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von Maria Schorpp, 17.10.2024

Familiengeschichte im Zeichen des Kolonialismus

Familiengeschichte im Zeichen des Kolonialismus
Nutzte ein Stipendium in Gottlieben, um ein Buch über die eigene Familiengeschichte zu schreiben: Die Autorin Dominique Haensell. | © Stefanie Kulisch

Weit mehr als eine Finanzspritze: Die Berliner Autorin Dominique Haensell war als Literaturstipendiatin der Thurgauischen Bodman-Stiftung im Bodmanhaus, wo sie ihr Buchprojekt „The White Rasta“ vorangebracht hat. Am 24. Oktober liest sie an Ort und Stelle daraus. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

„Nicht mal zwei Jahre alt war ich, als ich London verliess – ein Bündel unbewusster Erinnerungen. Erst bei meiner Rückkehr als junge Erwachsene bemerke ich, welcher Sinneseindruck sich am markantesten eingeprägt hatte: der Geruch von Ziegelsteinen, Bleichmittel und Urin in den Strassen Claptons und im Treppenhaus des heruntergekommenen Wohnblocks, in dem mein Vater wohnt.“

Dieses Ich ist die Schriftstellerin Dominique Haensell, die ein Buch schreibt über ihre Familiengeschichte im Zeichen des Kolonialismus. Es bezieht sich aber auch auf die Person in ihrem Buchprojekt „The White Rasta“, in der die verschiedenen Familienstränge zusammenlaufen. Dominique Haensell hat diese Protagonistin sehr nah an ihre eigene Biografie angelehnt, ihr aber auch einen Rest Fiktionalität zugestanden.

Überzeugend, aber nicht einfach

Die Autorin „punktet mit einer überzeugenden literarischen Herangehensweise“, befand die Jury der Thurgauischen Bodman-Stiftung und wählte sie unter knapp 90 Bewerbungen für eines der beiden Literaturstipendien 2024 aus. „Es gäbe einfachere Arten, es zu erzählen“, sagt Haensell selbst im Video-Interview. Sie hätte ihre Familiengeschichte, die in doppelter Weise kolonial verankert ist, als Sachbuch anlegen können. Oder rein fiktional als Roman. Aber: „Das Material selbst verlangt, aus beiden literarischen Formen auszubrechen.“ 

Die rein faktische Erzählweise wäre ihr zu trocken, die rein fiktionale zu emotional gewesen. Stattdessen entschied sie sich für einen Formenmix aus Fiktionalität, Autofiktionalität und Essay. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin schreibt das Buch auf Englisch. Sie hält die Sprache für geeigneter, um Emotionen auszudrücken, gleichzeitig verschafft ihr die Nicht-Muttersprache die nötige Distanz, um ihre Erfahrungen im aktuellen Deutschland zu beschreiben. Erscheinen wird es im Luchterhand-Verlag allerdings übersetzt auf Deutsch. 

 

Dominique Haensell, hier im September beim Baldwin-Festival im Literarischen Colloquium in Berlin, ist Autorin, Lektorin und Moderatorin. Bild: Hannes Wiedemann

Zwei koloniale Verbindungen

Das Material, das ist die Geschichte ihrer Familie. Lange brachte sich Haensell über ihren aus der Karibik stammenden Vater mit dem Thema Kolonialismus in Verbindung. Dann fand sie heraus, dass auch ihre deutsche Familie eine bewegte koloniale Vergangenheit hat, die vor hunderten von Jahren im Baltikum begann, über Samoa verlief und nach dem ersten Weltkrieg in Angola fortgeführt wurde. 

Sie endete in den 1950er Jahren mit der Übersiedlung nach Deutschland und dem Verkauf der familieneigenen Kaffeeplantage. Nach Haensells Geschichtsverständnis ist damit jedoch kein Schlusspunkt gesetzt: „Die koloniale Vergangenheit Deutschlands hat auch etwas mit der Gegenwart zu tun. Und sie hat etwas mit mir zu tun.“

Kind von Kolonisierten und von Kolonisierenden

Gegen den alleinigen fiktionalen Zugang hat sich die Berliner Autorin auch deshalb entschieden, weil ihr „die kritische Reflexion über die kolonialen Nachwirkungen in der Gegenwart“ wichtig ist. „Letzten Endes ist Rassismus gegen Schwarze Menschen stark verknüpft mit kolonialen Bildern und kolonialer Ideologie“, sagt sie. (Die Grossschreibung von „Schwarz“ soll ausdrücken, dass „keine Farbe, sondern ein soziales Konstrukt und eine politische Selbstbezeichnung gemeint ist“.) Die Geschichte ihrer deutschen Familie drängt sich auf: „Es macht natürlich etwas mit mir, wenn ich mich damit auseinandersetzte, dass ich nicht nur Kind von Kolonisierten, sondern auch von Kolonisierenden bin, die in Unrechtskontexten agiert haben.“

Dass Dominique Haensell so tief in die Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits eintauchen kann, liegt an dem Umstand, dass sie vor einigen Jahren auf ein Familienarchiv stiess. In einem darin vorgefundenen Brief schreibt ihre Urgrossmutter beunruhigt von Angola nach Deutschland, dass ihr Sohn zu viel mit den einheimischen Arbeitern vor dem Lagerfeuer abhänge. Hört man Haensell zu, bekommt man eine Ahnung von der Zerrissenheit der Menschen, von denen sie schreibt. 

Video: Dominique Haensell über Feminismus

Der Grossvater der Autorin gibt der Polizei einen Tipp

Derselbe Sohn, mittlerweile in Deutschland, sorgt mit einem Tipp an die Polizei dafür, dass der senegalesische Freund seiner eigenen Tochter, Haensells Mutter, abgeschoben wird. Ein Jahr später geht diese nach London, wo sie den eingangs erwähnten Vater der Autorin kennenlernt. „So kommt trotzdem noch ein Schwarzes Kind in die Familie“, stellt Haensell trocken fest. 

Entgegen gängiger Klischees lässt sie das naheliegende Motiv der Identitätssuche jedoch im Sand verlaufen. „Das liegt daran, dass ich Identität nicht als etwas verstehe, das man suchen oder finden kann, sondern als etwas Prozesshaftes, vor allem auch gesellschaftlich Konstruiertes.“ 

Viel Lob für die Familienfreundlichkeit des Stipendiums

Das Literaturstipendium der Thurgauischen Bodman-Stiftung, nicht die erste Auszeichnung für ihr Projekt, hat Dominique Haensell nicht nur im Sinne finanzielle Unterstützung als sehr hilfreich erlebt. Es verschaffte ihr auch Freiraum für Kreativität.  „Ich konnte mich einfach in den Text wühlen, was im Alltag, zumal mit zwei Kindern, kaum möglich ist.“ Ihre Jobs als Autorin, Lektorin und Moderatorin kommen hinzu.

Dabei ist die Familienfreundlichkeit des Stipendiums nach ihrer Erfahrung vorbildlich: „Allein die Möglichkeit, den zweimonatigen Aufenthalt zu stückeln, ist super. Das ist mit Kindern sehr wichtig. Extrem hilfreich war auch, dass es ein Budget dafür gab, dass mich die Familie besuchen konnte, und für Kinderbetreuung vor Ort.“ Das kennt sie auch anders. 

Kinder mitbringen ist oft tabu. Da könnten sich die anderen nicht konzentrieren, heisst es dann. Müssen wir uns nicht konzentrieren, fragen sie und die von ihr mit gegründete Initiative other writers zurück, die Bedarfe von Schreibenden mit Kindern sammelt. „Da sind viele von den Sachen gelistet, die das Stipendium der Bodman-Stiftung abdeckt. Von daher ist das ein Vorzeigemodell.“

 

Stilvoll im Bodmanhaus: Blick in die kleine Wohnung für Stipendiat:innen, in der Dominique Haensell an ihrem Buchprojekt arbeiten konnte. Bild: Thurgauische Bodmanstiftung

„Ein tolles Haus“

Was den Aufenthalt im Bodmanhaus betrifft, bleiben keine Wünsche offen: „Es war wunderbar. Ein ganz tolles Haus. Es hat einfach einen guten Geist.“ Die kleine Wohnung füt Stipendiat:innen, in der sie untergebracht war, die Hausgemeinschaft mit den anderen, die Natur drumherum, das Schwimmen im See trotz verregnetem Frühjahr: „Eine schöne Erinnerung. Ich freue mich, im Oktober für die Lesung wieder in Gottlieben zu sein.“ 

Die Lesung

Dominique Haensell liest am Donnerstag, 24. Oktober, um 19.30 Uhr im Bodmanhaus in Gottlieben aus ihrem Buchprojekt „The White Rasta“. Sie wird passagenweise auf Englisch und Deutsch lesen.  

 

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