von Jana Mantel, 11.11.2025
Was bleibt, wenn der Mensch verschwunden ist

Künstler wird man nicht, Künstler ist man: In seiner neuen Ausstellung im Kunstverein Frauenfeld spielt Velimir Ilišević mit der Fantasie seiner Besucher:innen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Der Künstler Velimir Ilišević (60) beschäftigt sich mit dem Thema Zeit, aber eigentlich scheint er mit dem Begriff Zeit wohl auch direkt das ganze Leben zu meinen. Oder besser gesagt das, was der Mensch aus dem beziehungsweise aus seinem Leben macht. Gesprächsansätze mit dem im ehemaligen Jugoslawien geborenen Künstler hat es jedenfalls mehr als genug, und beim Blick auf seine noch bis zum 7. Dezember im Kunstverein Frauenfeld ausgestellten Arbeiten erst recht.
Ein wenig aus der Zeit gefallen wirken sie auf den ersten Blick, fast naiv, kindlich und dabei alles andere als eindimensional. Es ist ein Schweben zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, zwischen Farbexplosion und Zurückhaltung.
Papiere und Leinwände wechseln sich ebenso in der Ausstellung ab wie grosse und kleine Formate, und nach einem ersten raschen Blick steht schnell fest: Für diese Ausstellung sollte man sich genug Zeit nehmen oder, wenn man den sprechenden Titel der Ausstellung aufgreifen möchte, sich selbst aus der Zeit, die uns zuweilen einengt und unser Leben bestimmt, herausschälen.
Die Zeit als Thema
«Aus der Zeit geschält» – so lautet der Titel der Präsentation von Iliševićs Arbeiten im Kunstverein Frauenfeld. Ein Titel, der passt, auch in seiner Doppeldeutigkeit. «Ich habe schon immer gern gemalt und hatte von Anfang an einen eigenen Stil», plaudert er zugewandt und erwähnt eine Anekdote aus der Schulzeit, die er im ehemaligen Jugoslawien verbrachte.
Damals fragte ihn eine Lehrerin, warum er nicht auch so «wie alle anderen malen könne». Die Antwort kommt nun, viele Jahrzehnte später, mit Überzeugung in der Stimme: «Künstler wird man nicht, Künstler ist man», sagt Ilišević entwaffnend offen. Im Anschluss überspringt er seine vielen verschiedenen beruflichen Tätigkeiten, die in Summe nur eine Funktion hatten, nämlich ihn letztlich und final zur Kunst zu bringen.
Im Alter von 24 Jahren übersiedelt er in die Schweiz und besucht die Kunstgewerbeschule in Zürich. «Zusätzlich habe ich mir sehr viel praktisches und technisches Wissen über Malerei und Bildaufbau in Museen angeeignet», erzählt er, und dass ihn Van Gogh fasziniert und inspiriert habe – oder auch Cézanne. Schaut man seine Farbgebung und die Wahl der Materialien an, versteht man, was er meint.
Nie arbeite er mit Acryl, Ölfarbe ist sein bevorzugtes Material, denn sie trockne langsam und nötige ihm die Zeit ab, die es braucht. «Ich male auch immer nur ein Bild nach dem anderen», erzählt er, und schon drängt sich im Gespräch das Thema Zeit wieder in den Vordergrund. Ohne Eile und mit Bestimmtheit wisse er immer ganz genau, wann das Bild fertig ist. «Nämlich dann, wenn es meinem inneren Bild entspricht», so Velimir Ilišević.
Motive ohne Menschen, aber mit Titeln
«Ich nehme Situationen im Herzen auf, spüre ihnen nach und male diese aus dem Bauch heraus», erzählt er. Fotos zur Dokumentation mache er nie, Skizzen sehr wohl. Seine Bilder sieht er als Angebot an die Betrachtenden, diese selbst für sich zu interpretieren, nachzufühlen und sich in sie hineinzudenken. «Die Malerei ist meine Art, mich auszudrücken», so Ilišević. «Wenn mich etwas beschäftigt, dann wird es von mir bearbeitet. Es ist ein Bedürfnis, das hinaus, das gemalt werden muss.»
Auffällig ist, dass man auf seinen Bildern keine Menschen sieht. «Ich male das, was der Mensch macht. Oder besser gesagt die Situation, die bleibt, wenn der Mensch verschwunden ist. Ich spüre der Situation nach, befinde mich wie an einem Tatort», bietet er eine Gesprächsbrücke zu den Bildern an, die Stühle zeigen. «Es ist weniger der Stuhl, der mich beschäftigt, sondern eher die Situation, die Stimmung, die ich aufnehme.» Tatsächlich kann man bei den verschiedenen Stuhlmotiven, die zuweilen Hunden ähneln oder wie ein Oberkörper mit Rippen aussehen, nachfühlen, ob die Menschen, die auf diesen Stühlen in einem Garten zusammensassen, als Freund oder Feind auseinandergingen.
Eine weitere Besonderheit ist seine Liebe zu Bildtiteln, und seine Erklärung dazu überrascht nicht. «Ich schreibe auch gern Texte und Gedichte», sagt er und zeigt als Beispiel auf die Arbeit «Wie ein schöner Tag». Eine Serie von Papierarbeiten, die tatsächlich in Summe ein ganzes Gedicht ergeben.
Serien, die nicht als Serie zusammenhängen
Erkennbar ist auch sein Hang zu Serien. So finden sich in der Ausstellung mehrere Motive, wie zum Beispiel Stühle oder Baumstümpfe, die von Velimir Ilišević mehrfach und unterschiedlich bearbeitet und ganz bewusst an verschiedenen Orten in der Ausstellung gehängt wurden. «Ich möchte, dass die Menschen genau hinsehen und sich womöglich an eine Arbeit in einem vorherigen Raum erinnern. Meine Bilder sollen mit den Betrachtenden in Resonanz gehen, sie zum Nachdenken animieren», erklärt er.
Erinnern wird man sich im Nachgang sicherlich an diese besondere Ausstellung, die so viel und so intensiv mit der Fantasie der Besucher:innen spielt. So bleibt der Schlitten als Schlittschuh in Erinnerung, und zwei Haufen von Irgendetwas könnten Eierwärmer darstellen. Die Bäume bekommen Füsse, und der Stuhl schaut einen an - als Hund. Fantastisch!

Von Jana Mantel
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