von Maria Schorpp, 28.04.2025
Im Dschungelcamp der Gefühle

Raus aus sich selbst: Das Junge Theater Thurgau erzählt in seiner neuen Produktion „unseen“ im Eisenwerk in Frauenfeld Selbstbefreiungsgeschichten, die sich in einer wunderbar verwunschenen Kulisse abspielen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Es riecht nach Holz. Das ist eindeutig ein Stück Wald. Blöcke von Baumstämmen sind aufeinandergeschichtet. Pilze sind auf dem Boden zu erkennen, Rinde, die knirscht, wenn man auf sie tritt. Wasser plätschert irgendwo herab. Deutlich zu sehen ist allerdings auch, dass die Baumteile nach oben hin in der Decke befestigt sind, ein altes Radio steht im Gebüsch. Am rechten Rand ist eine Art Zelt aufgebaut, in dem ein TV-Gerät steht. Natur nicht ganz pur. Es riecht auch nach Menschen.
Eine Abenteuerreise zu sich selbst
Damit haben Eric Scherrer und Regisseurin Petra Cambrosio ganze Arbeit geleistet. Die Leiterin des Jungen Theater Thurgau hat die jungen Darstellenden für ihre neue Eigenproduktion „unseen“ ihre Figuren selbst entwickeln lassen. Sie hat daraus ein raffiniertes Stück Theater verfasst, das das Ensemble unter ihrer professionellen Obhut mit viel Herzblut und Mut zum phantasievollen Abenteuer entwickelt hat. Eine Reise nannte es Cambrosio am Premieren-Abend im Frauenfelder Eisenwerk. Eine Reise zum Mittelpunkt des Ich.
Das Bild von den Pilzen durchzieht das Geschehen. Das Herzstück der Pilze, das Myzel, existiert unten im Boden, in einer unsichtbaren vernetzten Welt, in der ein unablässiger Austausch stattfindet und eine ausgefeilte Kommunikation zwischen den einzelnen Pilzkolonien, die sich mit Nährstoffen aushelfen. Und noch mehr: Die Unterstützung gilt nicht nur der eigenen Art, sondern auch anderen Gewächsen, Bäumen etwa. Das nützt allen. Der Wald, ein Kosmos, der von unsichtbaren Fäden zusammengehalten wird.
Es könnte so schön sein, wenn die Menschen auch in der Lage wären, so etwas zustande zu bringen. Im sichtbaren Teil des Waldes funktioniert es anders. Hier machen sich Menschen mit merkwürdigen Attitüden breit. Hexen, Fuchs, Eule, Werwolf, ein Astronom, ein Gnom und einfach eine Frau. Figuren vielleicht, um der eigenen Geschichte ein Bild zu geben, und die Mjri Brühwiler und Myakka van Rooijen mit ihren Kostümbildern in mit märchenhaften Anklängen versieht.

Alle stecken in sich selbst fest
Jede und jeder lebt für sich, hat eine eigene Vergangenheit, in der man feststeckt. Schuldgefühle, Trauer, erlittene und zugefügte Verletzungen, enttäuschte Liebe, das Gefühl, nicht aufrecht zu sein oder im Zwiespalt zu leben. Das vereinzelt, schottet ab, das ist kein Kosmos, sondern das sind Einsame, in sich selbst Gefangene.
Die jungen Schauspielenden bewegen sich wie in einer verwunschenen Welt, ihr Spiel ist intensiv. Petra Cambrosio hat das Klaustrophobische der Szenerie noch mit einem Dreh verstärkt. Sie hat, inspiriert von Marlen Haushofers Roman „Die Wand“, eine solche unsichtbare Barriere „errichtet“, die das Leben ausserhalb aussperrt. Eure Grenzen werden ausgetestet, findet euch zurecht, ist aus dem TV-Gerät zu hören.
Ein Psycho-Wochenende mit Dschungel-Camp-Methoden? Zumindest, was die Herausforderungen an sich selbst betrifft. Für das Psycho-Coaching sind die Anwesenden nämlich selbst zuständig. Plötzlich sind da auch alte Telefonapparate, über die sie Kontakt zu ihren Gefühlen aufnehmen, zu ihren Gedanken und zu den Zwängen, in denen sie gefangen sind. Der Leidensdruck ist gross, aber auch die Chance, sich und die Welt besser zu verstehen, weil sie sich nicht mehr ausweichen können.

Langsam bricht die Verkapselung auf
Schade, dass Werwolf Kolya etwas leise ist, wenn er seine Ukulele zur Hand nimmt und so schön traurig etwa Louis Armstrong „What a wonderful world“ anstimmt. Irgendwann hängt auch ein Mond am Himmel, den er anheulen kann. Auf die Wand reagieren alle auf ihre Art, die eine bekommt Panik, jemand anderes findet es gut, weil damit vermeintlich auch das Problem ausgesperrt ist, wieder jemand fragt sich, warum sich die Situation so gut anfühlt, obwohl die geliebten Menschen weit weg sind. Langsam spürt man, wie diese merkwürdigen Wesen aus ihrer Verkapselung herausbrechen. Und wenn die Angst unbezwingbar erscheint, wäre es nicht denkbar, sie bewusst auszuhalten?
Die jugendlichen Darstellerinnen und Darsteller beweisen sehr viel Mut, so spielt man, wenn man sich selbst einbringt. Wenn man sich entschlossen auf die Suche nach sich selbst macht. Das ist nicht immer ganz einfach, auch für das Publikum nicht, das sich einlassen muss. Die Sehnsucht, aus seiner Vereinzelung auszubrechen, ist schmerzhaft spürbar. Bei jeder und jedem auf ihre/seine eigene Art.
Dass im TV-Gerät am Ende das Publikum zu sehen ist, darf ruhig als Aufforderung verstanden werden, sich ebenfalls auf die Reise zu machen. Man kann es so sagen: Wahrheit ist befreiend, wenn sie auch wehtun kann. Für solche Mut machenden Erkenntnisse braucht es wahrscheinlich solch radikal Suchende. Und eine solch wunderbar verwunschene Kulisse, die ein aufregendes Abenteuer verspricht, wie es im Eisenwerk vom Jungen Theater Thurgau zu sehen ist.

Weitere Aufführungen
Das Junge Theater Thurgau (JTTG) spielt unseen auch am 2./3./4./9. und 10. Mai im Eisenwerk Frauenfeld. Beginn ist jeweils um 20 Uhr. Tickets gibt es hier.

Von Maria Schorpp
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