von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 21.03.2025
Das Ohrenkino sucht ein neues Zuhause

Mehr als 20 Jahre arbeitete der Klangkünstler Stefan Philippi in Arbon. Aufgerieben von Zerwürfnissen mit der Stadt und ihren Bewohner:innen will er nun an einem anderen Ort neu anfangen. Ideen hat er immer noch genug. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Eigentlich würde man den Klangkünstler und grossen Töneherauskitzler jetzt gerne fragen, wie denn so ein Abschied klingt. Eher traurig-wehmütig? Oder vielleicht doch hoffnungsfroh-entschlossen? Wenn es in den vergangenen Jahren im Thurgau jemand verstanden hat, den Zeitgeist oder Gefühlslagen in Klang zu verwandeln, dann war es Stefan Philippi. Er begründete die Arbonale, beteiligte sich an zahlreichen Ausstellungen, hat das Ohrenkino erfunden und immer wieder Kinder und Jugendliche für die Magie des Sounds begeistert. Und das in einer Welt, in der es ständig um uns herum surrt, fiept oder klingelt.
Aber an einem Mittwoch im Februar hat Stefan Philippi keine Lust auf solche Gedankenspiele. Die Temperaturen sind eisig draussen, aber immerhin lässt sich die Sonne mal wieder am Himmel blicken. Erwärmen kann sie Philippis Herz für den Moment trotzdem nicht. Die letzten Wochen und Monate waren anstrengend für ihn. Jahrelange Disharmonien eskalierten zu einem grossen Zerwürfnis als die Flut kam im Mai 2024. Nach tagelangen Regenfällen drang Wasser von unten in sein Ohrenkino. Der Raum wurde unbenutzbar. Ein Sanierungsfall. Über die Schuldfrage daran zerbrach letztlich endgültig das Verhältnis zu seinem Vermieter.

Schweigend aufgeben? Nicht so sein Ding
Wie hatte das Stefan Böker in seinem Text für thurgaukultur.ch im vergangenen Juli noch so schön formuliert? „Männer, die sich duzten und – das ist belegt – zusammengearbeitet, zusammengesessen haben, siezen sich wieder. Werfen sich gegenseitig Beschimpfungen an den Kopf oder ignorieren Mails, verweigern den Kontakt.“ Damit war exakt die Lage beschrieben, in der Stefan Philippi um sein künstlerisches Überleben, ja, etwas pathetisch gesprochen, um sein Vermächtnis an die Welt kämpfte. Aber das ist es letztlich ja. Mit dem Ohrenkino hat der Klangkünstler etwas Aussergewöhnliches geschaffen. Dies einfach achselzuckend aufzugeben gelingt nur Menschen ohne Herz.
Also versuchte er zu kämpfen. Vielleicht nicht immer mit den richtigen Mitteln. Erstaunlicherweise auch nicht immer in der richtigen Tonlage. Dabei sollte man ja meinen, dass er sich genau damit auskennt, dass der Ton eben auch die Musik macht. Dafür fehlte ihm damals das Gespür. Jetzt, Monate nach der Eskalation, fragt er sich schon auch, ob er manchmal nicht überzogen habe.
Mancher Konflikt wäre vielleicht vermeidbar gewesen. In der Grundhaltung bleibt er aber ganz bei sich, der Vermieter, die ZIK Immo AG, habe ihn loswerden wollen. Der Wasserschaden sei da gelegen gekommen. Konradin Fischer, Verwaltungsrat der Firma, hatte das im vergangenen Jahr gegenüber thurgaukultur.ch vehement bestritten.

Die Wut über das Vergangene weicht der Lust auf einen Neuanfang
Für Stefan Philippi spielt es jetzt auch keine Rolle mehr. Irgendwas zwischen resigniert und beleidigt, fasst er die aktuelle Lage so für sich zusammen: „Ich passe hier nicht mehr hin. Hier geht es nur noch um Kohle.“
Künstlerisch kapitulieren will er deswegen aber trotzdem nicht. „Ich habe das Ohrenkino zwar hier entwickelt, aber es muss nicht hier bleiben“, deutet er einen Neuanfang an anderer Stelle an. Von seinem Format ist er ohnehin nach wie vor überzeugt: „Es kann die Leute packen jenseits von Ideologien und Philosophien. Im Ohrenkino kann man unmittelbar Sinneserlebnisse machen“, sagt der Klangkünstler.
Video: So klingt das Ohrenkino (Regie und Schnitt: Modo | Kamera: Daniel Ammann)
Zwischen Spukschloss und Tempelanlage
Wer es einmal erlebt hat, der wird das nur bestätigen können. In einem Moment klingt es nach Spukschloss, in einem anderen nach Tempelanlage. Es schwingt, es raschelt, es kratzt, es heult, es rasselt. So sehr, dass sich am Ende beinahe der gesamte Raum in Klang auflöst. Es gibt nicht viele Kunsterlebnisse, die so etwas auslösen.
Um das zu erhalten, sucht Stefan Philippi jetzt eine neue Heimat für sein Klangprojekt. Idealerweise ein Areal, in dem er Werkstatt, Aufführungsort und Wohnort zusammenführen kann. Rund 300 Quadratmeter brauche er dafür, meint er. In den alten Räumen hatte sich schon vor dem Wasserschaden alles zu klein und eng angefühlt.
„Meine Kunst braucht ein bisschen Platz, um wirken zu können“, erklärt Philippi sein Raumbedürfnis. Wo dieser neue Ort sein könnte, da gibt er sich ziemlich flexibel. Er würde gerne im Thurgau bleiben, er fühlt sich wohl. Vor allem am Bodensee. Daran hätten auch die Fluten nichts geändert. Sein Plan nun: Sich umhören, mit Leuten reden, für sein Projekt werben. Es werde sich schon was ergeben, sagt er gelassen.

Was Philippi macht ist im Grunde Volksmusik
Künftige Vermieter:innen können sich ein Bild von Philippis Werk machen, wenn sie die Medienberichterstattung zu seinen Arbeiten verfolgen. Im Prinzip ist das, was er macht anschlussfähig für sehr viele Menschen. Im Grunde sei das, was er künstlerisch betreibe Volksmusik. So beschreibt es Philippi jedenfalls selbst auf seiner Internetseite:
«Der Klang, der im Ohrenkino dargestellt wird, ist genauer ausgedrückt das Innenleben des Klangs oder der Klang im Klang, der Strukturen der Naturtonleiter entspringt. In Anlehnung an die Volksmusiken, die diese Tonleitern verwenden, in der Schweiz zum Beispiel der Naturjodel, und der Tatsache, dass im Melodiebereich vorwiegend pentatonische Skalen Verwendung finden und im rhythmischen Strukturen aus den Volksmusiken dieser Welt, ist die Musik des Ohrenkinos Volksmusik. Genauer gesagt Imaginäre Volksmusik, weil die Objekte im Ohrenkino keinen Anspruch erheben, ein Instrument zu sein.»
Video: Das Ohrenkino bietet auch was fürs Auge (Regie und Schnitt: Modo | Kamera: Daniel Ammann)
Was ihn zum Materialforscher macht
Von Haus aus ist Stefan Philippi übrigens Schreiner. Das mit der Kunst kam dann irgendwann dazu. Beides ging in seinem Leben schliesslich Hand in Hand: „Ohne handwerkliches Know-how wäre all das, was ich künstlerisch gemacht habe, nicht möglich gewesen“, sagt er. Im Klang findet er ganze Welten, schon seit Jahrzehnten ist er in diesem Sinne auch Materialforscher.
„Mich interessiert, wie unterschiedliche Dinge klingen. Und das probiere ich dann aus“, beschreibt Philippi bescheiden, was er tut. Holz, Stein, Metall, Plastik, es gibt im Grunde kein Material, das er nicht schon auf Klangfähigkeit untersucht hätte. Diese Forschung ist für ihn zur Lebensaufgabe geworden, er hat sich auch einen philosophischen Überbau dazu erschlossen, der bis zu Pythagoras reicht.

Die Leute müssen sich wieder mehr spüren, findet der Künstler
Die Arbeit der vergangenen Jahren will er nun auf ein neues Level heben. „Mir schwebt ein interaktiver Space vor, der konzertant bespielt wird“, sagt Stefan Philippi. Eine erste Idee dazu ist eine Kooperation mit Christoph Luchsingers Konzertreihe Noeise. Die ersten Gespräche seien gut gelaufen, „ich glaube, das kann toll werden“, sagt er. Mögliche Aufführungen vielleicht im Herbst 2025.
Und sonst? Sensitive Klangerlebnisse will er schaffen. In einer zunehmend durchdigitalisierten Welt sei es wichtig, Orte zu erhalten, die unmittelbare Sinneserfahrungen ermöglichen, in denen Menschen sich wieder spüren, findet Philippi. Zum Beispiel in einem Xylophon, in das man sich reinlegen kann um die Schwingungen am ganzen Körper zu fühlen. Das Erlebnis der unmittelbaren Wirkung von Klang auf den Körper, das will er möglichst vielen Menschen ermöglichen.
Auf Ende April hat er seinen Mietvertrag in Arbon gekündigt. Er ist jetzt nicht mehr nur ein Suchender in der Welt der Töne, sondern auch im alltäglichen Leben. „Wenn Städte und Gemeinden Interesse an der Ansiedlung des Ohrenkinos bei sich haben, können sie sich gerne melden. Ich bin offen für Vieles“, sagt der Klangkünstler.


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