von Judith Schuck, 23.09.2024
Dem Blick ausgeliefert
Haare und Frisuren sagen viel über Kulturen oder die Persönlichkeit ihrer Träger:innen aus. Sind sie bedeckt mit einem Kopftuch, löst dies immer wieder Kontroversen aus. Carole Isler nähert sich im Kunstverein Frauenfeld beidem malerisch an. Beobachtend, ohne zu werten. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Vier junge Frauen sitzen nebeneinander im Gespräch. Bei zwei von ihnen ist offensichtlich, das sie ein Kopftuch tragen. Eine Frau scheint ihr Haar unbedeckt zu lassen. Bei der ganz Rechten bleibt unklar, ob sie ein konservatives Kopftuch trägt, das keine Strähne herausschauen lässt und eng das Gesicht umschliesst, oder ob sie wie ihre Freundinnen eine eher lockere Kopfbedeckung trägt. Die Frauenfelder Künstlerin Carole Isler kehrte im Mai von ihrem Atelieraufenthalt in Kairo zurück.
Die Ergebnisse dieser Atelierszeit aber auch andere ihrer Arbeit sind noch bis zum 6. Oktober im Kunstverein Frauenfeld zu sehen unter dem Ausstellungstitel: „HAⱯR“. Das zweite A steht auf dem Kopf. Es ist zwar ein lateinischer Buchstabe, der in einigen Sprachen gebraucht wird, um phonetisch ein offenes O darzustellen.
Der Weltschmerz des Nahen Ostens
Der visuelle Eindruck dieses Wortes weist uns auf jeden Fall in Richtung Fremdsprache, Mehrdeutigkeit, Wortspiel, was es auch ist. Neben dem deutschen Wort Haar nimmt der Titel auf das Arabische „har“ Bezug, was „heiss“ bedeutet. Denn heiss war und ist die gesellschaftliche Lage in Ägypten.
Als Carole Isler im vergangenen Herbst in Kairo ankam, verübte kurz darauf die Terrororganisation Hamas ihren Anschlag auf Israel. „Weltschmerz“ heisst ein Werk, das in Kairo entstand und ich erinnere mich noch, wie ich vor bald einem Jahr mit Carole Isler telefonierte. Die Künstlerin erzählte, wie unfassbar es sei, so nah am Weltschmerz zu sein.
Der Krieg, so nah an Ägypten, habe in der Gesellschaft zunächst eine allgemeine Traurigkeit ausgelöst, sagt Isler rückblickend bei einem Rundgang durch die Ausstellung im Berner Haus, „eine Melancholie, die sich über die Stadt gelegt hat“. Es habe Aufklärungsversuche geben, dass Medien einseitig zu Gunsten Israels berichteten. „Das hat dann allmählich nachgelassen. Die Welt wusste ja Bescheid, aber es passierte nichts“, sagt Isler, die den Zustand der Menschen in Kairo mit Ohnmacht umschreibt.
Muster und Ornamente als bildnerisches Mittel
Auf dem Bild „Weltschmerz“ kauert eine junge Frau auf dem Boden, umgeben von einem Raster, einem Schachbrettmuster. „Schach ist ein hierarchisches Spiel“, erklärt Isler, die damit auf die Macht Israels hindeutet, aber auch auf das Ausgeliefertsein der Bevölkerung gegenüber dieser Macht. Sie beobachtete, dass die Ägypter:innen stets einen Unterschied zwischen der israelischen Politik und dem Volk machen, „das finde ich stark“.
In Carole Islers sensiblen Porträts der ägyptischen Menschen finden sich immer wieder Ornamente. Das hinge mitunter damit zusammen, dass es sie überall gebe. In das Zimmer, dass die städtische Kulturkonferenz Frauenfeld für den Aufenthalt in Kairo zur Verfügung stellt, habe jeden Morgen die Sonne durch einen Fensterladen mit ornamentalen Holzschnitzereien geschienen.
Dieses Lichterspiel setzte sie ebenfalls malerisch um. Hinter der in Erdfarben gehaltenen Gitterstruktur erscheint eine geheimnisvolle Frau. Ihr Gesicht ist zu erkennen, ob Haare oder Kopftuch ist wie auf vielen ihrer Werke nicht eindeutig definiert, ein Spiel mit Schärfe und Unschärfe.
Ambivalente Kopfbedeckung
Zum Kopftuch kam Carole Isler über ihr Interesse an Haaren und Frisuren. „Ich finde das Motiv spannend. Manche Personen sind androgyn dargestellt, es spielt keine Rolle, welches Geschlecht sie haben.“ Vielmehr setzte sich Isler mit den jeweiligen kulturellen Handhabungen auseinander, wie mit Haaren und Kopfbedeckungen umgegangen wird.
In Ägypten ist das Kopftuch in ihrem Umfeld immer wieder diskutiert worden. Mit dem Eintreten der ersten Periode steht eine junge ägyptische Frau vor der Entscheidung: Kopftuch ja oder nein. Man sei damit exponiert als Frau, jeder kann die Entscheidung sehen.
Im Beruf kann das Kopftuch Vor- oder Nachteile haben. Bei internationalen Jobs sei es hinderlich, bei anderen Jobs ein Muss. „Mich interessieren hier weniger die politischen oder religiösen, sondern vielmehr die persönlichen Geschichten dahinter. Es ist eine ganz individuelle Entscheidung. Manche Frauen freuen sich auf das Kopftuch, manchen macht es Angst.“
Indikator für sozialen Status
Um aufzuzeigen, wie ambivalent dieses Stück Stoff ist, verfasste eine Bekannte von Carole Isler einen Erfahrungsbericht darüber, wie sie sich fühlte, nachdem sie ihr Kopftuch nach 15 Jahren abnahm. 10 Jahre davon trug die ägyptische Künstlerin Donia Fares ihr Kopftuch auf eher konservative Art. In ihrem Bericht unterstreicht sie, dass es einige Frauen gibt, die gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen. Es seien aber weitaus mehr, die sich freiwillig dafür entscheiden.
Das Kopftuch kann aber auch ein Indikator für den sozialen Status, einen eher konservativen familiären Hintergrund oder eine weniger offene Haltung sein. Sie selbst habe immer wieder mit Vorurteilen zu kämpfen gehabt. Ein Jahr, nachdem sie das Kopftuch aus persönlichen Gründen abnahm, sagt sie: „Manchmal vermisse ich es, bedeckt zu sein. Andere Mal fühle ich mich mit mit im Reinen.“
Mehr Reduktion und Flächenarbeit
Neben dem Thema Haare nimmt die Ausstellung allgemein den Menschen ins Visier. Alltagsszenen übersetzt die Künstlerin mit viel Respekt und Faszination für ihre Modelle ins Bildliche. Ob orientalische Marktszenen, Wartende am Zürcher Hauptbahnhof oder eine Begegnung zwischen zwei arabischen Männern, einer auf dem Esel, der andere auf einem Mofa.
Das Licht in Kairo beeinflusste auch die Farbwahl der Künstlerin. Erdige Ocker- und Brauntöne in Kontrast zum Blau des Himmels. Das Arbeiten mit Ölfarbe und das Experimentieren mit der Abstraktion sind ebenfalls neu für Carole Isler, die sich hier inmitten eines Prozesses verortet: „Ich möchte noch mehr reduzieren, das ist ein grosses Lernfeld für mich.“
Auch ganz neue Arbeiten in der Ausstellung
Ein aktuelles Werk, das für dieses Experimentieren steht, ist „Drachensteigen“. Frische, frühlingshafte Pastellfarben bilden eine bunte Wiese, auf der zwei Kinder versuchen, ihren Drachen steigen zu lassen. Hier arbeitete Isler mit dem Kontrollverlust: „Ich finde schön, was aus Zufällen entsteht.“ Ölfarbe verdünnte sie mit Terpentinersatz, während die Leinwand auf dem Boden lag. Dann stellte sie die Leinwand wieder auf, sodass die Farben über das Bild laufen konnten. „Ich suche nach einer guten Umsetzung, um mit Flächen zu arbeiten. Ich möchte die Bilder nicht einfach zumalen.“
Auch wenn in HAⱯR die ägyptischen Bilder im Zentrum stehen, gesellen sich eben diese neueren, aber auch ältere, teils neu bearbeitete Werke zu ihnen. Die Insgesamt 54 Gemälde sind noch bis zum 6. Oktober im Bernerhaus am Bankplatz 5 in Frauenfeld zu sehen.
Die Ausstellung
Programm und Öffnungszeiten zu HAⱯR:
25. September, 19 Uhr: Gespräch zwischen Judith Zwick und Carole Isler.
Zusätzliche Anwesenheit der Künstlerin: 21. September, 10 bis 12 Uhr und 6. Oktober, 14 bis 17 Uhr.
Öffnungszeiten: Sa 10 bis 12 und 14 bis 17 Uhr und Sonntag 14 bis 17 Uhr.
Von Judith Schuck
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