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von Inka Grabowsky, 20.02.2025

Die Sorgen der Nachkriegskinder

Die Sorgen der Nachkriegskinder
„Redet mit euren Eltern!“ – Margit Koemeda über die Bedeutung von familiären Gesprächen | © Inka Grabowsky

Die Ermatinger Psychologin und Autorin Margit Koemeda setzt sich in «Die fehlenden Sprossen in meiner Leiter» mit ihren Eltern auseinander, die kaum über die Kriegsjahre gesprochen haben. Aber doch davon geprägt wurden. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Ein scheinbar höchst persönliches Buch hat Margit Koemeda mit «Die fehlenden Sprossen in meiner Leiter» vorgelegt. Es basiert auf Erinnerungen, die ihr Vater auf Wunsch seiner Kinder über sein Leben aufgeschrieben hat, auf einem kurzen Text, den die Mutter beigesteuert hat, sowie auf vielen Briefen zwischen Margit und ihrer Schwester. 

«Aus dem umfangreichen Material habe ich innerhalb von drei Jahren eine Auswahl getroffen, sie zusammenmontiert und mit der suchenden Erzählerin als rotem Faden verbunden», sagt sie. Koemeda entwickelt auf dem wahren Kern eine autofiktionale Geschichte. Dementsprechend heissen ihre Protagonisten auch nicht wie die realen Vorbilder. «Ich habe meine Erzählerin ihren Vater Dinge fragen lassen, die ich von meinem auch gerne gewusst hätte», so die Autorin. «Und ich habe gemutmasst, was er gesagt haben könnte.» Zu Lebzeiten habe ihr Vater kaum etwas vom Krieg erzählt. 

Zeitgeschichte im Vater-Teil

Die eine Hälfte des Buches widmet sich der Lebensgeschichte des Vaters, die andere der der Mutter. Beiden Elternteilen, die jeweils im Alter von 94 Jahren gestorben sind, will die Autorin ein Denkmal aus Sprache setzen. Idealisiert werden sie nicht. 

Der Vater zieht als 17-Jähriger in den Zweiten Weltkrieg. Aber anders als in so vielen Geschichten aus dieser Zeit werden im Text auch nicht schreckliche Aspekte des Kriegs geschildert. Der junge Leutnant geniesst einen Ritt durch die russische Steppe, bewundert die Kathedrale von Smolensk und nimmt sein Überleben einer lebensbedrohlichen Situation emotionslos zur Kenntnis. 

 

«Ich will Menschen ermutigen, den intergenerationellen Dialog zu pflegen. Jeder ist früher oder später damit konfrontiert, dass die Eltern fehlen. Deshalb sollte man sich rechtzeitig mit ihnen auseinandersetzen.»

Margit Koemeda, Autorin & Psychologin

Posthum nimmt die Erzählerin das zum Anlass für skeptische Nachfragen. «Woher hattest du das Pferd?» «Interessiert eine Tochter der Umgang ihres Vaters mit Frauen? Oder ist das unnatürlich? Ich stelle diese Fragen. Sie interessieren mich.» Die Autorin will zeigen, dass der Krieg auch dann Spuren in der Seele der Menschen hinterlässt, wenn ihnen die grössten Grausamkeiten erspart worden sind. 

«Es existiert bereits eine Menge an Literatur über den Zweiten Weltkrieg», sagt Margit Koemeda, «aber mich interessieren Randfiguren, wie sie mein Vater und meine Mutter waren.» 

Familienstrukturen im Mutterteil

Auffällig ist, dass es in der fiktionalen vierköpfigen Familie eine «Vater-Tochter» und eine Mutter-Tochter» gibt. «Tatsächlich kommt es in der Realität recht häufig vor, dass die Kinder quasi aufgeteilt werden und jeweils zu einem anderen Elternteil eine besonders enge Beziehung aufbauen», so die Psychologin, die dieses Wissen als Autorin aufgreifen konnte. 

Das hat Auswirkungen auf die Protagonistinnen: Unter den Schwestern, die sich um die verwitwete Mutter kümmern müssen, entsteht plötzlich ein Machtgefälle: Wer verwaltet die Finanzen? Wer wird Hausherrin im Eigenheim? Wer darf Ferien machen, wer bleibt daheim, um sich zu kümmern? «Als Psychologin finde ich das hoch interessant: Welche Bindungen halten über Jahrzehnte? Was geschieht, wenn sich das Gefüge verändert – zum Beispiel durch den Tod eines Elternteils. Es geht etwas zu Ende. Und das könnte der Beginn von etwas Neuem sein. Schon von Berufswegen muss ich davon überzeugt sein, dass sich aus einer Krise etwas Positives entwickeln kann.» 

 

Familiäre Spurensuche: In ihrem neuen Buch ermutigt Margit Koemeda zum intergenerationellen Dialog. Bild: Inka Grabowsky

Die Geschichte einer Loslösung

Fertig war das 280-Seiten Buch schon vergangenen August, doch in der Druckversion liegt es erst jetzt vor und wird am 26. Februar im «Wy und Kafi» in Ermatingen öffentlich präsentiert. Der kleine Kreis kommt den Bedürfnissen von Margit Koemeda entgegen. Sie betont zwar, dass sie die Autorin und nicht die Ich-Erzählerin ist, aber einige ihrer Eigenschaften hat sie der Figur doch mitgegeben. 

Aus dem schüchternen Mädchen, das im Schulunterricht keine Antwort herausbringt, wird eine Jugendliche, die davon ausgeht, dass nichts, was sie äussern könnte, irgend jemanden interessiert. Erst als erfahrene Schriftstellerin beginnt sie, die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer bei Lesungen zu geniessen. «Es ist auch die Geschichte einer Emanzipation vom Elternhaus, die ich erzähle», so die Autorin. 

Die elterlichen Werte, unter denen das Selbstbewusstsein des Kindes leidet, sind nicht untypisch für die Nachkriegsgeneration: Gehorsam, fügsam und leistungsbereit soll ein Mädchen sein. Es braucht Jahrzehnte, um sich davon zu lösen. 

Ihr Rat? «Redet mit euren Eltern!»

Die Erzählerin setzt sich mit ihren Eltern auseinander, und zwar so, dass sie hinterher aus einer gewissen Distanz auf deren Leben blicken kann. «Es fühlt sich gut an, sich über das väterliche Verbot hinwegzusetzen», heisst es, als die erwachsene Frau laut hupend im Strassenverkehr unterwegs ist. Der Vater hatte immer beschwichtigt. 

Sie hält sich vor Augen, dass auch die Mutter alles andere als ideal war. Zwar gibt diese, als die Kinder geboren werden, ihre Dissertation in Anglistik auf, doch widmet sie sich häufig lieber ihren Büchern als den Kindern. Sie hört nicht zu, sondern erzählt von sich selbst. Sie liest später die Texte der schreibenden Tochter nicht, sie spürt nicht, was in der Tochter vorgeht. Kein Wunder, dass beide Roman-Töchter nicht bereit sind, ihr eigenes Leben aufzugeben, um die Mutter in ihrem alten Zuhause zu betreuen. 

Den Tod der pflegebedürftigen Mutter mit 94 Jahren betrachtet die Erzählerin schliesslich als Befreiung: «Ich schulde keinem Menschen mehr etwas.» Gleichzeitig empfindet sie den Verlust: «Seit ihrem Tod fehlt sie mir.» 

Margit Koemeda schildert in der Fiktion, was sie in der Realität jedem Menschen rät: «Ich will Menschen ermutigen, den intergenerationellen Dialog zu pflegen. Jeder ist früher oder später damit konfrontiert, dass die Eltern fehlen. Deshalb sollte man sich rechtzeitig mit ihnen auseinandersetzen.»

 

In ihrem neuen Buch arbeitet Margit Koemeda die Geschichte ihrer Eltern literarisch auf. Bild: Inka Grabowsky

Das Buch

«Die fehlenden Sprossen in meiner Leiter. Eine familiäre Spurensuche» von Margit Koemeda ist publiziert in der Edition Isele als Book on Demand für 33,90 Franken oder 23 Euro (erhältlich im Buchhandel) oder als Kindle e-Book für acht Franken. 

 

 

 

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