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von Maria Schorpp, 21.04.2025

Am Anfang war das Haus

Am Anfang war das Haus
Das Bodmanhaus stammt aus dem 16. Jahrhundert. Sein heutiges Aussehen erhielt es durch einen Umbau im Jahr 1812. | © Thomas Keil

Das Kleine als Chance: Das Literaturhaus Thurgau in Gottlieben ist 25 geworden und setzt auf Literatur als persönliche Begegnung. Am 26. April wird das gross gefeiert. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Lorenz Zubler gibt die Episode folgendermassen wieder: Clara von Bodman leistet ihrem Mann Emanuel mit dem Strickzeug in der Hand beim Schreiben Gesellschaft. Sagt er zu ihr: Du musst rausgehen, du störst mich. Sagt sie: Ich sag doch gar nichts. Sagt er: Du denkst zu laut. Zu verdanken ist diese Anekdote sowie viel weiteres Wissen über Emanuel von Bodman den Aufzeichnungen und Briefen seiner Frau, die auch eine talentierte Schreiberin war.

Was den Dichter Emanuel von Bodman bewogen hat, seiner Frau zu lautes Denken vorzuwerfen, ist wohl nicht überliefert. Es könnte allerdings sein, dass er sie ernster nahm als sie sich selbst. „… und heute frage ich mich, ob ich ihm nicht viel mehr hätte sein und geben können, wenn ich Clärle Herzog geblieben wäre“, gestand die geborene St. Gallerin, als sie längst Witwe war.

Auch da war er offenbar noch immer Zentrum ihres Nachdenkens. Clara von Bodman taugt zumindest auf den ersten Blick nicht als frühes Role Model für weibliche Emanzipation, aber das heisst nicht, dass sie nichts bewirkt hätte. Lorenz Zubler, der Präsident der Thurgauischen Bodman-Stiftung in Gottlieben, sagt es selbst: „Das Literaturhaus Thurgau ist eigentlich Clara von Bodman zu verdanken.“

 

Clara von Bodman, die Frau des Dichters und Dramatikers. Bild: Lore Gerster

Gottlieben und die Grossstädte

Denn: „Am Anfang war das Haus.“ Wieder Lorenz Zubler. Clara von Bodman hat nicht nur erreicht, dass es heute eine Werkausgabe der Gedichte, Novellen und Dramen ihres Mannes gibt, sondern auch diese Gedenkstätte, die zum Literaturhaus wurde. Nicht zu irgendeinem, sondern zu einem Literaturhaus nicht in Zürich, Basel oder St. Gallen, sondern in Gottlieben. Da fährt keine Tram vorbei, die literaturinteressierte Menschen zu den Lesungen bringt. Stattdessen fliesst ein paar Meter weiter der Seerhein entlang. Gottlieben, die 350-Seelen-Gemeinde, besitzt, wie die genannten Grossstädte, ein Literaturhaus. Von Anfang an mitgedacht war das Potenzial der auf deutscher Seite benachbarten Universitätsstadt Konstanz.  

Ein Vierteljahrhundert ist es her, dass am 8. April 2000 auf intensives Betreiben hin von Robert Holzach –  angefangen mit dem Erhalt des verfallenden Gebäudes aus dem 17. Jahrhundert – das Bodmanhaus eröffnet werden konnte. Seither ist viel passiert und auch viel gleichgeblieben. „Es gibt eine grosse Konstanz“, sagt der Stiftungspräsident und kommt sogleich auf die sogenannten Wasserglas-Lesungen zu sprechen.

Video: arttv.ch porträtiert das Literaturhaus

Über 500 Lesungen sind es bis heute, bei denen meistens eine Autorin oder ein Autor mit einem Glas Wasser vor sich am Tisch sitzt und liest. Nicht gerade ein innovatives Format, wie Zubler ohne Weiteres zugibt, aber ein wesentliches. „Man kann sich natürlich fragen, ob das noch zeitgemäss ist. Für mich ist es aber ganz wichtig, dass es die Möglichkeit der Begegnung von Publikum mit

Autorinnen und Autoren gibt, dass es zu einem Austausch kommen kann.“ Erlebte Literatur also.

 

Der Schriftsteller Emanuel von Bodman. Bild: Bodmanhaus

Das Faszinierende der Literatur erleben

Lorenz Zubler steht beim Gespräch im Bodmanhaus noch ganz im Bann eines solchen Erlebnisses. Am Abend zuvor fand die Lesung von Hans Jürgen Balmes‘ Rhein-Biografie statt. Der Stiftungspräsident kommt ins Schwärmen: „Mich hat nicht nur das Buch überzeugt. Ich habe es sehr eindrücklich gefunden, Herrn Balmes zu erleben, wie er fasziniert ist von seinem Gegenstand und diese Faszination in ein Buch bringt. Das kann man nur in einer solchen Veranstaltung erfahren.“

Dem Lesemenschen, der vor seinen 18 Jahren als Rektor der Pädagogischen Maturitätsschule in Kreuzlingen dort Deutschlehrer war, erscheint es weder überraschend noch besorgniserregend, dass das junge Publikum eher weniger zu den Lesungen kommt. „Ich habe mal überlegt, wie oft ich als junger Mensch zu einer Lesung gegangen bin, und ich muss sagen, die Anzahl war trotz Interesse für Literatur eher bescheiden. Für junge Leute ist es nicht besonders cool, zu einer Lesung zu gehen. Dennoch lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie auch Jugendliche ins Literaturhaus kommen könnten.“

 

Man darf davon ausgehen, dass hier der Vorwurf des zu lauten Denkens erhoben wurde: Emanuel von Bodmans Arbeitszimmer im Bodmanhaus. Bild: Thomas Keil

Das Publikum stirbt nicht aus

Dass das Publikum im wahrsten Sinne des Wortes ausstirbt, befürchtet er jedenfalls nicht: „Es war schon vor 25 Jahren nicht jünger. Diejenigen, die heute kommen, waren wahrscheinlich damals noch nicht da.“ Gehobenes Alter bedeutet nicht konservativ. Eher experimentelle Literatur wie die von Dominique Haensell, einer der beiden letztjährigen Stipendiat:innen der Stiftung, stösst auf grosses Interesse.

Lorenz Zubler erlebt das Publikum des Thurgauer Literaturhauses als neugierig und aufgeschlossen. Dabei ist viel möglich. Die Programmleitung hat keinerlei Vorgaben durch die Stiftung. Aktuell wird sie von Karsten Redmann besorgt, der sein Programm unter das Motto „Nature Writing“ gestellt hat.

Video: Einblicke in die Arbeit des Literaturhaus Thurgau (2022)

Nicht alle der eingeladenen Autorinnen und Autoren treffen ein volles Haus an, was Lorenz Zubler, gerade wenn es um Lyrik geht, bedauert. Eine solch intime Atmosphäre hat aber auch Vorteile: „Ich habe schon Lesungen mit 20 Personen erlebt. Das war sehr persönlich, und es hat gute Gespräche gegeben. Möglichst viele Eintritte zu bekommen ist wichtig, aber von der Qualität der Veranstaltung her müssen es nicht immer viele Leute sein.“ Ein Lukas Bärfuss oder Peter Stamm füllt dann wieder die Stuhlreihen.

Letzterer ist übrigens Stammgast der kleinen Wohnung, die für die Stipendiat:innen eingerichtet ist und von Schreibenden auch gemietet werden kann. Die Stipendienvergabe – ebenfalls ein „Leistungsauftrag“ der Stiftung an das Literaturhaus. „Es ist ein grosszügiges Literaturstipendium“, wie Lorenz Zubler betont.

Ziel ist die Förderung qualitativ überzeugender professioneller Literaturprojekte. Zu der Grosszügigkeit gehört auch das Ermöglichen, ganz praktisch gedacht. Wenn etwa ein Stipendiat oder eine Stipendiatin Kinder hat, „achten wir darauf, dass man dafür Lösungen findet“. Die Autor:innen wissen das zu schätzen.

 

Robert Holzach hat sich um das Literaturhaus Thurgau verdient gemacht. Ein Raum im Bodmanhaus ist dem Wegbereiter gewidmet. Bild: Bodmanhaus

Das Haus als Begegnungsstätte

Zur „wesensnahen Belebung“ des Hauses, wie der Stiftungszweck lautet, gehört auch die Buchbinderei im Erdgeschoss.  Für Lorenz Zubler erfüllt gerade das Haus als Begegnungsstätte diese Vorgabe. Emanuel von Bodman war Netzwerker, er stand in regem Briefkontakt mit Dichterkollegen wie Rilke und Hesse, und er hatte gern Besuch. „Wenn er das sehen könnte, hätte er vielleicht Freude daran, dass in seinem Wohnsitz weiter Gespräche über Literatur stattfinden. Und Autorinnen und Autoren in diesem Haus schreiben und wohnen und in der Handbuchbinderei sogar Bücher hergestellt werden. Ich denke, das hätte ihm entsprochen.“

Man darf davon ausgehen, dass Clara von Bodman ebenfalls mit der Entwicklung des Hauses sehr einverstanden gewesen wäre. Man meint, ihr lautes Denken zu hören.

Details zum Programm des Festaktes am 26. April 2025 gibt es hier.

 

„Dass der Thurgau im Bodmanhaus in Gottlieben über ein Literaturhaus von Rang und Namen verfügt, darauf können Kanton und Gemeinde stolz sein,“ meint Lorenz Zubler, der neue Präsident des Stiftungsrates der Thurgauischen Bodman-Stiftung. Bild: Archiv

 

 

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