von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 11.11.2024
Alte Mauern, neue Gedanken
Beim grenzüberschreitenden Festival „Heimspiel“ wird ab 15. Dezember die Arboner Webmaschinenhalle erstmals als Kunstort bespielt. Wie gut kann das funktionieren? Ein Baustellenbesuch. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Wer in diesen Tagen mit dem Zug nach Arbon fährt und schon lange nicht dort war, der wird sich wundern. Die Stadt empfängt Besucher:innen am Bahnhof nicht mit Fachwerkidylle und Kleinstadtvibe, sondern mit ziemlich wuchtiger Investorenarchitektur und Grossstadtambition. Der Bahnhof liegt einfach näher an der Industriegeschichte der Stadt als an den anderen Epochen die ihre Spuren in Arbon hinterlassen haben.
Da sind die grossen, alten Industriebauten von Saurer, oder das was von ihnen übrig ist. Teilweise umgenutzt wie zum Beispiel in der Konzertlocation Presswerk. Teilweise auch komplett überbebaut mit Wohnanlagen im Würfel-Stil. Strukturwandel ist ein Prozess und in Arbon kann man ihn live beobachten: Seit Jahren entwickelt die Stadt die alten Industrieflächen neu. Fast jedes Mal, wenn man in die Stadt kommt, scheint etwas dazu gekommen zu sein.
In drei Jahren sollte der nächste grosse Schritt folgen. Der Kanton wollte auf dem Areal ein ganz neues Museum in eine alte Industriehalle bauen. Kein klassisches monothematisches Haus, sondern ein multiperspektivisches Themenhaus, das an den Fragen unserer Zeit arbeiten sollte. Gestemmt von den kantonalen Museen im Thurgau. Ein kühner Plan. Vielleicht zu kühn für den Kanton. Angesichts der Weltlage im Allgemeinen und der Finanzsituation im kantonalen Haushalt hat die Politik das Projekt auf die lange Bank geschoben. Erst 2037 soll das „Themenhaus Museum Werk Zwei“ jetzt eröffnet werden.
„Kunst ist ein Mittel, die Welt anders zu sehen.“
Stefanie Hoch, Kuratorin
Das für das Museum geplante Gebäude hatte der Kanton allerdings lange vor der Verschiebung bereits für eine Million Franken vom Unternehmen HRS gekauft. Und da die grosse, ehemalige Webmaschinenhalle mit rund 8000 Quadratmetern Fläche schon mal da ist, versucht das kantonale Kulturamt nun auch etwas daraus zu machen. Wenn schon kein neues Museum, dann doch zumindest temporäre Ausstellungen in einem kleinen Teil des Komplexes.
Die Archäologen des Kantons waren bereits dort, ab 15. Dezember zieht die Kunst dort ein. Das Heimspiel, ein kantons- und länderübergreifendes Ausstellungsformat zeitgenössischer Kunst, wird bis Anfang März 2025 gastieren. Weitere Spielstätten des Festivals sind in St. Gallen, Glarus und Dornbirn angesiedelt.
«Bei Heimspiel 2024 legen die beteiligten Häuser grossen Wert darauf, nicht nur eine gute Auswahl, sondern auch in sich stimmige und griffige Ausstellungskonzepte zu präsentieren», schrieben die Veranstalter in einer Medienmitteilung im Sommer. Während in Arbon das Motto laute «Der Stoff, aus dem die Gegenwart besteht», setze der Kunstraum Dornbirn beispielsweise bildhauerische Positionen unterschiedlicher Generationen in einen Dialog mit Ort und Raum.
Das Kunstmuseum St. Gallen wiederum inszeniert im Untergeschoss ein Reservoir der Kunst als Quelle der Ideen und Zuflucht für die Zukunft. Das Kunsthaus Glarus lotet anhand des Begriffs der «Gestalt» die Grenzen zwischen Vorstellung und Wirklichkeit aus. Und: Die Kunst Halle Sankt Gallen feiert unter dem Titel «Uncanny Unchained: The Power of Weird» das Absonderliche und hinterfragt damit gesellschaftliche Normen.
Heimspiel 2024 findet vom 14. Dezember 2024 bis zum 2. März 2025 statt. Alle Daten auch auf der Website des Festivals. Zusätzlich bieten bei den Offenen Ateliers 173 Künstlerinnen und Künstler Einblick in ihr Schaffen. Die Offenen-Atelier-Wochenenden finden statt am 28./29. Dezember 2024 sowie 11./12. Januar 2025. Mehr dazu hier.
Aber für den Thurgau ist natürlich Arbon der spannendste Standort. Während anderswo klassische Ausstellungsorte bespielt werden, gilt es hier, einen ganz neuen Kunstort zu erfinden. Eine Aufgabe, die Stefanie Hoch, Kuratorin am Kunstmuseum Thurgau, gerne angenommen hat.
Ein White Cube ist bereits entstanden
An einem Montagmorgen im November steht sie mit Mütze und zugeknöpfter Jacke in den ungeheizten Räumen der alten Industriehalle. Vertieft in ein Gespräch mit der Künstlerin Elena Corvaglia. Es gilt noch Fragen zu klären vor dem Ausstellungsaufbau. Ansonsten gleicht der Ort noch mehr einer Baustelle als einer Kunsthalle. Werkzeug steht herum neben Farbeimern und Kabelgewirr.
Bereits entstanden ist ein kleiner White Cube im grossen Ausstellungssaal. Hier sollen während der Ausstellung unter anderem Videoprojektionen gezeigt werden. Stefanie Hoch wirkt zufrieden mit all dem. „Es ist kalt, es gibt viele Beschränkungen hier, aber trotzdem ist das hier auch eine grosse Chance: Wir können viele Dinge ausprobieren, die wir in einem klassischen Raum wahrscheinlich nicht probiert hätten. Ich mag das sehr“, sagt die Kuratorin.
Ein Ort mit besonderer Geschichte
Tatsächlich ist das ja ein sehr besonderer Ort. Mehr als 100 Jahre alt, fast 160 Meter lang, 18 Meter hoch, 30 Meter breit. Die Halle selbst wurde ab 1909 errichtet. Aber schon vorher, seit 1869, stellte Saurer -- zunächst im Werk 1 am See -- Stickmaschinen für die damals blühende Textilindustrie her, später Lastwagen, Autobusse und Motoren unter anderem für die Schweizer Armee sowie in wachsendem Ausmass Webmaschinen für den Weltmarkt.
„Das hier ist ein guter Ort für Kunst“, sagte Stefanie Hoch und blickt sich um in dem weiten Raum mit seinem abgeranzten Industriechic und den hohen Decken. Die Kraft der Aufschwungjahre hängt ebenso in den Wänden wie der Verfall, der später folgte. Hoch lobt diese Atmosphäre und die Nachbarschaft. Nebenan ist die Textildruckerei von Martin Schlegel, die letzte verbliebene textile Flachfilm-Firma der Schweiz. „Mich inspiriert das, was dort geschieht“, sagt die Kuratorin.
Kunst Halle Sankt Gallen:
Anna Zimmermann, Barbara Signer, Beni Bischof, Domingo Chaves, Ebony Tylah, Felix Stöckle, Francisco Sierra, Isabelle Krieg, Karin Würmli, Katharina Biser, Linus Lutz, Maria Anwander, Markus Goessi, Marlies Pekarek, Nicolaj Ésteban, Pascale Grau, Ray Hegelbach, Stefan Rohner, Thomas Anton Rauch, Tobias Bärtsch, Vanessà Heer, Walter Wetter
Kunsthaus Glarus
Anna Diehl, Bennett Smith, Bianca Barandun, Christoph & Markus Getzner, Drago Persic, Francisco Sierra, Gregory Tara Hari, Helmut Wenczel, Jiri Makovec, Jürg Jaberg, Loris Mauerhofer, Markus Ebner, Reinhard Tobler, Rhona Mühlebach, Sarah Bechter, Sarah Burger, Susann Toggenburger, Tomas Baumgartner, Toni Monn
Kunstmuseum St. Gallen
Anita Zimmermann, Aramis Navarro, Barbara Brülisauer, Basil Lehmann, Céline F. Meier, Celia Längle, Gabriel Kuhn, Georg Gatsas, Isabelle Krieg, Joela Vogel, Katja Schenker, Leo Holenstein, Michael Bodenmann, Noël Hochuli, Reinhard Tobler, Ronja Svaneborg, steffenschöni, Tamara Janes, Vanessà Heer
Kunstraum Dornbirn
Judith Saupper, Katharina Fitz, Lucie Schenker, Ursula Palla
Webmaschinenhalle Arbon
Ahmad Al Rayyan, Alessandra Beltrame, Anna von Siebenthal, Barbara Signer, Cécile Hummel, Dorothy Wong Ka Chung & Benjamin Ryser, Elena Corvaglia, Klara Vith, Luka Berchtold, Maria Anwander, Martina Böttiger, Michael Bodenmann, Mirijam Špendov, Nihat Akdemir, Reinhard Tobler, Sarah Hugentobler, Silvia Michel, Stéphanie Baechler, Tobias Rüetschi, Veronika Dierauer.
Stefanie Hochs Arbeit besteht jetzt vor allem darin mit den am Heimspiel beteiligten Künstler:innen zu sprechen und die einzelnen Werke in einen schlüssigen Gesamtkontext zu bringen. „Beim Kuratieren geht es auch darum Korrespondenzen durch den Raum zu schaffen und Bezüge zwischen den Werken aufzuzeigen“, erklärt Hoch.
Der Stoff, aus dem die Gegenwart besteht
Den thematischen Horizont vor dem sie dies tut, hat sie selbst gewählt. Er lautet «Der Stoff, aus dem die Gegenwart besteht» und spielt einerseits auf die Textilgeschichte des Ortes an, will aber eben auch aktuelle Diskurse abbilden. „Kunst ist ein Mittel, die Welt anders zu sehen“, bringt Stefanie Hoch ihren Ansatz auf den Punkt. Genau das wolle sie in der Ausstellung ermöglichen.
Die Werke mit denen sie dies schaffen will, hat die Kuratorin selbst ausgewählt. In einem umfangreichen Auswahlprozess haben die fünf beteiligten Ausstellungsorte 75 Künstlerinnen und Künstler aus fast 500 Bewerbungen für das gesamte Festival ausgewählt. Alle Kurator:innen haben die Werke ausgewählt, die sie in ihren Räumen zeigen wollen. „Es gab erstaunlich wenig Überschneidungen so dass wir uns relativ schnell einigen konnten, was wo gezeigt wird“, sagt Stefanie Hoch.
20 Arbeiten werden zu sehen sein
In Arbon werden es am Ende insgesamt 20 künstlerische Positionen sein. Von Künstler:innen aus dem Thurgau, aber auch darüber hinaus. Schliesslich ist das Heimspiel ein Format, das versucht Grenzen zu sprengen. „Wir wollen die Stimmungslagen, die Vibes und die Perspektiven, die in den Werken liegen im Raum inszenieren und miteinander in den Dialog bringen“, sagt Stefanie Hoch. Bei der Konzeption der Ausstellung denkt sie auch an Sichtachsen im Raum, an mögliche Wege der Besucher:innen, aber vor allem gehe es darum „richtig gute Arbeiten bestmöglich zu zeigen“.
Die Themenstränge, die in der Ausstellung anklingen sollen reichen von der Textilgeschichte über das Element Wasser zu Arbeitswelten bis zum Krieg. „Das ist ja leider auch ein Stoff aus dem die Gegenwart besteht und das können wir nicht ausblenden“, sagt die Kuratorin. Die grosse Chance des neuen Ortes liege vor allem darin, „dass wir Dinge ganz neu denken können, jenseits der museumsüblichen Routinen“, findet Hoch.
Heimspiel gastiert erstmals im Thurgau
In früheren Ausgaben des Festivals war der Thurgau nur am Rande beteiligt. Markus Landert, der damalige Direktor des Kunstmuseum Thurgau, hielt eine Beteiligung daran für verzichtbar. Es gab deshalb lange keinen Ausstellungsort für das Heimspiel im Thurgau. In diesem Jahr ändert sich das. Das kantonale Kulturamt engagiert sich stärker und hat die so genannte Trägerschaftsvertretung des Festivals übernommen. Das bedeutet: Das Kulturamt begleitet die externe Projektleitung, stellt die Auftragserfüllung sicher und übernimmt das Projektcontrolling.
Das Heimspiel findet alle drei Jahre statt. Bildende Künstlerinnen und Künstler aus den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, Glarus, St. Gallen und Thurgau, aus Vorarlberg sowie dem Fürstentum Liechtenstein konnten sich für die Teilnahme bewerben.
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