von Judith Schuck, 10.02.2023
Die Zwischenwelt der Fährleute
Macht Lust auf Wasser, Natur, Frühling und spannende Menschen: Daniela Schweglers neuer Band «Uferlos - Fährleute im Porträt» (Lesezeit: ca. 4 Minuten)
Die Baslerin Barbara Buser ist Vollblutarchitektin und lebte zehn Jahre in Afrika, wo sie unter anderem im Südsudan Brunnen für das Hilfswerk Heks baute. Mit dem Gundeldinger Feld in Basel initiierte sie vor 20 Jahren eines der ersten grossen Umnutzungsprojekte.
Die 12'700 Quadratmeter grosse Industriebrache beleben Künstler:innen, Gastronomie, Handwerker:innen, eine Kita oder eine Kinderzirkusschule. Anfang der Neunzigerjahre wurde Barbara Buser die erste Fähri-Frau in der Geschichte der Basler Fährebetriebe. «138 Jahre sind vergangen, bis mit mir endlich die erste Frau Passagiere über der Rhein transportieren durfte. Und irgendwann war ich zum Glück nicht mehr die Einzige», denn Barbara motivierte ihre Schwester Christine, mit ihr ins Boot zu steigen.
Dem Traum vom Astronauten kam eine Sehstörung in die Quere, also entschied sich Tancredi Rochira dazu, Fallschirmspringer zu werden und liess sich als ABC-Waffenspezialist ausbilden. Heute forscht er zu Permakultur und plant ein Hildegard-von-Bingen-Gesundheitszentrum aufzubauen.
Eine rasante Kehrtwende im Lebenslauf, die viel über seinen von Ideen überschäumenden Charakter durchscheinen lässt. Mit seiner Frau Silvia betrieb er bis vor Kurzem die Sitterfähre Gertau, die zwischen Degenau und Gertau verkehrt.
Einer der wichtigsten Kulturschätze im Thurgau
Die Seilzugfähre ist die einzige und letzte ihrer Art im Thurgau, auf der eine Fahrt je nach Wasserstand zum Wildwasser-Abenteuer werden kann. Betrieben wird sie von der Gemeinde Hauptwil-Gottshausen und liegt auf der Route des Jakobswegs, weswegen viele Pilger sie zur Überfahrt nutzen. In Degenau erwartet sie einer der wichtigsten Kulturschätze des Kantons Thurgau: eine dem Heiligen Nikolaus und Magdalena geweihte Kappelle aus dem 12. Jahrhundert.
Zum Staunen lädt ausserdem die Geschichte von Josef Häcki ein, Braunviehzüchter am Zürichsee. Im Frühjahr und im Winter dürfen seine Rinder Ferien auf der Insel Ufenau machen, wo er sie von Pfäffikon aus via Motorfähre verschifft.
Mit einer beneidenswerten Ruhe führt der Landwirt und Fährmann seine Tiere auf die «Pfaffendschunke», denn die Insel Ufenau ist im Besitz des Klosters Einsiedeln und die Fähre wurde neben den traditionellen Viehtransport vor allem für die Beförderung der Mönche genutzt. «Einmal geriet ich in ein Unwetter, das sich gewaschen hatte. Die Wucht der Wassermassen überraschte selbst mich. Aber Angst hatte ich keine. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber», weiss Josef Häcki, der auch der Rinderflüsterer genannt wird.
«Angst hatte ich keine. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber»
Josef Häcki
Nicole Sacher übernahm als erste Fährfrau Berns 1999 die Reichenbach-Fähre. Sie verbindet Zollikofen mit der Engelhalbinsel und der Stadt Bern. Die Frau mit dem feuerroten Haar geniesst ihre Freiheit und verbindet als Fährfrau ihre Liebe zur Natur mit ihrem kreativen Schaffen. Wenn gerade keine Fahrgäste befördert werden wollen, nutzt sie die Zeit am idyllischen Aarebogen zum Stricken, Schneidern, Schustern oder Körbe flechten.
Daniela Schwegler, Juristin und Autorin aus dem Thurgau, hat gerade mit «Uferlos – Fährleute im Porträt», ihr fünftes Porträtband herausgebracht. In ihren vorherigen Arbeiten beschäftigte sie sich mit Bergfrauen und ihren Berufen, darunter Älplerinnen, Bergführerinnen oder Bergbäuerinnen.
In ihrem aktuellen Band beschreibt sie sehr bildhaft die Fährleute von zehn Schweizer Fähren, die allesamt einen bunten Strauss an Lebenserfahrung mit sich bringen und sich in ihrer originellen, freidenkerischen Art verbinden, so unterschiedliche ihre Hintergründe auch sein mögen.
Das Paradies liegt oft gar nicht fern
Wir erfahren im Buch viel über das Wasser sowie die umgebende Flora und Fauna, lernen Geheimtipps und Sehnsuchtsorte, Oasen der Ruhe und kulturelle Schätze kennen. Jedes Kapitel schliesst mit einem Ausflugstipp rund um die jeweilige Fähre, der die Unternehmungslust weckt.
Oft sind die Ziele nicht weit von der Haustüre entfernt, wie die Rheinfähre Paradies, die den Westthurgauer Ort Paradies bei Schlatt mit der deutschen Enklave Büsingen verbindet. Roland Walter fährt seit bald 50 Jahren Ausflügler mit seinem Boot über den Rhein. Als Nachkriegskind war er noch nie in den Ferien. Seine Aufgabe als Fährmann empfindet er als das grösste Geschenk.
Magisch angezogen von Schiffen
Schon als kleiner Junge übte sich der von Schiffen magisch angezogene Roland Walter in der Rolle des Kapitäns: «Aufgewachsen bin ich ein Stück flussabwärts in Feuerthalen ganz nah am Wasser. Das Paradies kenne ich seit ewig.» In Langwiesen befand sich eine Werft der Schifffahrtsgesellschaft Untersee und Rhein.
«Neben der Werft gab es eine alte Schütte, also eine Abfallgrube», erzählt der ehemalige Fotolaborant, dessen Leidenschaft für die Schifffahrt inzwischen die ganze Familie angesteckt hat. «Die Schütte diente auch als Deponie für ausgediente Weidlinge. Darum trieben wir Buben uns ständig dort rum. Wir versuchten, die alten Boote wieder fahrtüchtig zu machen.»
Übergänge von Klang- und Wasserwelten
Völlig anders zum Boot kam Mich Gerber. Er ist einer von fünf Fährleuten, die die Bodenäckerfähre in Muri bei Bern betreiben. Mich Gerber ist eigentlich Musiker aus Bern, der mit seinem Kontrabass und dem Loop-Gerät sein Publikum verzaubert. Zum Fährmann wurder er durch seine Konzertreihe «Blaue Stunde».
In der Übergangszeit vom Tag zur Nacht bespielt er archaische Orte wie Gletscherhöhlen, Wasserkraftwerke oder die Aare am Bodenacker. Bei einem seiner Konzerte erfuhr er, dass ein Posten als Fährmann frei werde. «Das Fährmann-Dasein bringt eine gewisse Konstanz in mein Leben. Aber grundsätzlich bin ich Musiker.» Schön an seiner Aufgabe als Fährmann findet er, dass er eine ganz konkrete, einfache Aufgabe hat: «die Leute hinüberzusetzen.»
«Das Fährmann-Dasein bringt eine gewisse Konstanz in mein Leben.»
Mich Gerber
Für die meisten der von Daniela Schwegler porträtierten Menschen ist das Fährefahren ein Anker, der sich aus Übergangszeiten ergeben hat. Reich wird damit niemand, für alle ist es eine Herzensangelegenheit. Fährefahren bedeutet Entschleunigung und damit Lebensqualität.
Kein Wunder, dass im Buch keine Durchschnittsbiografien vorkommen, sondern spannende Figuren mit sehr individualistischen Lebensentwürfen, die sich nicht scheuen, Altes über Bord zu werfen, um neue Elemente zu erforschen. Der Autorin gelingt es, diese sehr eigenen Charaktäre so nachzuzeichnen, dass man beim Lesen ihr Wesen erfasst.
Bildtiefe mit Licht- und Schattenspielen
Ihre Porträts werden ergänzt durch die stimmungsvollen Aufnahmen des Fotografen Ephraim Bieri. Wie dem archaischen Beruf der Fährleute, scheint seinen Bildern etwas Mystisches anzuhaften. Wasserspiegelungen, Lichtreflexe, Schattenwürfe – seine Bildkompositionen unterstreichen die Einzigartigkeit der Landschaften und Menschen, die er einfängt.
Der stattliche Bauer Josef Häcki neben massiven Betonmauern und Strohballen in die Ferne blickend; oder Sarina Scherrer, die jüngste Kapitänin auf dem Walensee, wie sie mit cooler dunkler Sonnenbrillen ihr Schiff gekonnt und routiniert vertäut. Immer auch im Spiel mit Bild-im-Bild-Kompositionen, die seine Rolle als darstellender Künstler und Beobachter unterstreicht.
Das Buch macht richtig Lust auf Wasser, Natur und Frühling, und darauf, spannende Menschen kennenzulernen, um in ihre Welten eintauchen zu dürfen.
Uferlos
Daniela Schwegler, Ephraim Bieri: «Uferlos – Fährleute im Porträt» ist 2022 in Zürich beim AS Verlag erschienen. 275 Seiten, ISBN 978-3-03913-041-2
Von Judith Schuck
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