von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 06.12.2018
Gegen das Vergessen
Rund 3300 Menschen im Thurgau sind an Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz erkrankt. Kunstwerke sollen nun dabei helfen, ihre Fähigkeiten wachzuhalten. Besuch bei einem aussergewöhnlichen Projekt im Kunstmuseum Thurgau.
Gertrud hat sich schick gemacht für diesen Tag: Kurzärmelige, blütenweisse Bluse, darüber ein trachtenähnliches Kleid, oben dunkelblau mit weissen Punkten, unten mit roten und hellblauen Längsstreifen. Ihre weissen Haare strahlen, ihre Augen wandern aufmerksam durch den Raum. Das heute ist kein gewöhnlicher Tag für Gertrud. Sie ist zu Besuch im Kunstmuseum Thurgau und wird gleich auf weitere Menschen mit ähnlich weissem Haar und ähnlich grosser Lebenserfahrung treffen. „Ich bin ein neugieriger Mensch“, sagt Gertrud, wenn man sie fragt, warum sie eigentlich hier ist. Aber das ist nur ein Grund. Ein anderer ist ihr Arzt. Der fand, ein Besuch hier würde ihr gut tun. Gertrud hat Demenz. Wie rund 3300 andere Menschen im Thurgau. Bei Gertrud ist die Krankheit in einem frühen Stadium. Sie lebt noch Zuhause, es gehe ihr noch gut, sagt sie. Aber das ist ja kein Grund, sich nicht mit der Krankheit auseinanderzusetzen.
Deshalb ist Gertrud, die in Wirklichkeit anders heisst, in diesem Text aber anonym bleiben möchte, Teil eines im Thurgau noch jungen Projektes. Es heisst „Aufgeweckte Kunstgeschichten“ und will das Leben für Alzheimer- oder Demenzpatienten und ihre Angehörigen angenehmer machen. Das gemeinsame Betrachten von Kunst und darüber reden in einem öffentlichen Ort wie einem Museum soll die kreativen Fähigkeiten der Menschen schärfen. Rita Hegland-Scherwey und Daniela Siebrecht leiten diese Gruppe im Auftrag der Vereinigung Alzheimer Thurgau: „Die Phantasie wird angeregt, es findet ein Austausch mit den anderen Teilnehmern statt. Unser Ziel ist es auch, die Menschen aus ihrer Isolation zu holen und Abwechslung in ihren Alltag zu bringen“, erklärt Hegland-Scherwey. An mehreren Nachmittagen trifft sich die Gruppe im Kunstmuseum und entwickelt aus dem Gespräch über ein Bild eine eigene Geschichte.
Es geht nur um das eine Bild - nicht um das ganze Meta-Drumherum
So wie an jenem Donnerstag im Oktober an dem auch Gertrud und sechs andere Demenzpatienten wieder dabei sind. Teilweise werden sie von ihren Angehörigen begleitet. Dieses Mal geht es um ein Bild von Helen Dahm. Mehr erfahren die Teilnehmer nicht (mehr Infos zum Bild gibt es am Ende des Textes). Nichts über das Entstehungsjahr, nichts über biografische Hintergründe und kein Wort über mögliche Interpretationen. Selbst der Titel des Bildes ist vorsorglich überklebt: Nichts soll die persönliche Wahrnehmung beeinflussen.
Im Halbkreis sitzen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer um das Bild. „In jedem Bild schlummert eine Geschichte, zusammen können wir sie herausholen“, eröffnet Rita Hegland-Scherwey den Kunst-Nachmittag. „Was denkt ihr? Was passiert hier in dem Bild?“ Kurzes Schweigen, konzentrierte Blicke auf das Werk der Thurgauer Künstlerin. Dann purzeln die ersten Gedanken dazu heraus: Gletscherschlund. Das ist das Ende der Welt. Ein Teil von einem Boot ist zu sehen. Ein Stück Eis, das abgebrochen ist. Die abgebildeten Menschen reden nicht miteinander, jeder bleibt für sich. Einer vorne ist ganz alleine, das ist ein angstvoller Mensch.
Eine Teilnehmerin faltet die Hände wie zum Beten zusammen
Und so geht es immer weiter. Stück für Stück arbeiten sich Gertrud und die anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen tiefer in das Bild hinein. Die Angehörigen sitzen in der zweiten Reihe und staunen über das, was sie dort hören. Noch so ein Effekt des Projektes: Es soll die immer noch vorhandenen Fähigkeiten und Ressourcen der von der Krankheit betroffenen Menschen deutlich machen und gerade nicht die Defizite betonen. Das hilft Betroffenen und den Angehörigen: Man erkennt einander wieder besser. Das gegenseitige Verständnis, das im Alltag der Krankheit oft leidet, soll so gestärkt werden.
Mit gezielten Fragen versucht Moderatorin Rita Hegland-Scherwey, den Gedankenstrom im Fluss zu halten. Ihre Kollegin Daniela Siebrecht schreibt derweil alles mit. Am Ende soll aus all dem eine schlüssige Geschichte entstehen. Was denken die abgebildeten Menschen? Wie fühlen sie sich? Was könnte der Lichtstrahl bedeuten? Eine Teilnehmerin faltet die Hände wie zum Beten zusammen und und legt sie ganz nah an die Brust. Die Konzentration im Raum ist in diesen Momenten fast zu greifen, die Gedankenmaschine rattert und rattert. Manchmal wirkt es fast so als durchlebten die Teilnehmer in dem Moment tatsächlich das, was sie in dem Bild sehen. Köpfe werden geschüttelt, Hände gestikulieren, Blicke wandern. Die Ideen sprudeln, die Geschichte wächst: Die abgebildeten Menschen könnten auch Suchende sein, sagt eine. Die stecken fest und kommen da nicht mehr weg, eine andere. Und: Das ganze Bild strahlt eine eisige Kälte aus.
Die Museen waren am Anfang nicht gerade begeistert
Es ist bemerkenswert, was die Teilnehmer alles aus dem Bild holen und welche Geschichten sie daraus spinnen. Sie entwickeln Fluchtszenarien für die Besatzung (alle Tücher der Kleider zusammenbinden und dann vom Boot abseilen, zum Beispiel), fühlen mit, denken sich rein in diese Dahmsche Bilderwelt und verknüpfen sie mit ihren eigenen Gedanken („So lange der Mensch hofft, passiert etwas, wenn man nicht mehr hofft, passiert nichts mehr. Dann ist fertig.“) Für alle, die sich professionell mit Kunst beschäftigen ist das eigentlich eine Lehrstunde. Weil ihnen hier gezeigt wird, worauf es bei Kunst eigentlich ankommt - das einzelne Bild, nicht das ganze grosse Meta-Getöse drumherum. Ein Nebeneffekt, den die Gerontopsychologin Karin Wilkening bei der Entwicklung des Projektes eher nicht im Sinn hatte.
Ihr Kerngedanke war: Menschen mit Demenz mit Hilfe von Bildern zum kreativen Geschichtenerfinden anregen und so ihre Hirnaktivitäten fördern. Die Idee übernahm sie aus einem Modell ihrer amerikanischen Kollegin Anne Bastings. Wo diese allerdings noch mit Fotografien arbeitete, setzte Wilkening auf die Kraft der Kunst. Erst an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften Wolfenbüttel, später am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich entwickelte sie die Idee ständig fort. Dazu brauchte es auch einige Überzeugungskraft, denn die Museen seien am Anfang eher skeptisch gewesen. „Da mussten wir Geduld haben. Aber inzwischen haben viele Museen den Wert dieser Veranstaltungen für sich begriffen“, sagt Karin Wilkening. Insgesamt brachte sie es zwischen 2012 und 2015 so auf 49 Veranstaltungen in verschiedenen Schweizer Museen. Allesamt wurden sie wissenschaftlich begleitet. Für signifikante, also allgemein gültige, Ergebnisse habe das Projekt zu wenig Teilnehmer gehabt, aber in der Tendenz seien die Resultate doch eindeutig gewesen: „Die Stimmung der Teilnehmer hellte sich auf, ihre Konzentrationsfähigkeit stieg und ihre kommunikativen Leistungen hatten sich am Ende immer verbessert“, fasst Wilkening ihre Forschung im Gespräch mit thurgaukultur.ch zusammen.
Ein Ziel: Das Bild über die Krankheit verändern
Ein erstaunliches Ergebnis gab es zudem auf einer anderen Ebene: „Sowohl bei den beteiligten freiwilligen Helfern als auch bei den Angehörigen konnten wir feststellen, dass die Angst vor Demenz durch das Projekt signifikant abgenommen hat.“ Für die Wissenschaftlerin ein gutes Zeichen: „Es ist toll, wenn es so gelingt, den Blick auf eine Krankheit zu verändern. Weg von der Defizitbetrachtung, hin zu dem, was die Menschen mit Demenz noch können.“
Das ist eine Erkenntnis, die sich auch mit den Erfahrungen von Rita Hegland-Scherwey und Daniela Siebrecht im Thurgau deckt: „Die Stimmung nach den Kunst-Nachmittagen ist jedenfalls immer sehr gelöst und fröhlich“, sagt Siebrecht Man merke, dass es den Teilnehmern gut tue, mal rauszukommen, andere Menschen zu treffen und sich mit ganz anderen Themen zu beschäftigen. Das bestätigt auch Gertrud: „Der Austausch mit den anderen, das finde ich am spannendsten an dem Projekt. Zu erfahren, was sie in dem Bild sehen, bereichert mich.“ Offen ist das Projekt im Prinzip für jeden (Kontakt am Ende des Textes), der von Alzheimer oder einer anderen Demenzerkrankung betroffen ist. Einziges weiteres Kriterium ist: „Man muss sich noch äussern können, sonst ergibt es eher wenig Sinn“, sagen die Initiatorinnen.
In 20 Jahren werden fast 7000 Demenzkranke im Thurgau leben
Rita Hegland-Scherwey und Daniela Siebrecht wollen das Projekt im Thurgau langfristig fortführen. Nicht nur am Kunstmuseum, sondern vielleicht auch an weiteren Thurgauer Museen. „Wir sind noch in den Anfängen, allmählich spricht es sich herum“, sagt Hegland-Scherwey. Noch werden sie nicht überrannt von Teilnehmern, aber sie hoffen darauf, dass die Barrieren für ein solches Projekt bei den Betroffenen allmählich sinken. So traurig das ist, aber wenn man auf zwei aktuelle Zahlen aus einer Broschüre der Vereinigung Alzheimer Thurgau blickt, dann stehen die Chancen dafür nicht schlecht: Demnach leben im Kanton Thurgau derzeit rund 3300 Menschen, die an Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz erkrankt sind. Dabei wird es nicht bleiben. Weil der Anteil der Hochbetagten zunehme, werde sich diese Zahl bis in 20 Jahren etwa verdoppeln, schreibt Alzheimer Thurgau. Gut, wenn es da Projekte gibt, die das Leben der Betroffenen etwas leichter machen können.
Kontakt: Wer an dem Projekt „Aufgeweckte Kunstgeschichten“ selbst mal teilnehmen möchte, kann sich per Mail (info.tg@alz.ch) oder Telefon (052 721 32 54) anmelden. Weitere Infos gibt es in diesem PDF-Dokument Infoblatt Kunstgeschichten Herbst 2018.pdf
Das Bild: Helen Dahm „Menschen am Meer“
„Menschen am Meer“ heisst das Kunstwerk, mit dem sich die Gruppe bei den «Aufgeweckten Kunstgeschichten» befasst hat. Helen Dahm hat es 1955 gemalt. Im Werkverzeichnis vom Helen-Dahm-Museum in Oetwil am See wird vermutet, die Landschaft zeige die Region bei Amden.
Stefanie Hoch, Kuratorin der aktuellen Helen-Dahm-Retrospektive, geht davon aus, dass Dahm es während ihrer Indien-Reise 1938/39 skizziert hat, es aber erst Jahre später wirklich malte. Hoch sieht in dem Bild auch Dahms „beständige Suche nach Horizonterweiterung, ihr lebenslanges Unterwegssein“ abgebildet. Es zeige eine Art Aufbruch in neue, unbekannte Welten, erklärte die Kuratorin auf Nachfrage von thurgaukultur.ch.
Diese Geschichte entstand zu dem Helen-Dahm-Bild
Titel: Hoffnungslos? Hoffnungsvoll? Hoffnung?
Gletscherschwund - Das Ende der Welt,- s`geografische Ende der Welt - I schmöcke Nord- oder Südpol
Es isch eidütig: Do isch en Teil, döt isch en Teil und dört eine. D`Farbe sind ganz andersch. En Teil chönnt en Teil vomene Boot si, e rieses grosses Boot, es Schiff. Und rechts häts drü chlini Schiffli. Links isch de bru Schtei, wo öppis usewachst, jetzt wachts nüme, es isch verdörrt.
Une im Bild isch alles dunkel und obe chunnt öpis hells. Es isch ganz wiss mit verschiedene Schtrukture. Obe sinds fini Farbe und une isch es feschtgfahre.
Und s`Wasser; alles isch us Is. Döt hät`s en Gegestand, es chönnt es Inseli si. Da wenige Blau, wo do grad z`mittzt im Bild inne isch, hät öppis Beschtimmts z`säge. S`Stuck, wo abbroche isch, es hät e Verbindig zum Brune.
Im Boot häts no Mensche dinne, es sind scho eher Turischte, es sind grossi Persone. Im Vordergrund drü Fraue und im Hindergrund en Ma. De Ma hät ä bruni Wollmütze und en Bart. Une im Egge bi de Mensche hät`s e Wärmi. Die goht nöd usenand, sondern si bliebt zäme. Das sind die, wo vorher do gsi sind und die andere chömed dezue.Vier plus vier- vier Grossi und vier Chlini. Vielliecht de under und de ober Stock. Ei Figur isch im obere Stock, die vorne ghöred zäme. Une isch eine ganz allei. Worschindli will er ällei si, wil er Angscht hät, dass er nüme devo chunnt.
Do hät i au Schiss. Au Angscht, me chunnt nöd witer.
Die Persone tüend meditiere,- jede für sich. Viellicht bettets, dass si devo chömmed. Da Schiff chönt au sinke, das Ende, - und denn goht mer id Böötli. Drum de angschtvolli Mensch, wil er uf die Rettigsböötli lueget. Er denkt a d`Rettig….
All die Tücher, die si ahend, könnted si zämebinde, - si wäred zwor blut, chönnted aber abe. - Da goht nöd, wil si würded verfrüre.
Aber die chömmed niemols witer, da Schiff isch in Felse inegfahre, verkeilt. Es git kei Zit, es spielt kei Rolle ob es viertel vor oder zäh vor zwei isch. S`Wetter isch nöd relevant; es regnet nöd,ok? Es chönnt Herbscht si. Es goht nöd drum, öb es chalt oder warm isch, wenn mer Angscht hät…
De Ischlotz isch eifach nöd z`bewege.Me ghört isigi Stilli. Wenn en Ischlotz abbricht, denn gits scho Lärm.
Da Brune, wa nöd im Wasser isch, wär e Möglichkeit, wo sie sich chönnet hebe.
Wenn i do uf em Bild wär und i mi neime würdi hebe, denn wärs am Holz. I wör mit em Holz nöd absinke, nöd vertrinke. Aber eigentli, wenn i vo dem Is weg wör wölle, dänn wör i uf de Baum chlettere und obeabe rutsche.
De Baum isch dürr und dunkel, en Baum, wo gar nüme läbt, viellicht cha me sich do abseile. Links gohts dure, wenn me sich will abseile.
D`Mensche lueged links. S`Liecht chunnt vo rechts. Sie lueged definitiv i die falsch Richtig.
Neugierig g`sehnds nöd us. Wieso luegets uf die falsch Site?
Isigi Chälti, mi schuderets grad. I dere Chälti isch es hoffnigslos.
Do am Schiff häts e ganz helli Kante, - en Liechtschimmer. Die, wo de Liechtschimmer g`sehnd, händ Hoffnig, dass si gretted werdet. Hoffnig isch die letschti Stärki vom Mensch. Solang mer hofft, passiert no öppis. Ohni Hoffnig isch es fertig. De Durchgang chönnt d`Hoffnig si.
I bi froh, bin i kein Passagier.
Es isch wichtig, wo die Lüt hilueged, sie gsehnd irgendöppis, mer chönd da nöd beurteile. Viellicht chunnt grad es Schiff daher, wo`s alueged, vo rechts. Drum luegeds döt ane und gsehnd, dass es Rettig git. Es chönt scho no si, dass vo obe abe öppis chunnt, wege de Liechtschtrahle. Es chönnt es Himmelsliecht vo obe abe cho.
Die einte lueged links, die andere rechts. Die rechts gsehnd öppis cho.
Die einte lueged zrugg…. und die andere vorwärts….. en Teil lueged fürschi und en Teil hinderschi….
Zusammengefasst von Daniela Siebrecht. Die Ideen und Gedanken stammen von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Projektes «Aufgeweckte Kunstgeschichten» vom 18. Oktober 2018 im Kunstmuseum Thurgau.
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