von Anabel Roque Rodríguez, 14.08.2025
Vom Alphabet zur raumfüllenden Installation

Sprache wird Kunst: Nach ihrer gemeinsamen Ausstellung in der Beletage Aarau 2024 arbeiten Beatrice Dörig und Agatha Zobrist im Weinfelder Sommeratelier erneut zusammen – diesmal nicht nur thematisch, sondern kollaborativ. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Ausgangspunkt ihrer Bewerbung für das Sommeratelier war die Idee der Linie – als verbindendes Element, als Kommunikationsmittel, als Leitfaden. Was mit diesem Interesse begann, entwickelte sich während der Arbeit zum Thema Sprache und Symbole. Beide Künstlerinnen teilen ein tiefes Interesse an Zeichen, insbesondere an jenen, die über Kulturen hinweg existieren – wie etwa die Triqueta, eine dreischleifige Knotenform mit keltischen Wurzeln, die sich auch in anderen Kulturkreisen wiederfindet. Sie sind fasziniert davon, wie sich Formen einschreiben, erinnern lassen, Bedeutung tragen – und doch offen genug bleiben, um neue Lesarten zu ermöglichen.
Im Gespräch betonen sie, wie sehr das Vertrauen des Sommeratelier-Teams ihnen erlaubte, ohne fertiges Konzept zu arbeiten, Risiken einzugehen und das Thema zu erweitern.
Von der Linie zum Symbol
Die Verbindung zwischen Sprache, Schrift und Kunst ist tief verwurzelt – nicht nur in theoretischen Diskursen, sondern auch in der künstlerischen Praxis quer durch die Kunstgeschichte. Zeichnung und Schreiben teilen die Linie als zentrales Ausdrucksmittel: beides sind Spur, Geste und Form von Gedanken.
Paul Klee sprach davon, eine Linie «spazieren zu führen», und verwischte damit bewusst die Grenze zwischen Zeichnung und Schrift. In vielen seiner Werke werden Zeichen, Linien und Symbole zu Trägern von Bedeutung, die weder eindeutig lesbar noch rein abstrakt sind.
Diese Nähe zum Symbolhaften, zum semiotischen Potenzial von Form, prägt auch die Arbeit von Beatrice Dörig und Agatha Zobrist. Sie interessieren sich nicht nur für die Bedeutung von Sprache, sondern auch für ihre visuelle und materielle Erscheinung – für das Zeichenhafte, das über reine Lesbarkeit hinausgeht: die Linie als Bedeutungsträgerin, Buchstaben und Symbole als Formen von Kommunikation und zugleich individueller Bedeutungen.
Kunst verstehen sie als System, das nicht nur zeigt, sondern auch übersetzt – wie ein Filter unserer Beziehung zur Welt. Diese Übersetzung ist nicht nur kognitiv, sondern auch sinnlich und emotional: Sprache wird zu Form, Erfahrung zu Material, flüchtige Gespräche zu installativen Präsenzmomenten.
Ein kleines Buch voller Buchstaben
Ein zentrales Projekt im Sommeratelier war die Arbeit mit 20 Menschen aus der Arbeitsintegration in Bischofszell. In Gesprächen über Sprache, Herkunft und Identität entstand ein kleines Buch voller Buchstaben – jeder von Hand geschrieben, eingebettet in Erinnerungen, Unterschiede in Betonung, Klang und Schriftbild, unter anderem in Ukrainisch, Georgisch und Tamilisch. Das Buch wurde zu einem symbolischen Archiv, in dem sich Sprachen begegnen und Unterschiede zur Ressource werden.
Es ist zugleich eine berührende Arbeit, die den emotionalen Wert von Sprache einfängt. Das Künstlerinnen-Duo erzählt, wie viel die Teilnehmenden über ihre Muttersprachen anhand des Alphabets zu berichten hatten – und dass manche Mühe hatten, sich wieder in die Buchstaben und Schriftzeichen einzudenken, so lange war niemand mehr danach gefragt worden.
Die Auseinandersetzung mit dem Alphabet wird so zu einer Form der Erinnerung – ein Rückgriff auf sprachliche Ursprünge, die oft mit biografischen Brüchen verbunden sind. In der scheinbar einfachen Frage nach den Buchstaben der eigenen Muttersprache öffnet sich ein Raum für Zugehörigkeit, Verletzlichkeit und kulturelle Identität, der weit über das Geschriebene hinausgeht.


Die Flüchtigkeit von Sprache
Sprache ist flüchtig – ebenso wie die ortsspezifischen Arbeiten in der Remise, die nach Ende des Sommerateliers wieder verschwinden werden. Diese Vergänglichkeit verbindet sich mit einem performativen Element: Die Betrachtenden treten in Dialog mit den Werken – jede:r auf eigene Weise – und werden so zu Mitinitiator:innen der Kommunikation vor Ort.
Ein Beispiel ist die hausfüllende Installation mit Garn, die sich vom Giebel bis ins Erdgeschoss über alle Stockwerke zieht. Oben unter dem Dach stehen grosse Garnrollen, deren Fäden sich durch alle Stockwerke winden; im mittleren Geschoss verweilen sie kurz in Form grosser, sich überlappender Kreise, die selbst in Schwingung und Kommunikation zu treten scheinen.
Im Erdgeschoss verwandelt sich das Garn in einen Vorhang, der wie Regen herunterprasselt. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass in den Fäden Zeichen geformt sind – zunächst kaum lesbar, wie ein Regen aus Linien, der seine Form erst durch konzentriertes Hinschauen offenbart. Die Installation bewegt sich zwischen Abstraktion und lesbarer Realität – ein Raum, der sich nur im Zusammenspiel mit den Betrachtenden vollendet.
Vieles ist noch im Entstehen, und das Duo hat weitere Ideen. Bis zur Eröffnung am 24. August wird sicher noch einiges hinzukommen. Die bisherigen Arbeiten laden dazu ein, Sprache nicht nur zu lesen, sondern zu spüren – als Linie, als Form, als Resonanzraum zwischen Menschen.
Im Sommeratelier ist ein Geflecht aus Zeichen, Beziehungen und Bedeutungen entstanden, das sich nicht festschreibt, sondern in Bewegung bleibt.
Eine Einladung zum Verweilen, zum Entschlüsseln – und weiterzudenken.

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