von Maria Schorpp, 11.11.2024
Herr Fässler besiegt die Angst
Passionierte Therapeutin trifft auf ebensolchen Zyniker: In der Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld ist mit „Herr Fässler und die Stürme der Liebe“ zu erleben, wie sich eine Puppe von ihrer Puppenspielerin emanzipiert. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Es muss schon sehr viel passiert sein, wenn eine wie Frau Wohlgensinger zum Schluss kommt: Nie mehr snoezelen. Wo sie extra dafür eine Weiterbildung besucht hat. Vielleicht tut sie dem Snoezelen Unrecht. Ausgerechnet Herr Fässler soll der Beweis sein, dass die Therapiemethode zur Verschaffung angstfreien Wohlbefindens nichts taugt. Dabei hätte man ihr gleich sagen können, dass das nichts ist für einen wie Herrn Fässler, der sich Ironie und Sarkasmus wie eine dicke Hornhaut zugelegt hat.
Wie ihn Frau Wohlgensinger in seinem Rollstuhl hereinschiebt, ist allerdings auf einen Blick zu sehen, dass Herr Fässler erst einmal ein abgrundtief trauriger – Esel ist. Wer Rahel Wohlgensingers Puppencharakterkopf kennt, wird nicht überrascht sein von dem tierischen Mitgeschöpf, zumal zuvor auf der Bühne die Box des Heimbewohners frisches Stroh bekommen hat. Ansonsten könnte man vor dessen Auftritt auch auf die Idee kommen, die Therapeutin im Seniorenheim für Tiere spräche von einem Menschenwesen.
Esel oder Mensch oder beides
Vielleicht ist genau diese fehlende Trennschärfe zwischen Mensch und Tier der Grund, warum Herr Fässler augenblicklich in die Seele des Publikums vordringt und die Mitleidssperre aufhebt, die Menschen nicht selten angesichts anderer Menschen errichten. Natürlich ist es aber auch dieser Puppenkopf, der im Laufe des neuen Stücks „Herr Fässler und die Stürme der Liebe“ immense Ausdruckskraft entwickelt (Puppenbau von Melanie Sowa und Mario Hohmann). Und es ist paradoxerweise vor allem die Puppenspielerin Rahel Wohlgensinger, die auf der Bühne der Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld vergessen macht, dass Herr Fässler eigentlich ihre Kreatur ist.
Da passt es, dass die Puppenspielerin auch die Therapeutin spielt, die in dem Heim für vom Leben erschöpfte Esel:innen versucht, wieder einigermassen gutzumachen, was die Menschen den Langohren angetan haben. Frau Dupont-Häfeli zum Beispiel musste Jahr um Jahr auf ihrem Rücken Familien von einem Bauernhof zum nächsten befördern. Oder der traumatisierte Herr Mosimaa, der zur Weihnachtszeit die Nikoläuse begleitete und keine Glöckchen mehr hören kann. Auch Flüchtlingsesel gibt’s im Heim, Yusuff Messaoudi hat vom lebenslangen Lastenschleppen einen kaputten Rücken.
Zuhause sieden die Fische im Aquarium
Für alle hat Frau Wohlgensinger die passende Therapie gefunden – nur für Herrn Fässler nicht. Trotz ihrer Begeisterung für den Job und trotz ihrer Tüchtigkeit. Ohne sie geht nichts. Während sie die Brötchen verdient, lässt ihr Mann zuhause die Fische im Aquarium sieden. Auch das herzzerreissende Weinen von Tochter Klara am Telefon kann sie nicht umstimmen, genau jetzt gegen Herrn Fässlers Agonie anzukämpfen. Snoezelen ist für den Zyniker lediglich ein gefundenes Fressen, um seinen Sarkasmus zu zelebrieren. In Wirklichkeit muss er seine Ängste deckeln, sonst würden sie ihn umhauen.
In diesem zweiten Herr Fässler-Stück von Rahel Wohlgensinger und Regisseur Simon Engeli gehen diese Abgründe eine überwältigende Fusion ein mit schlagfertigem, coolem Fässler-Witz und einem robusten Sinn für, sorry, allzu Menschliches. Um dem therapeutischen Basteln zu entkommen, lässt sich das Schlitzohr aufs Klo bringen. Die geräuschvolle Blasenentleerung wird erst möglich, indem Frau Wohlgensinger mehr oder weniger korrekt aus dem Liebesroman „Stürme der Liebe“ vorliest. Unvermutet kommen damit auch die Gefühle ins Fliessen.
Wir wissen da schon, dass nicht stimmt, was Herr Fässler erzählt, wir wissen, dass es in dem Bauernkaff im tiefsten Toggenburg keine Disco gab, die er gemeinsam mit seiner Eselsclique betrieben hat, in der er Platten aufgelegt hat und in die eines Nachts die coole Eselin Aurelia einlief. Doch seine Phantasie besitzt Schaffenskraft. Den Bühnenraum erhellt eine Discokugel und Herr Fässler wird zu Michael Jackson. Der Griff in den Schritt inklusive. Frau Wohlgensinger klickt dazu bei Spotify 80er Jahre-Hits an. Tipp für Nicht-Boomer: Für wen sowas wie „Take My Breath Away“ nur schwer erträglich ist, könnte trotzdem etwas an Herrn Fässler finden.
Das Seelenleben des Herrn Fässler
Und dann gibt es zum Schluss diese ganz wundersame Szene, wenn Herr Fässler doch noch den Deckel lüftet und sich seiner Vergangenheit und seiner Angst stellt. Einer sehr traurigen Vergangenheit. Es ist ein kleines Wunder, wie dieses Puppenwesen beim Lesen seiner wahren Geschichte mit nur kleinen und wenigen Kopfbewegungen ein so feinziseliertes Seelenleben an den Tag legt, dass man seine „Handlangerin“ völlig vergisst. Wem hier nicht der Atem stockt, der ist reif fürs Snoezelen bei Frau Wohlgensinger.
„Herr Fässler und die Stürme der Liebe“ ist witzig, lustig, klug, herzergreifend und lässt die bevorstehende Weihnachtszeit bereits erahnen. Das Ende gerät dann entsprechend etwas zu harmonisch, das passt nicht ganz zu diesem störrischen Esel, der ja auch Spass hat an seinem Zynismus. Immerhin darf er in Anlehnung an den Song von Tina Turner frotzeln „I’m simply the bescht“. Der Applaus bei der Premiere legte den Verdacht nahe, dass das Publikum dem zustimmte. Rahel Wohlgensinger und sämtliche anderen Beteiligten werden damit wohl auch ein bisschen gemeint sein.
Alle weiteren Termine im Überblick
Das Stück „Herr Fässler und die Stürme der Liebe“ wird noch bis 21. Februar 2025 gespielt. Alle Termine im Überblick gibt es bei uns in der Agenda und auf der Website des Theaters.
Von Maria Schorpp
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