von Anabel Roque Rodríguez, 22.11.2019
Die Idylle im Kopf, die Stadt im Herzen
Was unterscheidet die Kultur auf dem Land von jener in der Stadt? Ende Oktober widmete sich eine internationale Konferenz in Kreuzlingen dem Thema. Die Ergebnisse blieben am Ende überschaubar.
Manchmal ist es ganz einfach: «Wenn man als Kreativer in nicht-urbanen Regionen lebt ist es leichter zu arbeiten, weil man nur Landschaft und Himmel als Ablenkungen hat», sagte Christian Jelk, Vize-Präsident von Visarte, Architekt und Künstler. Es blieb einer der einprägsameren Sätze der internationalen Konferenz des europäischen Netzwerkes «Culture Action Europe» Ende Oktober in Kreuzlingen.
Jelk bezeichnete sich in seinen Ausführungen selbst als eine Art Wirtschaftsflüchtling, der die Abgeschiedenheit des Waadtländer Juras bewusst gewählt habe, weil es dort grossen und bezahlbaren Raum gebe. Die Anfahrt für die Visarte-Meetings, die meist in Zürich stattfinden, kosteten ihn zwar stundenlange Zugfahren, aber die bezahle er gerne: Eine Ansicht, die einige Thurgauer Akteure im Vorbericht zur Konferenz teilten.
Das Potenzial des ländlichen Raums
Der Schweizer ist seit Jahren in verschiedenen Projekten engagiert, die in flachen Organisationsstrukturen mit neuen gemeinschaftliche Wohnformen experimentieren. Denn auch das ist ein Potenzial von ländlichen Regionen: Neben bezahlbarem Raum, gibt es hier die Hoffnung auf Gemeinschaft. Weniger Menschen bedeutet, dass man vermutlich den Nachbarn in der Umgebung kennt und aus der Not durch weniger Auswahl, eben erfinderisch mehr Ressourcen teilen muss. In Zeiten, in der Grossstädter immer häufiger an Isolation und Anonymität leiden, erscheint die Perspektive eines Zusammenhalts und einer Gemeinschaft für viele als eine romantische Alternative zur Stadt.
Insgesamt drei Tage lang hat die internationale Konferenz Culture Crops: cultural practices in non-urban territories über kulturelle Visionen für den ländlichen Raum diskutiert und sich die Frage gestellt, wie Kulturarbeit in den Randgebieten aussieht. Die Konferenz lief unter dem Titel «Beyond the Obvious» und häufig hilft es den sprichwörtlichen Elefanten im Raum zu benennen: Wir verbinden Fortschritt mit Urbanität und Konservatismus mit dem Ländlichen.
Dabei hat das Leben abseits von Ballungsgebieten häufig mit völlig anderen Problemen zu kämpfen: einer mangelnden Transport-Infrastruktur, Abwanderung von jungen innovativen Köpfen, fehlenden Arbeitsplätzen und einer schlechten Internetanbindung. Während der drei Konferenztage drehten sich einige der Diskussionen genau um diese Probleme und wie man Brücken zwischen Menschen und ihren sehr unterschiedlichen Lebensrealitäten bauen kann.
Wenn Kulturpolitik auf das reale Leben trifft
Nun fragt man sich, welche Rolle Kunst und Kultur in den Herausforderungen und Diskussionen rund um ländliche Regionen einnehmen kann. Martha Monstein, Leiterin des Kulturamtes Thurgau, eröffnete die Konferenz mit Überlegungen zu Identität und Kultur und wies darauf hin, wie schwierig die Debatte um das Thema sei. Wie kann man regionale Identitäten fassbar machen? Hier schlug Monstein die Brücke zur Kultur.
Seit Jahren beschwerten sich die Museen im Thurgau über die mangelnde Zusammenarbeit und Sichtbarkeit. Dies soll nun mit einem neuen verbindenden Projekt namens Thurgauer Köpfe verändert werden. Die sechs kantonalen Museen im Thurgau präsentieren 2020 zum ersten Mal unter diesem gemeinsamen Projekt mit Ausstellungen und verschiedenen Formaten einen Blick auf Geschichten aus dem Kanton. Die Hoffnung ist, dass verschiedene Häuser und ihre Sammlungen ganz unterschiedliche Herangehensweisen haben sich mit dem Kanton auseinanderzusetzen. Kultur wird so zu einem Experimentierraum, bei dem neue Ansätze durchdacht, Wissen ausgetauscht und Menschen zusammengebracht werden können.
Die Kultur als Heilsbringer? So kann es nicht funktionieren
Was für das Projekt im Thurgau gilt, war Bestandteil der meisten vorgestellten Projekte auf der Konferenz: Alle waren sich einig, dass kulturelle Projekte nicht als Heilsbringer für ländliche Regionen missverstanden werden dürfen, sondern auf die Bedürfnisse und Geschichten vor Ort eingehen müssen.
Die Art von Kultur von der gesprochen wurde, ist keine akademische Hochkultur aus einem verknöcherten Elfenbeinturm, sondern baut auf gelebten Erfahrungen aller Akteure auf. Wenn man ein Kulturpublikum abseits des Urbanen aufbauen möchte, hilft es möglichst viele Menschen vor Ort zum Teil des Projektes zu machen, lautete eine Erkenntnis. Eine Gemeinschaft entstehe nur mit Teilhabe und der Zeit, Dinge reifen zu lassen.
Die grosse Frage: Was heisst eigentlich nicht-urban?
Ein anderes Problem: Während der Tagung wurde ziemlich schnell klar, dass es keine gemeinsame Definition des nicht-urbanen Raums gibt und es stattdessen eher um Projekte ging, die abseits eines bestimmenden Zentrums stattfinden und diese Freiheit nutzen, Dinge auf ihre Weise zu machen. So stand ein Besuch bei dem Theater Konstanz auf dem Programmplan. Konstanz ist zwar ganz klar eine Stadt, aber das Theater mit seinem experimentellen und politischen Programm arbeitet in einer interessanten Nische und gerät dabei immer wieder mit der Stadtverwaltung aneinander.
Ein weiterer Programmpunkt war der Besuch in Pfyn, das im Vergleich zu Konstanz ganz klar ländlich ist. Nun ist die Schweiz bekanntermassen kein EU-Mitglied, aber ein Team Kulturschaffender rund um Alex Meszmer und Reto Müller hat sich nach europäischem Beispiel das Label Kulturhauptstadt der Schweiz angeeignet und 2011 und 2012 das Dorf zu unverhofftem Ruhm geführt. Das Projekt führte Leben auf dem Land mit Kunst zusammen und fragte danach, ob sich Kultur und Kunst demokratisch mit Bewohner entwickeln lässt und ob Kunst und Demokratie wirklich zusammengeht. Man könnte es auch ein erfolgreiches Experiment in gelebter Kulturpolitik nennen.
Zwischen Tradition und Innovation
Letztlich geht es aber, auch das zeigte der Austausch in Kreuzlingen, in der Diskussion über Kultur und Leben abseits des Städtischen darum, einen Spagat zwischen Neuem und Altem zu schaffen. «Wir verbinden mit Kreativschaffenden zwar gerne innovative neue Ideen, aber wenn es wirklich zu einer gesunden Gemeinschaft vor Ort kommen soll, muss die Hochkultur eine Brücke zu Traditionen, Handwerk und Volkskunst bauen, sonst wird sie immer ausserhalb der Gemeinschaft bleiben», lautete eine der Argumentationslinien. Doch wie baut man Vorurteile zwischen Neuem und Altem ab und wie balanciert man Projekte? Wer ist bereit in Zeiten von Landflucht mutige neue Projekte im Ländlichen zu finanzieren?
Kultur, Tradition und Region miteinander zu verbinden sorgt unweigerlich für politische Diskussionen, die häufig für nationalistische Debatten genutzt werden. Der Brexit war immer wieder ein Thema während der Konferenz und es kam die wichtige Frage auf, wie inklusive kreative Praktiken aussehen, die Region und Identität elastisch gestalten.
Aus gemeinsamen Bedürfnissen werden im besten Fall Handlungen
Isabelle Battioni, Generalsekretärin der «Association des Centres culturels de rencontre» trifft den Kern der Debatte: «Ländliche Regionen sind Arbeitsregionen.» Wenn sich Kreativschaffende in den Regionen niederlassen, gilt es die gemeinsamen Bedürfnisse von Bauern, Erzeugern vor Ort und Kreativen zu sammeln und in Handlungen umzusetzen.
Was bleibt als Bilanz? Es machte einen hoffnungsfroh über drei Tage lang mit anderen internationalen Akteuren ins Gespräch zu kommen und mehr über ihr Engagement zu erfahren. Doch so sehr mein Herz für Kulturpolitik schlägt, frage ich mich dennoch, ob die Ergebnisse tatsächlich politische Handlungen nach sich ziehen.
Wenn Kultur es sich zur Aufgabe macht Brücken zu bauen und einen Diskussionsraum zu schaffen, wie inklusiv sind diese Formate für Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsteilen und können sie tatsächlich Gemeinschaften nachhaltig verändern? Die Tagung offenbarte dabei auch selbst Lücken im Kulturdiskurs. Denn: Diskutiert man Leben in nicht-urbanen Räumen ist es untrennbar mit Landwirtschaft verbunden. Es waren aber nur wenige Landwirte auf der Konferenz. Ein Farmer aus Grossbritannien brachte es auf den Punkt: Das grösste Problem für Menschen in nicht-urbanen Regionen sei die Teilhabe und dass sie bei Entscheidungsprozessen selten mit am Tisch sitzen.
Wie inklusiv sind Formate die wichtige Player aussen vor lassen?
Kulturpolitik und Kreativschaffende bieten interessante Impulse gesellschaftliches Leben in der Zukunft anders zu gestalten. Man wünscht sich, dass Kultur hier nicht nur als «Soft Power» gesehen wird, sondern viel stärker von anderen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern ernst genommen wird.
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