von Judith Schuck, 23.11.2022
Labor der Formen und Techniken
Grosse Kugel, kleine Kugel, gegossen, gedruckt, modelliert oder geflochten. Eine Werkschau zeigt im Museum Rosenegg Marianne Jost-Schäffelers Lust am Probieren und Variieren. (Lesezeit: ca. 3 Minuten)
Es ist ein stetes Ausprobieren, was geht. Wie Formen, Material und Technik zusammenpassen. Das Werk der Künstlerin Marianne Jost-Schäffeler ist riesig und vielseitig. Kunst und Kunsthandwerk geben sich die Hand, sie selbst sieht darin keinen Unterschied. Eine Kugel ist bei ihr mal geflochten, mal ein Bronzeguss oder aus Stahl, wie in der Skulptur «In Bewegung».
Das Museum Rosenegg zeigt aktuell eine Werkschau der 1936 in Kreuzlingen geborenen Marianne Jost, in der diese aus vier gleichgrossen Stahlkugeln bestehende Skulptur zu sehen ist. Und nicht nur zu sehen, denn sie gehört zu einigen wenigen Stücken, die von den Besucher:innen angefasst werden dürfen.
«Wenn die Künstlerin zu uns ins Museum kommt, setzt sie jedes Mal die Kugeln in Bewegung», erzählt Vanessa Karrer, die im Rahmen eines Praktikums gemeinsam mit Kurator Laurent Schmidt und Museumsleiter David Bruder die Ausstellung «unverkennbar anders» konzipierte.
Erschlagen von Fülle und Vielfalt
Dazu statteten sie der unweit vom Museum lebenden und arbeitenden Künstlerin viele Besuche ab. Schier erschlagen von der Grösse des Werkes, traf das Kuratorenteam zunächst eine Vorauswahl.
Davon inventarisierten sie schliesslich rund 500 Arbeiten, von denen wiederum 170 in der Rosenegg ausgestellt sind, bis auf wenige Ausnahmen auch käuflich zu erwerben.
Über die lange Schaffenszeit blieb Jost-Schäffeler ihrem Stil unverkennbar treu. Ein Stil der doch vielfältig ist in seinem Experimentieren mit immer wiederkehrenden Formen, von der Natur zum Abstrakten führend.
Als grösste Quelle der Inspiration gibt die Malerin, Zeichnerin, Bildhauerin, Weberin und Schmuckdesignerin die Natur an. Sie verbringt viel Zeit im Wald und am See, beobachtet dort Tiere, Gräser und Bäume.
Laut Vanessa Karrer ist Marianne Jost-Schäffelers Lieblingswerk die «Regenbogenboa» aus dem Jahr 1994. Ein vierteiliger Farbdruck, der aus der Beobachtung eines Farb- und Formenspiels von Blättern im Wind und angestrahlt von der Sonne entstand.
Prägende Einflüsse von Vorbildern
Ihren Weg zur Kunst fand Jost-Schäffeler schon früh. In ihrem Elternhaus gingen unter anderen der Konstanzer Maler Hans Sauerbruch oder die in Kreuzlingen geborene Expressionistin Helen Dahm ein und aus.
«Sauerbruch hatte mich mal porträtiert. Damals fing es dann bei mir an», erzählt Jost in einem Interview. Da es in Kreuzlingen zu ihrer Zeit noch keine Kantonsschule gab, besuchte sie die in Frauenfeld.
«Sauerbruch hatte mich mal porträtiert. Damals fing es dann bei mir an.»
Marianne Jost-Schäffeler
Der Schweizer Künstler Andrea Nold unterrichtete sie in Frauenfeld und entdeckte ihre Begabung. Er fand, Jost sei prädestiniert für das Studium zur Zeichenlehrerin. Sie ging nach Genf an die École des Beaux Arts.
Ebenfalls unverkennbar an ihrem Stil, fühlte sie sich dem Bauhaus nahe. «Eine zentrale Bauhauslehre ist die Kombination von Handwerk und Kunst», erklärt Vanessa Karrer, die speziell zu diesem Thema eine Führung durch die Ausstellung anbot.
Die Lust am Erfühlen der Materialien
Früh schon versuchte sich Jost-Schäffeler an der Webtechnik, fasziniert von den Naturmaterialien Wolle und Seide. Das Haptische, das Fühlen der Stoffe, mit denen sie arbeitete, erachtet sie als wichtig im kreativen Prozess.
An den Beispielen «Ravenna 1 und 2», zwei Wandteppiche, welche im Obergeschoss hängen, erklärt Jost ihr Vorgehen bei der Farbwahl: «Ausgehend von meiner Lieblingsfarbe Blau setzte ich dem Orange als Konstrast gegenüber.» Um diesen Komplementärkontrast auszubalancieren, webte sie graue und schwarze Felder mit ein.
Im geometrischen Formspiel mit Halbkreisen ist der Bauhauseinfluss offensichtlich; die Farbgebung richtet sich nach der Farbenlehre von Johannes Itten, Schweizer Maler und Kunsttheoretiker sowie Bauhausmeister.
Zur Webkunst kam Marianne Jost-Schäffeler im Übrigen über eine schweizer Künstlerin: Gunta Stölzl, Weberin und Textildesignerin. Sie war ebenfalls Meisterin am Bauhaus, die einzig weibliche, und prägendes Vorbild für die Kreuzlingerin. Aber auch Nold, ihr Lehrer an der Kantosschule, gestaltete Wandteppiche.
Klingende Kunststücke
Neben Natur, Formspiel und Bewegung gehört der Klang zu Marianne Jost-Schäffelers Werk. Zum einen spielt sie seit ihrer Kindheit Klavier. Ihr Lehrer Andrea Nold, der Klang mit Kunst verband, könnte hier ausserdem motivierend gewesen sein.
Sie selbst sieht die Musik als wichtige Inspiration und Ergänzung zur Kunst. Zur Klangskulptur, von denen einige ausgestellt sind, kam sie durch Zufall, als sie im Atelier an ihre Bronzen stiess und den Ton als wohlklingend empfand.
Aus diesem Erlebnis heraus begann sie, Klangschalen zu giessen. Mit den Klangsteinen des Thurgauer Künstlers Arthur Schneiter hätten ihre Klangskulpturen allerdings nichts gemein.
Schmuck zum Anschauen
Wohl eher dem Kunsthandwerk kann ihr Schmuck zugeordnet werden, doch «teilweise sind ihre Schmuckstücke nicht tragbar», sagt Vanesse Karrer. «Sie macht hier ihr eigenes Ding.»
Manch massive Fingerringe und Broschen scheinen wirklich in der Vitrine besser aufgehoben, als an Hand und Bluse. Der Halbkreis und andere Lieblingsformen tauchen aber auch hier zuverlässig auf.
In einem letzten Raum versuchten die Ausstellungsmacher:innen, die Atelieratmosphäre nachzuempfinden: Relikte aus der Natur wie getrocknete Blätter oder Johannisbrotschoten, Styropor- und Pappmodelle, Zeichenbücher, Farben – immer ausgehend von der Bleistiftzeichung arbeitet sich Marianne Jost-Schäffeler heran an die Vielfalt ihrer Ausdrucksmöglichkeiten.
«unverkennbar anders»
Die Ausstellung ist verlängert bis zum 22. Januar 2023. Am Freitag, 2. Dezember 2022, führt Vanessa Karrer um 15 Uhr zum Thema «Farbe – Linie» durch die Ausstellung.
Finissage ist am Sonntag, 22. Januar 2023, 15 Uhr mit Führung und Umtrunk. Private Führungen können auch ausserhalb der Öffnungszeiten nach Absprache organisiert werden.
Museum Rosenegg, Bärenstrasse 6, Kreuzlingen. Mittwoch 17 bis 19 Uhr, Freitag und Sonntag 14 bis 17 Uhr.
Von Judith Schuck
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