von Anabel Roque Rodríguez, 10.06.2025
Kunst als Sprache der Welt

Konzeptkunst trifft Handwerk: In der Kunsthalle Arbon gibt der Künstler Paulo Wirz eine Lehrstunde darüber, wie Bedeutung in der Kunst entsteht. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Der Titel „dormitorios“ (Schlafzimmer) führt uns ins Private, ins Innere – in einen Raum, der dem Schlafen dient. Eigentlich das Gegenteil von dem, was man erwartet, wenn man einen Ausstellungsraum betritt. Die Kunsthalle Arbon, in der man die Installation findet (zu sehen bis 13. Juli), ist abgedunkelt und erzeugt so tatsächlich eine intime Atmosphäre. In der grossen Halle entdecken wir ein Wegesystem aus Alltagsobjekten: Gläser, Kerzen, Besteck und weitere Gegenstände formen eine Art Grundriss auf dem Boden.
Der ausstellende Künstler Paulo Wirz erläutert, wie ihn die Wortbedeutung des Begriffs dormitorios interessierte. Die Ursprünge des Begriffs liegen im altgriechischen Wort „Koimeterion“. Die Grundbedeutung verweist sowohl auf das Konzept des Klosters als auch auf den Friedhof.
Der Zustand des Schlafens war im Mittelalter ein beliebtes Motiv für den Tod – die ewige Ruhe. „In meinen Arbeiten interessiert mich immer wieder, wie wir eigentlich Kultur wahrnehmen und welche Codes wir darin verwenden. Besonders interessiere ich mich für den Glauben und die Systeme, die er schafft – wie die Religion. Der Tod ist ein starker Faktor in der Religion. Es gibt diesen interessanten philosophischen Gedanken von Edgar Morin, dass sich unsere Gesellschaft nur deshalb so stark entwickelt hat – in ihren Erfindungen oder ihrer Sprache –, weil wir uns des Todes bewusst sind. Der Tod ist ein wesentlicher Moment der Evolution.“

Über die Sprache der Dinge
Die Ausstellung wirkt auf den ersten Blick wie ein überdimensionales Stillleben: Gläser, Besteck, fragile Arrangements. In der Kunstgeschichte steht das Stillleben für die Wertschätzung des Alltäglichen, aber auch für das memento mori, die Erinnerung an die Vergänglichkeit allen Lebens. Alles erscheint bedeutsam, weil es endlich ist.
Paulo Wirz treibt diesen Gedanken weiter, indem er gewöhnliche Dinge zum Ausgangspunkt seiner Werke macht – er nennt dies sein vocabulary of material. „Ich finde es interessant, wie alltägliche Gegenstände ihre Bedeutung je nach Kontext verändern können.“
Diese Kontextverschiebung ist das Fundament seiner künstlerischen Arbeit: Dinge können wie Zeichen gelesen werden – eine Sprache, deren Bedeutung sich im Raum zwischen Objekt, Betrachter:in und Umgebung entfaltet. Diese Idee basiert auf Marcel Duchamp, der mit seinen sogenannten Ready-Mades das Verständnis von Kunst revolutionierte. Indem er Alltagsobjekte – etwa ein Urinal (Fountain, 1917) – aus ihrem ursprünglichen Gebrauchszusammenhang herauslöste und sie als Kunstwerke deklarierte, stellte er die Frage nach dem Wesen der Kunst radikal neu: Nicht mehr das Objekt selbst, sondern der Akt der Auswahl, der Kontext und die Deutung wurden entscheidend.
Ein Ready-Made war somit nicht nur blosser Gegenstand, sondern ein gedanklicher Eingriff – ein Kommentar darüber, wie Kunst selbst Bedeutung und Kontexte erzeugt. In diese Tradition stellt sich Paulo Wirz und nutzt seine vermeintlich alltäglichen Objekte als Träger für seine Auseinandersetzung mit Dingen als Speicher kultureller Bedeutung.
Vom Ready-Made zum „vocabulary of material“
Es überrascht daher wenig, dass Paulo Wirz sich für Religion, den Tod und das Rituelle interessiert – dort, wo Objekten eine ganz besondere Bedeutung zugeschrieben wird. In der Kunst ist Bedeutung nie stabil, sondern entsteht im Prozess des Deutens – durch Betrachter:innen, Kontexte, Diskurse. Kunst ist damit selbst ein System, das Bedeutung produziert, vermittelt und transformiert.
Wie im Rituellen werden auch hier Objekte mit Symbolkraft versehen. Ein gewöhnlicher Gegenstand wird im sakralen wie im künstlerischen Raum zu etwas anderem, etwas Mehrdeutigem. Diese Nähe zwischen Kunst und Ritual zeigt sich besonders dort, wo Material nicht nur verwendet, sondern gedeutet und dadurch aufgeladen wird. Kunst erschafft ihre eigene Semantik, in der Dinge nicht nur sind, sondern immer auch für etwas stehen.
So entsteht ein offenes System, in dem sich Bedeutung nicht erschöpft, sondern ständig neu entfaltet. In dieser Aufladung mit Bedeutung wird der Zauber des Objekts geboren.

Wirz’ Arbeit destabilisiert Bedeutung, statt sie zu fixieren
Paulo Wirz’ Liebe zu Objekten bleibt also nicht beim Ready-Made und der Kontextverschiebung stehen, sondern möchte Welten zusammenführen. Und hier zeigt sich sein spannungsvolles Verhältnis zur Anthropologie – ein Stichwort, das im Interview immer wieder fällt, während er über sein vertieftes Interesse für afrobrasilianische Religionen wie Candomblé erzählt oder über Riten und Mythen spricht.
Doch während die Anthropologie bemüht ist, zu analysieren, zu klassifizieren und Kontexte zu rekonstruieren, folgt Paulo Wirz einem anderen Impuls: Er destabilisiert Bedeutung, statt sie zu fixieren. In seiner Arbeit geht es nicht um das Erklären, sondern um das Öffnen – um das Sichtbarmachen der Vieldeutigkeiten, Ambivalenzen und poetischen Verschiebungen, die entstehen, wenn Objekte und ihre Kontexte plötzlich verbunden werden.
Die künstlerische Praxis von Wirz nimmt anthropologische Methoden auf – das Sammeln, Beobachten, Kontextualisieren –, überführt sie aber in einen ästhetischen Raum, der nicht dokumentiert, sondern imaginiert. Während die Anthropologie auf Erkenntnis und Systematik zielt, setzt Wirz auf Irritation und die Verschmelzung von persönlicher und kollektiver Erzählung. Seine Installationen erzählen keine linearen Geschichten, sondern erschaffen Möglichkeitsräume, in denen sich Betrachter:innen selbst verorten müssen.
Nicht verkopft, sondern auch machend
Was bisher in die Tiefen der Kunsttheorie ging, erfährt eine Wendung, wenn man versteht, dass Paulo Wirz nicht nur Theorie nutzt, sondern auch klassische Handarbeit betreibt. Die Objekte aus der Installation, die so simpel erscheinen, haben eine weitere Facette. Die 200 Kerzen hat der Künstler selbst gegossen; die Flaschen sind aus Zement – eine wiegt etwa zwei Kilogramm –, jede einzelne ist in Akkordarbeit kurz vor der Ausstellung entstanden. Insgesamt hat er dafür 600 Kilogramm Zement zu Flaschen verarbeitet, etwa 20 Stück am Tag. An einer anderen Stelle entpuppt sich der vermeintlich wertvolle Schmuckinhalt einer Schatulle als Schokoladenpapier, das zu Kügelchen gerollt wurde.
In dormitorios begegnen wir neben den Objekten auch Abgüssen von Händen – ihre Gestik ist gleichermassen lesbar als gebend, bittend, schützend oder als Symbol für Arbeit. Kunstschaffende, besonders jene, die konzeptuell arbeiten, gelten heute als kognitive Arbeiter:innen. Ihre Praxis ist durch Denken geprägt – durch Prozesse, die ausserhalb des Kunstsystems oft schwer vermittelbar sind. Doch wie entsteht Wert in diesem System?

Wie ein Kommentar auf die ökonomischen Strukturen des Kunstbetriebs
Indem er viele seiner Objekte selbst herstellt – teilweise in Akkordarbeit, mit physischen Wiederholungen –, thematisiert er auch das Verhältnis zwischen Konzept und Handwerk, zwischen Idee und körperlicher Umsetzung. Das ist zugleich ein Kommentar auf die ökonomischen Strukturen des Kunstbetriebs.
Diese Verbindung von Handarbeit, Zeitinvestition und künstlerischem Denken verweist auch auf nachhaltige Arbeitsweisen innerhalb der eigenen Kunstproduktion. „Ich interessiere mich für Nachhaltigkeit, auch innerhalb meiner eigenen Praxis“, so Wirz. „Es ist wichtig, nicht nur die hungrige Kunstmaschine füttern zu wollen und ständig Neues produzieren zu müssen, sondern kritisch zu hinterfragen, wie viel wir wirklich neu herstellen sollen.“
Viele der entstandenen Objekte gehen über in das Archiv des Künstlers, aus dem sich zukünftige Installationen speisen – ein Modell der künstlerischen Selbstversorgung, aber auch ein Kommentar auf Produktionslogiken im Kulturbetrieb.
Ein Geflecht aus Erzählungen
Wirz’ Archiv ist dabei kein Ort des Stillstands, sondern ein dynamisches Reservoir, das vergangene Arbeiten neu in Beziehung setzt. Überhaupt ist das In-Beziehung-Setzen, das Verbinden, ein wichtiges Merkmal. Einen Moment davon erahnt man auch in der Machart der Installation, denn die Objekte in dormitorios sind mit einem roten Faden miteinander verbunden.
Letztendlich ist die Ausstellung in der Kunsthalle Arbon eine vielschichtige Reflexion über die Art und Weise, wie wir Objekten begegnen – und was unsere Beziehung zu ihnen über uns selbst verrät. Die Ausstellung eröffnet ein Geflecht aus Erzählungen: zwischen rituellen Ordnungen, religiösen Symboliken und ökonomischen Mechanismen. Paulo Wirz entfaltet darin einen stillen, dichten Kosmos, in dem Kunst als Sprache der Welt erfahrbar wird.
Die Ausstellung ist bis 13. Juli in der Kunsthalle Arbon zu sehen. Mehr zum Rahmenprogramm und den Öffnungszeiten gibt es hier.


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