntergrund nicht auszurutschen – die Hände sind ja mit den Eierschalen nicht zum Ausbalancieren zu nutzen, also muss sie mit dem gesamten Körper ihre Bewegungen ausgleichen.

Video: arttv.ch über die Ausstellung

 

Isabelle Krieg, "unendlich endlich" im Gewölbekeller des Kunstmuseum Thurgau. Bild: Anabel Roque Rodriguez

Eine sinnliche Performance

Dem kalten Wasser trotzend, summt die Künstlerin den gesamten Weg heiter. Vielleicht auch eine künstlerische Metapher, um zu zeigen, dass man einen positiven Gemütszustand kultivieren sollte, obwohl unsere Welt es derzeit nicht leicht macht, diesen Zustand zu erhalten.

Es ist eine Performance, die alle einbezieht, mit einer simplen Geste, sich auf den Moment einzulassen: Alle Besuchenden sind neugierig, wohin es geht, und folgen der Künstlerin am Bachufer entlang, vorbei an der Kartause zu einer Anhöhe. Am Ende taucht die Künstlerin in den Ittinger Ranft, einen kleinen Teich mit ein paar Sitzbänken hinter der Klosteranlage. Der Weg der Performance führt an der Ranft-Route entlang und spürt so dem eremitischen Leben der einstigen Kartäusermönche nach – ein Leben in sich gekehrt, im Zentrum spirituelle Fragen, Zeit zur Reflexion, zur Stille oder auch zum Gebet.

Es sind Themen, die auch in der Ausstellung eine Rolle spielen – in Form von Unendlichkeit und Endlichkeit, zwei Polen, an denen wir Menschen uns so gerne einordnen und danach streben oder es eben verdrängen. Der Mensch heutzutage hat keine Zeit zu verlieren, Produktivität muss gesteigert werden, und Lebenszeit darf nicht vergeudet werden. Dem Tod, der persönlichen Endlichkeit, begegnen wir allzu oft mit einer Haltung des «hm, das passt mir gerade nicht so ...».

 

Kurzbiografie der Künstlerin

Geboren 1971 in Fribourg/Freiburg (CH), machte Isabelle Krieg nach der Matura Erfahrungen auf der Alp, im Kleinzirkus und an der Accademia Dimitri Verscio, studierte ein paar Jahre an der Hochschule für Design und Kunst Luzern und entschloss sich dann, ihre Kunst autodidaktisch auszuüben. Über ein Atelierstipendium des Kantons Freiburg gelangte sie 1999 nach Berlin und blieb dort insgesamt sieben Jahre, unterbrochen durch Atelieraufenthalte in der Fundaziun Nairs in Scuol, am Schweizer Institut in Rom und in der Stiftung Binz39 in Zürich. 2012 gründete sie in Dresden eine Familie, lebte dort ebenfalls sieben Jahre und zog 2019 mit ihr an den Bodensee. Erst 2024 erhielt sie den Förderpreis des Kantons Thurgau.

Mehr unter: www.isabellekrieg.ch

 

Isabelle Krieg bei ihrer Performance «bachab» in der Kartause Ittingen. Bild: Anabel Roque Rodriguez

Zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit gibt es einen Raum

In ihren beiden grossen ortsspezifischen Installationen in der Kartause Ittingen zeigen sich Spannungsfelder von Endlichkeit und Unendlichkeit. Es begegnen uns Eier – allein mehr als 400 Strausseneier in der Installation «unendlich endlich» im ehemaligen Weinkeller. Dort schwebt eine liegende Acht aus Eiern, ein Zeichen der Unendlichkeit – ein wenig wie die Installation, die so nicht visuell fassbar ist, weil sie durch das Fenster nach aussen ragt und man von innen nie die Gesamtheit sehen kann. Der Boden ist ausgekleidet mit Schafwolle.

Der kleine Kreuzgarten war über Jahrhunderte hinweg der Friedhof der Kartäusermönche. Zwischen irdischer Endlichkeit und dem Zeichen der Unendlichkeit bewegt man sich auf weicher Wolle und ist plötzlich ganz bei sich. An der Eröffnung sieht man Menschen in der Wolle liegen, Kinder damit spielen und Besucher:innen in dieser besonderen Stimmung zur Ruhe kommen.

Es ist ein Ort des Dazwischens, des Meditierens, der Präsenz. Genau hier erhält Kunst einen Platz als Werkzeug zur Reflexion – als Schutzraum, um über Dinge nachdenken zu dürfen, Raum zu schaffen, der ausserhalb geplanter Zeit steht.

 

Isabelle Krieg, "unendlich endlich", 2025, Strausseneier, Eisen- und Glasfaserstangen, Schafwolle, Installationsansicht Kunstmuseum Thurgau. Bild: Stefan Rohner © 2025, ProLitteris, Zürich
Isabelle Krieg, "unendlich endlich" im Gewölbekeller des Kunstmuseum Thurgau. Bild: Stefan Rohner © 2025, ProLitteris, Zürich

Am Anfang war – das Ei?

In ihrer künstlerischen Symbolik findet Isabelle Krieg im Ei ihr zentrales Symbol und Material. Seit Jahrhunderten ist das Ei ein starkes Symbol in Kunst und Kultur. Es steht für den Ursprung allen Lebens, für Geburt, Zerbrechlichkeit und Erneuerung. In Mythen und Religionen erscheint es als kosmisches Ei, das die Welt in sich birgt – zugleich verletzlich und unerschöpflich. In der Kunst der Moderne wurde das Ei immer wieder aufgegriffen – als Form reiner Potenzialität, als Sinnbild der Ganzheit, als paradoxe Einheit von Innen und Aussen. Isabelle Krieg knüpft an diese lange Tradition an, doch in ihrer Arbeit wird das Ei nicht nur als Zeichen verstanden, sondern als unmittelbare, körperliche Erfahrung: zerbrechlich in der Hand, zugleich stabil in seiner Form und unendlich variabel in der Wiederholung.

So verwandelt sich das Ei bei ihr in eine Metapher für das Leben selbst – begrenzt und doch von einer radikalen Offenheit geprägt. Zwischen Anfang und Ende, Endlichkeit und Unendlichkeit, Stillstand und Bewegung lädt es die Betrachtenden ein, ihre eigene Haltung zur Zeit, zur Fragilität des Daseins und zur Kraft des Neubeginns zu befragen.

 

Verletzlich und unerschöpflich - das Ei. Bild: Anabel Roque Rodriguez

Vom Kosmischen zum Weltlichen

Die Ausstellung widmet sich – dem Ort der Kartause entsprechend – teils dem Unendlichen, teils dem Weltlichen.

In der ortsspezifischen Arbeit «Soft Orbit» greift Isabelle Krieg das Halbrund der Architektur auf. Der Begriff des Orbits – der Umlaufbahn – verweist auf das stete Kreisen des Lebens, auf Bewegung ohne Ziel, auf Wiederkehr und Wandel. Im Zusammenhang mit dem Symbol des Eis entsteht ein Dialog zwischen Mikro- und Makrokosmos: das Ei als Keimzelle des Lebens, der Orbit als dessen kosmische Entsprechung.

Erinnerungen an den Irakkrieg

Der Blick der Künstlerin wird dann immer konkreter, hin zum Strukturellen, zum Alltag menschlicher Erfahrung. So begegnet uns die Serie «unerledigt» (2003–2025): ein Tisch voller Kaffeetassen, in denen Personen zu sehen sind. Auf den ersten Blick wirken die Arbeiten wie moderne Orakelbilder – ein Spiel mit der Idee des Kaffeesatzlesens. Doch der Ursprung der Serie ist real und entstand zu Beginn des zweiten Irakkriegs, als die Künstlerin bemerkte, dass sie die erschütternden Nachrichten beim Morgenkaffee ebenso beiläufig konsumierte wie den Kaffee selbst. So werden die Tassen zu kleinen, privaten Weltmodellen, in denen sich globale Ereignisse spiegeln.

Die Kunst von Isabelle Krieg verhandelt das Grosse und Überirdische neben dem Alltäglichen und Intimen, das Ewige neben dem Flüchtigen. In dieser Gegenüberstellung offenbart sich die eigentliche Kraft ihrer Arbeit: die Fähigkeit, Sinn und Staunen dort zu finden, wo beides fast verloren scheint. Indem sie fragile Stoffe wie Eierschalen, Wolle oder Fäden in symbolische Konstellationen bringt, verwandelt sie das Vergängliche in ein Bild des Beständigen. Ihre Kunst öffnet zwischen der zerbrechlichen Erfahrung des Jetzt und einer stillen Sehnsucht nach Kontinuität und Unendlichkeit.

 

Isabelle Krieg, "Hope Tent", 2024, Glimmerplatten, Chiffonseide, Seil, 190 x 220 x 300 cm. Bild: Anabel Roque Rodriguez

Kunst als Haltung zum Leben

Kunst ist bei ihr eine Haltung zum Leben – wie in der Arbeit «Hope Tent» (2024), einem zeltartigen Gebilde, das zugleich Rückzugsort und Möglichkeitsraum ist. Hoffnung erscheint hier nicht als naive Zuversicht, sondern als Haltung, als stilles Beharren auf der Möglichkeit von Sinn – selbst inmitten von Brüchigkeit und Wandel. Im Kern geht es um den Menschen und das Nachdenken über Leben und Werden. Isabelle Krieg lädt ein, die Welt mit wachen Sinnen und offenem Herzen zu betrachten – und daran zu glauben, dass selbst in der Zerbrechlichkeit eine unerschöpfliche Kraft liegt.

 

Isabelle Krieg, "Life Jacket (Health)", 2023, getragene Jacken, Glasfasergewebe, Epoxidharz, 75 x 120 x 75 cm, Foto: Isabelle Krieg © 2025, ProLitteris, Zürich

 

Die Ausstellung

Isabelle Kriegs Ausstellung «unendlich endlich» ist bis zum 26. April 2026 im Kunstmuseum Thurgau zu sehen. 

 

Es gibt ein umfangreiches Rahmenprogramm zur Ausstellung. Eine Auswahl.

 

Mittwoch, 29. Oktober 2025, 14.30 Uhr
Kinderworkshop «Ist das erfunden oder gibt es das echt?»
www.museum-fuer-kinder.tg.ch

 

Dienstag, 11. November 2025, 19 Uhr / Mittwoch, 12. November 2025, 14 Uhr
Frauen-Kunst-Club
mit Isabelle Krieg, moderiert von Sabine Münzenmaier

 

Donnerstag, 20. November 2025, 18 Uhr
Buchvernissage mit Gesprächen zwischen der Künstlerin Isabelle Krieg,
der Verlegerin Vera Ida Müller, der Grafikerin Nadine Rinderer sowie den
Autorinnen Prof. Dr. Aleida Assmann und Stefanie Hoch

 

Donnerstag, 11. Dezember 2025, 19 Uhr
Konzert mit Kappeler | Zumthor
Vera Kappeler: Tasteninstrumente; Peter Conradin Zumthor: Schlagzeug

 

Freitag, 16. Januar 2026, 19.30 Uhr
Ittinger Sternstunde – Gespräch zum Thema «Himmel»
mit der Philosophin Barbara Bleisch und Pater Martin Werlen
Kunstmuseum Thurgau
Moderation: Judith Zwick, Remise Kartause Ittingen, Tickets auf www.kartause.ch

 

Donnerstag, 5. März 2026, 19 Uhr
endlich – ein Ausstellungsrundgang
mit Isabelle Krieg, moderiert von Stefanie Hoch

 

Donnerstag, 23. April 2026, 18 Uhr
Performance von Isabelle Krieg: «Ich erzähle Ihnen mein Leben»
mit anschliessendem Barbesuch im «Ochsenstall» der Kartause Ittingen

 

Sonntag, 16. November, 7. Dezember 2025, 8. Februar, 22. März 2026
jeweils um 11.45 Uhr
Öffentliche Führungen in der Ausstellung

 

Angebote für Schulklassen
Workshops oder Führungen für Schulklassen aller Stufen.
Individuelle Termine auf Anfrage: sekretariat.kunstmuseum@tg.ch

 

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