von Judith Schuck, 10.01.2022
Ein Denkmal für die Grosi
Mit dem Dokumentarfilm «Erna» zeichnen die beiden jungen Filmemacherinnen Livia Burkhard und Kim da Motta ein sensibles und originelles Porträt über eine 90-jährige Feministin. Damit gewannen sie beim Ostschweizer Kurzfilmwettbewerb den ersten Platz in der Kategorie Jungfilmer:innen. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Dass sie sich selbst als Feministin bezeichnet hätte, ist wohl eher unwahrscheinlich. Doch genau das war Erna Burkhard aus dem thurgauischen Hattenhausen ihr Leben lang. Eine Überlegung, woher die heute 90-Jährige ihre kernige Konstitution erhielt, stellt der Dokumentarfilm «Erna» gleich zu Beginn auf: «Ist daran der Knoblauch schuld?»
Die Protagonistin schneidet einige der rohen Zehen auf einem Holzbrettchen in mundgerechte Stücke und verzehrt sie nebenbei. Ja, es kann schon sein, dass die unkonventionelle Dame im kleinen Dorf auf dem Thurgauer Seerücken auch mal aneckte.
Als Frauen am Steuer noch eine Rarität waren
Livia Burkhard, ihre Enkeltochter und Filmemacherin, glaubt aber, dass sich ihre Grosi wenig drum scherte, was andere über sie dachten. Ihr Dialekt verrät ihre Konstanzer Herkunft. Erst die Ehe verschlug sie in den ländlichen Thurgau.
Das Haus, in dem sie wohnte, sei völlig verfallen gewesen. «Das habe ich selbst verputzt», erzählt die Grossmutter nicht ohne Stolz im Porträt. Kim da Motta, die den Film gemeinsam mit Livia Burkhard drehte, beeindruckte die Tatsache, dass Erna als eine der ersten Frauen in der Region das Autofahren lernte und als Busfahrerin arbeitete.
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Erster Platz beim Ostschweizer Filmfestival
Das sensible, knapp 6-minütige Filmporträt über Erna Burkhard holte im vergangenen Dezember beim Ostschweizer Kurzfilmwettbewerb den ersten Platz in der Kategorie Jungfilmer:innen. Ursprünglich hatten Kim und Livia gar nicht vor, mit dem Film an einem Wettbewerb teilzunehmen. Als er aber an der Uni grossen Anklang fand, bewarben sie sich.
Kim: «Beim Ostschweizer Filmfestival gefiel uns vor allem die Aussicht, mal wieder mit anderen Kreativschaffenden zusammenzukommen, was ja momentan schwierig ist.» Mit einer Auszeichnung hätten sie aber nicht gerechnet. Das Preisgeld wollen sie in eine neues Dokumentarfilmprojekt investieren, das für den Sommer 2022 geplant ist.
Der Film „Erna“ entstand in einem zweiwöchigen Workshop beim Visual-Storyteller Uwe H. Martin. «Das war im Oktober 2020. Wir mussten innerhalb von zwei Tagen wissen, was wir machen wollen». Die Vorgabe war ein Porträt, sagt Livia Burkhard.
Ein ebenso charmantes wie präzises Porträt
Und das wurde es dann auch - das Porträt einer Rastlosen. Erna Burkhard war immer in Bewegung, bald über die Region und Landesgrenzen hinaus. Als ihr Sohn Roland unter einer schweren Bronchitis litt, meinte der Arzt «wir sollen mal mit ihm ans Meer. Und dann hat mein Mann gesagt ‹mache ich nicht›. Da bin ich nach Kreuzlingen gefahren und habe ein grosses Zelt gekauft.» Die erste Reise führte sie ins Tessin, von da aus weiter in die Welt. Immer wieder packte sie ihre sieben Sachen und sechs Kinder ein, um neue Länder zu erkunden.
Es sind die kleinen Details, die das Porträt so charmant und präzise machen: Wie das Feuer im Ofen tönen muss, wenn es richtig brennt. Das Gaffa-Tape an der Stossstange ihres Autos verrät ihre DIY-Persönlichkeit und gleichzeitig, wie egal ihr Statussymbole sind.
Trotz Unterschieden im Stil ähnliche Ansätze
Regisseurin Livia, 22, stammt aus Lipperswil im Thurgau. Sie beschäftigte sich schon in der Kindheit mit Fotografie und experimentierte später mit Videos. Ihre Leidenschaft sei aus dem Spielerischen entstanden. «Bei mir war es ähnlich», sagt Kim, 21, die sich allerdings erst als Teenie mit dem Medium auseinandersetzte.
Ausschlaggebend für sie waren die sozialen Medien. «Ich wollte ausprobieren, was dort möglich ist.» Kim da Motta stammt aus dem Luzerner Hinterland. Die beiden lernten sich in Luzern kennen, wo sie Camera Arts studieren. Sie merkten schnell, dass sie ähnliche Ansichten hatten und gut zusammenarbeiten konnten.
Eine poetische Bildsprache
«Erna» ist nicht ihre erste Koproduktion. Livia arbeitet eher im Hintergrund und möchte schauen, was passiert: «Ich sehe mich in einer beobachtenden Position und lasse die Leute machen, mit dem Ziel, dass sie sich wohlfühlen.» Ihre Bildsprache hat etwas Malerisches, ja Poetisches, eine gewisse Distanz bleibt spürbar. So wie bei der Fotoserie „The Ghost of Summer“: Dort zeichnet sie trotz Abwesenheit von Menschen ein Bild von ihnen.
«Ich sehe die Fotografie und das Filmen als eine Art Ticket, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, mit denen ich sonst wohl nicht in Kontakt treten würde», beschreibt Kim ihre Herangehensweise, wie bei der Porträt-Serie Venus or Polaris über junge Skater. Sie beschäftigt sich mit Identitätsfindung und Geschlechtsidentität und wie dies in der Gesellschaft zusammenkommt.
Für beide ist «Erna» der erste Dokumentarfilm. «Weil wir uns so gut kennen, war die Zusammenarbeit leichter, als im Team», meint Kim. «Wir vertrauen uns gegenseitig, wenn es darum geht, ein Bild zu komponieren oder einen Ausschnitt zu wählen, auch wenn sich unsere Stile unterscheiden.» Und sie hatten nicht viel Zeit, «es musste alles schnell klappen», ergänzt Livia.
Bühnentauglich von Natur aus
Sie habe immer gesagt, ihre Grossmutter sei ihr grosses Vorbild. «Meine Oma war sehr eigensinnig und wollte sich nichts vorschreiben lassen», sagt Livia Burkhard. Als sie eine spannende Person für ihr Filmporträt suchten, ist die Wahl schnell auf Erna Burkhard gefallen.
Die Drehbarbeiten gestalteten sich unkompliziert, da sich die Neunzigjährige vor der Kamera richtig wohlfühlte. Hilfreich sei gewesen, dass Livia diesen persönlichen Zugang zur Porträtierten hatte, während Kim ihr zum ersten Mal begenete. «Dadurch nahmen wir zwei unterschiedliche Standpunkte ein.»
Die Festivalpremiere erlebte die Protagonistin nicht mehr
Drei Tage dauerte der Dreh, eine intensive und wertvolle Zeit. Livia: «Was mir am Dokumentarfilm so gefällt ist, dass wir nicht vorausplanen können. Wir sind einfach dabei und beobachten.»
Erna verstarb im vergangenen April. «Ich bin wirklich dankbar, dass ich durch den Film noch mal so viel Zeit mit ihr verbracht habe», sagt Livia, die ihrer Grosi damit ein schönes Denkmal geschaffen hat.
Von Judith Schuck
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